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Mütterchen
Das Leben endet, von Minute zu Minute.
***
Die Gestalt unter dem dunklen Mantel, vom jämmerlichen Versuch gezeichnet graue, dünne Haare blond zu färben machte einige unbeholfene Schritte. Sie trug eine Strumpfhose und kleine, ungefütterte Halbschuhe. Es war verdammt kalt und man hätte meinen können, dass die dünnen Beine unter der Strumpfhose und in den viel zu kleinen Schuhen blau anliefen.
Sie trug einen Seidenschal, der farblich zu ihrem zerschminkten Gesicht passte. Auch der Faltenwurf wies Ähnlichkeiten auf.
Tränensäcke hingen wie alte Brüste. Darunter haftete ein viel zu intensiver Rotton auf den Wangenknochen. Der Lippenstift überzeichnete die Lippen bis in den letzten Mundwinkel und gab der Fratze den Anschein eines Zirkusclowns.
Es war der erbärmliche Versuch einem alten Haus einen letzten Anstrich, eine neue Fassade zu schenken. Ein Provisorium, ein Flicken auf einem alten Laken.
Traurig blickten die Augen aus den tiefen Löchern der Gesichtsbarracke, als sie die billige kleine schwarze Tasche an sich raffte. Sie fror, das sah man ihr an. Sie fror unheimlich.
Es war nur eine Sekunde, die sie aufgeblickt hatte und doch hatte sie während dieser Zeit mehr gesagt, als andere in hundert Bücher schreiben. In dem Moment als sich unsere Blicke trafen, wusste ich, wie sie sich seit Jahren fühlte. Wie sie seit Jahren fror.
Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu und die Mütze tief ins Gesicht. Ich begann zu laufen, auf das Mütterlein zu, schnell und sah, nein spürte den Riemen der kleinen schwarzen Tasche in meinem Handschuh. Meine Schulter gegen ihre und es knackte, dann schloss ich die Faust um den Henkel und riss und rannte und sah nicht zurück.
Sie war bestimmt umgefallen, diese dünnen blauen Beine hatten die Wucht kaum ausgehalten. Vielleicht war sie aufgeschlagen in ihrem dünnen Mantel auf den Asphalt. Vielleicht auch mit dem Kopf. Vermutlich lag sie da immer noch und wimmerte und Passanten sahen weg. Egal, ich lief.