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Mütter

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04.04.2008
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Ria schloss die Akte und rieb sich die tränenden Augen. Ihr Arbeitstag im Kommissariat 4 war seit zwei Stunden offiziell beendet, das zeigte ein Blick auf die Wanduhr.
Ria stand auf, öffnete das Fenster und hielt den Kopf hinaus in die kalte Novemberluft. Der scharfe Wind nahm ihr einen Moment den Atem.
Sie musste sich entscheiden, ob sie entweder Julia Kommer heute noch sehen, oder stattdessen in letzter Minute einkaufen gehen wollte? Ihr Kühlschrank war völlig leer, selbst die faden Fertiggerichte hatten sie gestern gegessen. Rias Magen knurrte.
Heute war Donnerstag, da ging Sarah um Fünf zum Schwimmtraining, also war nicht zu erwarten, dass sie etwas eingekauft hatte, eher, dass sie ebenfalls mit einem Bärenhunger nach Hause kam.
Ria schloss das Fenster und kramte in ihrer Tasche nach Zigaretten. Ihr kleines Büro war gelb von Nikotin, doch da sie als Leiterin des K4 alleine hier saß, räucherte sie nur sich selbst ein.
Sie nahm einen tiefen Zug und entschied, Julia Kommer noch kurz zu sprechen. Auf dem Heimweg würde sie Sarahs Lieblingspizza holen, damit wäre ihre fünfzehnjährige Tochter mehr als zufrieden. Echte Kochkunst wusste sie ja doch nicht zu schätzen!
Im Waschraum sah Ria in den Spiegel. Die Neonröhre war alles andere als vorteilhaft. Sie ging ganz nah` ran und stellte fest, dass nicht alle Kerben um Augen und Mund als Lachfältchen durchgingen. Ihre Haut sah fahl und teigig aus, man merkte ihr den Frischluftmangel an. Sie drehte den Kopf zur Seite und überprüfte, ob es wirklich graue Haare waren, die sie letztens an den Schläfen zu sehen geglaubt hatte. Tatsächlich.
Mit den Fingern verwuschelte sie ihre Kurzhaarfrisur, warf sich ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und drehte ihrem Spiegelbild den Rücken zu.
Mein Gott, sie war sechsundvierzig, seit fünfundzwanzig Jahren Polizistin, geschieden von einem Karriereanwalt, seit zehn Jahren mit zwei Kindern allein. Dafür sah sie noch recht passabel aus. Jonas, ihr zwanzigjähriger Sohn, war seit einem Jahr aus dem Haus, und die Zeit mit Sarah war absehbar. Ria lächelte bei dem Gedanken. Wer das hörte, müsste sie für eine Rabenmutter halten, dabei liebte sie ihre Kinder über alles, doch die Aussicht auf eine Zeit ohne Grundsatzdiskussionen über Arbeitsteilung im Haushalt war schon verlockend.
Ria schob die Akte Kommer in ihre Umhängetasche und machte sich auf den Weg ins Verhörzimmer.
Der Fall war zwar traurig, doch nicht besonders kompliziert.
Julia Kommer, einundzwanzig Jahre alt, hatte ihre sieben Monate alte Tochter Nina vor einem Bungalow im Süden der Stadt ausgesetzt. Das war vor zwei Tagen gewesen. Heute Mittag war Julia verhaftet worden, in ihrem Versteck in einer Gartenlaube. Eine besorgte türkische Nachbarin hatte den Tipp gegeben, weil sie Julia und die Kleine vermisste.
Das Baby befand sich in gutem Allgemeinzustand, war sauber und hübsch gekleidet und offensichtlich altersgerecht entwickelt. Keine Anhaltspunkte für Misshandlung.
Eine junge, alleinstehende Mutter, die Hilfe brauchte, damit sie sich wieder um ihr Kind kümmern konnte, dachte Ria.
Da gab es weiß Gott Schlimmeres. Man könnte eine Bewährungsstrafe anstreben und für die nötigen Erziehungshilfen sorgen, falls das Jugendamt nicht schon einbezogen war.
In einer halben Stunde wäre das sicher fürs Erste erledigt.

Jule sah sich unauffällig um.
Sie hielt den Kopf gesenkt, damit die Beamtin in der Ecke nichts mitbekam.
Ein muffiger, kahler Raum mit ehemals weißen Wänden, die jetzt düster und verschmiert waren. Ein verspiegeltes Fenster links, sicher von außen einzusehen, eine nackte Neonröhre an der Decke über dem wackligen Resopaltisch. Vier orangerote Plastikstühle bildeten den einzigen Farbtupfer, unterstrichen aber eher die Trostlosigkeit dieser Bude.
Wer sich jetzt noch nicht schuldig fühlt, wird hier auf jeden Fall fertig gemacht, dachte Jule und wappnete sich innerlich.

Ria betrat den Raum und sah erstaunt auf das zerrupfte Vögelchen, das fast in der Plastikschale versank. Sie ging an Julia Kommer vorbei auf die andere Seite des Tisches und reichte ihr die Hand.
„Guten Tag, Frau Kommer. Ich bin Ria Wendler, leitende Kommissarin, und würde mich jetzt gerne mit Ihnen unterhalten. Sie brauchen keine Angst zu haben, es geht schließlich um Sie und Ihr Kind, und letztendlich um Hilfe.“ Freundliche Professionalität.
Ria zog ihre Hand zurück, denn Julia rührte sich nicht. Ihr Gesicht war tief auf die Brust gesenkt, Ria konnte nur auf die schwarzen Stoppelhaare sehen und den langen Pony, der fast bis zur Nase reichen musste. Die junge Frau war viel zu dünn angezogen. Unter einer verwaschenen Jeansjacke trug sie ein ausgeschnittenes, schwarzes shirt, ihre mageren Beinchen steckten in schwarzen leggins, die schweren Schnürstiefel wirkten geradezu grotesk.
Wieder so eine arme Kleine, die sich unangreifbar machen will, dachte Ria und setzte sich.
„Möchten Sie etwas trinken?“
Jule hätte gerne was getrunken, doch sie würde sich von der raffinierten Kuh auf keinen Fall einseifen lassen!
Ria beschloss, erst einmal selbst zu reden, es würde Julia Kommer den Einstieg erleichtern, sicher steckte sie voller Angst und Schuldgefühle. Ria kannte das.
Sie schlug die Akte auf, kramte die Lesebrille hervor und referierte die Fakten.
„Sie sind also Julia Kommer, wohnen auf der Hochofenstrasse siebzehn, allein mit ihrer Tochter Nina. Den Vater des Kindes haben Sie niemals angegeben, warum nicht?“
Das geht dich einen Scheißdreck an, dachte Jule und bewegte sich keinen Millimeter.
„Sehen Sie , Frau Kommer, es wäre wirklich besser, wenn Sie mit mir reden würden. Kindesaussetzung ist ein Verbrechen, doch meist geschieht es aus Not, davon gehe ich auch in Ihrem Fall aus. Sie sind in den Süden der Stadt gefahren, haben dort mehrere Tage regelrecht nach einer geeigneten Familie gesucht, die Ihre Kleine gut versorgen würde. Dabei sind Sie genau beobachtet worden.“
Ja, da war ich einfach zu dämlich, habe mir zu wenig Gedanken darüber gemacht. Der ganze Mist hat schon viel zu lange gedauert, aber ich wusste eben nicht, dass die verwöhnten Südstadtweiber immer hinter den Gardinen hängen, anstatt ihr Parkett zu polieren.
Ria holte tief Luft. Mit einer halben Stunde wäre es wohl nicht getan. Sie musste es anders versuchen.
„Hatten Sie in Ihrer Familie keine Hilfe?“ Ein leichtes Zucken ging durch den mageren Körper. Immerhin.
Ja klar, du blöde Schnepfe, jede Menge Hilfe! Meine liebe Mama ist jeden Tag aus dem Psychoheim gekommen und hat ihre eingebildeten Engel mitgebracht, die mit ihr zusammen diese beschissene Welt vor der Hölle retten! Und mein Papa erst, der liebe, gute, treusorgende Vater, der mich vor einem Jahr mit meinem dicken Bauch auf die Strasse gesetzt hat, als er Petra kennen lernte, dieses raffinierte Miststück, die ihn ausnimmt und jetzt sein Bett anwärmt! Elke hat es richtig gemacht, die ist mit Jan nach Holland abgehauen, hat ihn geheiratet und in Rotterdam ein neues Leben angefangen. Sie meldet sich so gut wie nie, hat zu Ninas Geburt einen Strampelanzug geschickt, das war`s dann. Scheiß Familiengesülze!
„Frau Kommer, ich sehe doch, dass dieses Thema Sie bewegt. Sie können später auch mit der Polizeipsychologin reden, wenn Ihnen das lieber ist.“
Meine Fresse, bloß das nicht! Halt einfach die Klappe, du fette Mutti! Hör mit dem Getue auf, denn ich werde ja doch verknackt. Geschieht mir auch recht, was habe ich mich auch so dämlich angestellt?
Ria konnte die Verstocktheit nicht sicher einschätzen. Sie schaute Julia über den Brillenrand an, und sah, wie sich die schmalen Schultern in regelmäßigen Abständen hoben und senkten. Sie atmete angestrengt, also stand sie wohl unter Anspannung. Vielleicht wäre es gut, ihr die Sachlage zu erklären. Allmählich ging ihr die Einseitigkeit dieses Gespräches auf die Nerven. Sie hatte Hunger und wollte endlich nach Hause.
Ria suchte in den Unterlagen nach dem Foto des Kindes. Wirklich, da lachte ihr ein pausbackiger Wonneproppen entgegen! Es schien die Mutter alle Energie gekostet zu haben, das Kind so gut zu versorgen. Rias Stimmung wurde wieder mild.
„Ihre Kleine ist wirklich gut in Futter, Frau Kommer. Das wird Ihnen bei der Strafmaßbestimmung ganz sicher angerechnet.“ Sie sah, dass Julia kurz eine Hand hob, sie aber gleich wieder in den Schoß fallen ließ. Ria hielt inne.
Weil sie fast immer bei Semra war, dachte Jule, deshalb sah Nina so gut aus. Semra war total verliebt in sie, sie hatte selber drei Jungs, aber kein Mädchen. Es war außerdem total praktisch. Zuerst hatte sie Nina bei ihr abgegeben, wenn sie putzen ging. Später hatte Semra von sich aus gefragt, ob sie mit Nina spazieren gehen könnte. Warum auch nicht? Sie bekam sogar von anderen Türkinnen Babysachen, ganz süße. Dann hat Semra die Kleine auch mal über Nacht behalten, später, als Olli immer öfter zu ihr kam. Der konnte mit Kindern nichts anfangen. Mit Olli ist es schön gewesen, unbeschwert und einfach. Sie konnte Nina fast vergessen, wenn sie mit ihm zusammen in der alten Laube kiffte. In Superpapas Schrebergarten. Eine geile Zeit! Doch schließlich hatte er Schluss gemacht, weil Semra eben nicht ständig auf Nina aufpassen konnte. Jule dachte voller Scham an seine Beschimpfungen. Alte Nutte hatte er sie genannt, zu doof zum Verhüten, aber mit jedem vögeln…er hatte ja keine Ahnung...aber er konnte sich wohl leichter abseilen, wenn er sie fertig machte.
Das alles ging die alte Bullentante absolut nichts an.
Ria sah, dass Julia mit beiden Beinen wippte, hektisch und schnell. Herrgott noch mal, so kamen sie kein Stück weiter! Sicher war Sarah jetzt schon zuhause und würde die Gelegenheit nutzen, sich mit ihrer Clique zu verabreden, unterwegs Pommes essen, und einen Zettel mit „Dear Mummy“ auf den Küchentisch legen.
Ihr Verlangen nach einer Zigarette war übermächtig. Ria wurde wütend. Das sollte nicht sein, denn es machte die Situation höchstens noch schlimmer.
Aber schließlich war sie auch nur ein Mensch: Müde, hungrig und überarbeitet.
Sie lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Julia saß ihr unverändert bewegungslos gegenüber. Rias Nacken schmerzte; sie fasste einen Entschluss.
„Frau Kommer, wir werden jetzt zehn Minuten Pause machen. Die Beamtin“, sie schaute nickend in die Ecke, doch Julia blieb starr, „kann Ihnen was zu essen und zu trinken besorgen lassen, oder Sie zur Toilette begleiten. Auf dem Flur dürfen Sie auch rauchen, leider nur in Handschellen.“ Ria wartete einen Moment, doch nichts passierte. Sie riss ihre Tasche von der Stuhllehne, warf sie über die Schulter und lief hinaus. Die Beamtin war aufgestanden und hinter Julias Stuhl getreten.
„Möchten Sie denn was essen oder zur Toilette?“ Ihre Stimme klang unsicher.
Die Eine wird wütend und die Andere hat Schiss, dachte Jule voller Genugtuung. Sie hatte Durst und musste zum Klo, doch sie würde sich keinen Zentimeter bewegen, den Gefallen würde sie den Beiden nicht tun. Die spekulierten doch darauf, dass sie vielleicht weich würde und stories aus ihrem Leben erzählte. Niemals durfte das passieren! Ihr Leben war beschissen, es war immer beschissen gewesen, mit einer durchgeknallten Mutter und einem Vater, der nur an sich dachte, immer nur an sich. Mit einer großen Schwester, die abgehauen ist und sie mit dem ganzen Mist allein gelassen hat.
Und dann das Kind! Ein Kind, das von Anfang an dazu verdammt war, die stinkende Tradition fortzusetzen. Durch Nina sah sie keine Chance mehr, jemals aus diesem Sumpf heraus zu kommen, bis Semra und Olli ihr wieder ein Gefühl von Freiheit und Lebenslust gaben. Eine Zeitlang bildete Jule sich ein, dass es ewig so weitergehen würde. Mit Hartz vier und den beiden Putzstellen kam sie über die Runden, Olli arbeitete an der Tanke, in drei Schichten, mit Nachtzulage, das war doch gar nicht so schlecht….
Jule stiegen Tränen in die Augen, sie starrte geradeaus auf den Boden. Verdammt, bloß hier nicht heulen! Als Olli Schluss gemacht hatte und Semra ihr erzählte, dass sie im nächsten Monat wegziehen würde, da sind ihr die Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte Tag und Nacht Panik gehabt. Was sollte sie mit Nina machen? Jeden Tag vierundzwanzig Stunden mit dem Kind, das konnte sie einfach nicht. Sie konnte Nina nicht ansehen, wollte nur, das sie irgendwer versorgte und behielt. Dann war ihr die Idee gekommen, sich im Süden eine Familie auszugucken, die Geld und Platz hatte, vielleicht auch schon ein Kind. Die Leute in dem weißen Bungalow waren ideal. Sie hatten einen kleine Jungen von höchstens zwei Jahren und wären bestimmt froh über ein Mädchen gewesen. Aber sie hatte sich zu oft dort herumgetrieben, war vielleicht sogar mit der Tragetasche gesehen worden, und Semra hatte den Bullen sicher den Tipp mit der Laube gegeben.
Jule knallte unvermittelt ihren Kopf auf die Tischplatte.
Die Beamtin stieß einen Schrei aus und sprang entsetzt zur Seite, die Tür flog auf und Ria stürzte ins Zimmer.
„Was ist passiert?“ Die unerfahrene Kollegin berichtete stammelnd und verzog sich erleichtert in ihre Ecke.
Jule saß wieder zusammengesunken auf dem Stuhl.
Die beiden ehrbaren Damen würden nie begreifen, dass es manchmal nötig war, sich mit Schmerzen zu betäuben, damit man die Welt nicht auseinandernehmen musste.

In der Pause hatte Ria gierig zwei Zigaretten geraucht und den Gedanken erwogen, mit Julia Kommer von Mutter zu Mutter zu sprechen. Vielleicht würde sie dann eher reden, und morgen könnte Heike ja psychologisch weitermachen.
Einen letzten Versuch wäre es wert. Sie beugte sich zu Julia hinüber und verschränkte die Arme auf dem Tisch, während sie zu dem schwarzen Stoppelhaar sprach.
„Ich versuche mir vorzustellen, wie schwer es für Sie ist, über ihre Situation zu reden und ich kann das vielleicht besser, als Sie denken, Frau Kommer. Sehen Sie, ich bin auch alleinerziehende Mutter, genau wie Sie, deshalb weiß ich, dass es wichtig ist, sich auch mal zu entlasten. Jedes Kind hat einen Vater, Frau Kommer, und der sollte mit zur Verantwortung….“
Ria schwieg, als sie sah, dass Julia langsam den Kopf hob, und hoffte, dass das Eis nun gebrochen wäre.
Jule starrte sie an. Ria erschrak.
Der harte Blick unter der riesigen Beule war grau wie Stein. Jule beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Sie grinste, als sie Ria zuflüsterte: „Ja sicher, Frau Segensreich. Jedes Kind hat einen Vater. In unserer Familie war es allerdings schon immer ganz besonders exklusiv: Nina hat sogar Vater und Opa in einer Person.“
Als Jules Kopf erneut auf die Tischplatte knallte, spürte Ria die bleierne Müdigkeit bis in die Zehenspitzen.

 

Hallo Jutta,

ich las gestern schon deine Geschichte und überlegte, was ich darauf sagen sollte. Wie reagiert man?
Am Abend in den Nachrichten kam dann diese Meldung aus Österreich über den Mann, der seine Tochte 24 Jahre eingesperrt und missbraucht hat.
Solche Vorkommnisse sind fast außerhalb meines Vorstellungsvermögens und ich gestehe, ich bin wie gelähmt, wenn ich derartige Dinge höre.
Deine Geschichte hat mich beeindruckt, sie ist sehr authentisch. Deine Sprache hat mich am meisten fasziniert. Ich konnte mir den jeweiligen Standpunkt vorstellen, auch wie das im jeweiligen Kopf abläuft. Das Mädchen und auch die Kommissarin überzeugten mich in ihrer Gedankenwelt.

Du schreibst sehr flüssig, ich freue mich auf weitere Geschichten von dir.

Lieben Gruß,
jurewa

 

Danke für die Rückmeldung! Die Geschichte ist im März 2007 entstanden, unter dem Eindruck der vernachlässigten und verstorbenen Kinder in unserem Land. Ich habe sie gestern überarbeitet, beim Einstellen wußte ich von dem Mann in Österreich noch gar nichts. ein wirklich makabrer Zufall!
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,
deine Geschichte geht unter die Haut. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob es ueberhaupt das Holzhammer-Ende rbaucht. An sich ist ja schon schlimm genug, wie die Protagonistin lebt, ihre Gedankengaenge zu lesen usw. Es kann aber auch nur sein, dass man leicht uebersensitiviert wird, dauernd solche Inzest/ Missbrauch Sachen zu lesen. Manchmal kommt es einem fast vor, als sei es schick, darueber zu schreiebn ( das ist jetzt nicht als Kritik gegen dich gemeint!)
Was ich eigentlich sagen will ist, die Geschihte ist gut geschrieben und hat auch so genug Potential fuer Betroffenheit, egal, wer der Vater des Kindes ist.


gruss, sammamish

 

Hallo Jutta!

Bis hierher …

Jule sah sich unauffällig um.
… war ich wirklich begeistert. Bis hierher charakterisierst Du eine Protagonistin anhand einer gut und flüssig erzählten Handlung.
Aber dieser Perspektivwechsel hat mich sehr aus der Geschichte gerissen, und es finden dann fortlaufend Perspektivwechsel statt.
Sprachlich liest sich die Geschichte also recht gut, aber die Perspektivwechsel finde ich sehr störend.

Sie grinste, als sie Ria zuflüsterte: „Ja sicher, Frau Segensreich. Jedes Kind hat einen Vater. In unserer Familie war es allerdings schon immer ganz besonders exclusiv: Nina hat sogar Vater und Opa in einer Person.“
Diese »Pointe« finde ich ziemlich überflüssig, Geschichten mit so einem Thema brauchen keine Pointe, die alles andere Erzählte in den Schatten stellt. Und die Art, wie Jule das sagt, scheint mir auch nicht sehr glaubwürdig, da die Kindesweglegung darauf hindeutet, daß sie noch von ihren eigenen Erlebnissen traumatisiert ist, während dieses ironische »ganz besonders exklusiv« eher darauf hindeutet, daß sie bereits Abstand dazu hat.

Und nun bin ich am Ende der Geschichte und frage mich, wofür Du überhaupt die Perspektive der Kommissarin brauchst. Um zu zeigen, daß sie ihre Situation im Gegensatz zu Jule so glänzend meistert, wie sie gegen Schluß ja auch meint, sie könne Jules Situation besser verstehen, als diese meinen würde, weil sie doch auch eine alleinerziehende Mutter ist? Als ich diese Zeilen las, die auf mich, als selbst alleinerziehende Mutter, die schon sehr kämpfen mußte, ausgesprochen arrogant wirken, fing es in mir richtig zu kochen an. Ich wäre gern auf Jules Platz gesessen und hätte der Frau Kommissarin, die Probleme sowieso nur aus ihren Fällen kennt, die sie aufklärt, gern die Meinung gesagt.
Und gerade, weil ich weiß, wie man sich als Betroffene angesichts solch arroganter Aussagen fühlt, glaube ich niemals, daß Jule darauf grinsend und flüsternd so eine ironische Antwort wie oben zitiert geben würde.
Das ist, um einen Vergleich zu bemühen, als würde jemand mit einem verstauchten kleinen Finger zu einem Krebskranken sagen: Ich versteh Sie besser als Sie glauben, schließlich hab ich mir den Finger verstaucht. – Der Krebskranke muß dann wohl ein sehr besonnener Mensch sein, daß er ihm nicht für die blöde Ansage die restlichen Finger bricht. Aber so besonnen wird Jule nicht sein, immerhin hat sie auch ihr Kind weggelegt. Eher wäre zu erwarten, daß sie daraufhin aggressiv wird, was aber immerhin dazu führen könnte, daß sie doch zu erzählen beginnt. – Und damit könntest Du dann auch bei der Perspektive der Kommissarin bleiben, ohne uns zuvor schon alles durch Perspektivwechsel zu erzählen.
Wobei es mir ja wesentlich besser gefallen würde, wenn die ganze Geschichte aus Sicht von Jule wäre. Letztendlich war die Einführung in das Leben der Kommissarin ja nicht wirklich wichtig, und für eine Gegenüberstellung, wie verschieden die beiden Alleinerzieherinnen mit ihren Problemen fertig werden, sind mir die Probleme, d. h., die Hintergründe zu verschieden.
Und es muß nicht unbedingt der Großvater auch der Vater sein, es reicht, wenn der Vater sich eben nicht kümmern will, oder es gar nicht mehr kann, weil er vielleicht tot ist. In beiden Fällen wirkt so eine …

Jedes Kind hat einen Vater, Frau Kommer, und der sollte mit zur Verantwortung…
… Aussage wie eine Faust mitten ins Gesicht.

Als Jules Kopf erneut auf die Tischplatte knallte, spürte Ria die bleierne Müdigkeit bis in die Zehenspitzen.
Im Angesicht solcher Tragik spürt die gute Frau Müdigkeit? :eek:

Ein paar Anmerkungen zum Text hätte ich noch, aber für die ist es mir jetzt zu spät. Vielleicht komm ich noch darauf zurück.

Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Hallo Jutta!

Deine Geschichte fand ich berührend und einfühlsam erzählt. Du zeigst tiefgehende Innenansichten deiner beiden Hauptprotagonisten, deine Sprache gefiel mir, der Text liest sich flott herunter. Die Perspektivwechsel störten mich nicht, ich würde aber die Gedankengänge kursiv setzen.
Der eigentliche Konflikt scheint zunächst die Kindesweglegung zu sein, aber tatsächlich bildet der inzestiöse Missbrauch Jules den traurigen Höhepunkt deiner Erzählung. Damit rückst du leider erst sehr spät heraus, ganz plötzlich, wie in einer Pointengeschichte. Du verwendest sehr viel Raum um den gesellschaftlichen Hintergrund der Prots zu beschreiben, die Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Figuren spürbar zu machen.
Das hat mir zwar gefallen, aber ein paar eingestreute Sätze zur Rolle des Inzest-Vaters hätte ich hilfreich gefunden, der so, leider, völlig blass bleibt, nur in einem Satz erwähnt wird, quasi das unsichtbare, furchtbare Monster im Hintergrund bleibt. Obwohl gerade sein Verhalten die eigentliche Quintessenz des Unglücks deiner Protagonistin darstellt.
Ich denke dabei nicht an einen Ausbau deiner Geschichte, sondern nur an eine Verlagerung der Gewichtigkeiten. Vielleicht etwas weniger Polizistin, und dafür mehr vom Vater. Nicht mit dem Holzhammer, dass der Leser schon in der Mitte des Textes weiß, was kommt, sondern durch diffizile Profilierung, die langsam an die entsetzliche "Pointe" heranführt und sie dadurch spürbarer macht.
Ansonsten hat mir dein Beitrag gut gefallen. :)

Textkram:

Ihr kleines Büro war gelb von Nikotin, doch da sie als Leiterin des K4 alleine hier saß, räucherte sie nur sich selbst ein.

Würde sagen, die Wände oder die Tapeten ihres Büros.
Außerdem: gelb von Nikotin, stimmt nicht. Nicht das Nikotin färbt die Wände gelb, sondern das Teerkondensat.

Alte Nutte hatte er sie genannt, zu doof zum Verhüten, aber mit jedem vögeln…, erhatte ja keine Ahnung..., aber er konnte sich wohl leichter abseilen, wenn er sie fertig machte.
vögeln ... er hatte ja keine Ahnung ... aber (Leerzeichen, keine Kommas)


Die spekulierten doch darauf, dass sie vielleicht weich würde und stories aus ihrem Leben erzählte.
Vielleicht eine subjektive Ansicht, aber den Anglizismus würde ich rausnehmen und z.B. "Geschichten" sagen.

Als Olli Schluss gemacht hatte und Semra ihr erzählte, dass sie im nächsten Monat wegziehen würde, da sind ihr die Sicherungen durchgebrannt.
Besser: ... da brannten ihr die Sicherungen durch.

In unserer Familie war es allerdings schon immer ganz besonders exclusiv: Nina hat sogar Vater und Opa in einer Person.“
Englisch: exclusive. Deutsch: exklusiv (was ich vorziehen würde.)

Nette Grüße,
Manuela :)

 
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Euch allen vielen Dank fürs Lesen und die Kommentare.
Mir macht es Spaß, mit Perspektiven zu spielen, deshalb habe ich in dieser Geschicht die auktoriale P. gewählt. Sich in den Köpfen aller Protagonisten zu tummeln, fand ich für so eine polarisierende Geschichte besonders spannend, weil ich auch meine Vorstellung von der unterschiedlichen Sprache der Prots ausleben kann. (Jule denkt für mich den Begriff "story".) Eine Geschichte zu erzählen, bedeutet für mich, die Möglichkeiten, die ihr innewohnen, zu entfalten. Klar entscheide ich mich für eine Variante, doch tausend andere sind ebenfalls denkbar. Es geht mir also nicht um reales Verhalten, oder die Spekulation darüber, auch da würden wir uns wahrscheinlich bis zum St. Nimmerleinstag auseinandersetzen. Menschen, die in bestimmten Situationen aufeinandertreffen, Erwartungen aneinander haben, aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten kommen, darzustellen und "sein" zu lassen, ohne Wertung, ohne Moralisierung, das finde ich spannend.
Die Wertigkeit der einzelnen Personen ist natürlich auch von meiner Sichtweise auf die Situation geprägt. Interessant finde ich aber den Ansatz, den Vater von Jule zurückzunehmen. Um den "Textkram" kümmere ich mich. Die Wendung "gelb von Nikotin" möchte ich so belassen, weil sie eingängige Umgangssprache ist.
In einer allerersten Fassung habe ich die Geschichte aus Jules Perspektive erzählt, fand das aber unergiebiger.
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

huh! Das ist eine krasse Geschichte. Aber sie ist durchaus denkbar. Leider. Mir gefällt wie du die Geschichte erzählst. Ich, als Leser, weiß was Jule denkt, aber die schlussendliche Wahrheit erfahre ich gemeinsam mit Ria. Sehr schön.

Ciao

Mirco

 

Hej Jutta,

mir hat die Geschichte "gefallen", vor allem, wie Du Jule auftreten lässt, verstockt, schweigend und mit der hinter dem Schweigen lauernden Aggression, die sich zum Schluss entlädt. Von den beiden Frauen wirkt sie auf mich authentischer.

Jule sah sich unauffällig um.
Diese Stelle empfinde ich als Bruch, ich muss mich völlig neu orientieren. Vielleicht lässt sich eine Art Überleitung finden, die dem Leser nicht so vor den Kopf stößt.

Der an die junge Mutter gerichtete Appell der Kommissarin im letzten Absatz kommt mir etwas naiv vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach fünfundzwanzig Jahren Dienst keine bessere Idee hat, als einer jungen Mutter, die ihr Kind ausgesetzt hat, ein Gespräch über einen Vergleich hinweg anzubieten, nach dem Motto: Wir-haben-doch-auch-einiges-gemeinsam.

Dass am Ende der Geschichte sexueller Missbrauch thematisiert wird, finde ich fast schade. Du bietest damit eine Erklärung für das Unvermögen der Mutter an, sich um ihr eigenes Kind zu kümmern. Mir haben die anderen Erklärungen besser gefallen, bzw ausgereicht. Die Tatsache, dass nicht bis zum bitteren Ende erzählt wird, was Jule zu ihrem Handeln bewogen hat, hätte die Geschichte mMn noch reizvoller gemacht.

Ich finde die Geschichte gelungen.

Ein paar Fehler sind mir aufgefallen:

ein ausgeschnittenes, schwarzes shirt
Shirt

Weil sie fast immer bei Semra war, dachte Jule, deshalb sah Nina so gut aus.
deshalb sieht - oder denkt Jule etwa in der Vergangenheit?

dass sie vielleicht weich würde und stories
Stories

Mit einer großen Schwester, die abgehauen ist und sie mit dem ganzen Mist allein gelassen hat.
Hier bin ich mir nach mehrmaligem Lesen nicht mehr ganz sicher :schiel:, meine aber: abgehauen war/ allein gelassen hatte .

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Mirco, hallo Ane! Danke für Eure Rückmeldungen und die Anmerkungen. Bei einigen Formalsachen bin ich mir nicht so sicher: shirt und stories habe ich, wie im Englischen, klein geschrieben. Ist das wirklich falsch?
Die Stelle, ...deshalb sah sie (das Kind) so gut aus, habe ich Jule in der Vergangenheit denken lassen, um klar zu machen, dass für sie diese (bequeme) Zeit der Scheinlösung endgültig vorbei ist. Bin mir aber auch hier nicht sicher, ob das zulässig ist.(Obwohl: Dichterische Freiheit und so....)
Die Schwester von Jule ist abgehauen und hat sie allein gelassen, Jule empfndet es immer noch sehr gegenwärtig und kränkend, dies wollte ich mit der Zeitwahl ausdrücken. Geht, oder geht nicht?
Was den Mißbrauch betrifft, überlasse ich jedem Leser, sich dazu eine Meinung zu bilden, es gibt sicher viele Möglichkeiten, die Geschichte zu erzählen, doch ich habe mich ganz bewußt für diese entschieden.
Einen schönen 1. Mai!
LG,
Jutta

 

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