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Mütterhöhle und Löwe
Siebenundzwanzig Jahre nach meiner Geburt erfuhr ich vom Tod meines Vaters. Von einem Polizeibeamten, der an der Tür klingelte.
„Wir müssen mit Ihnen reden.“
Keine Ahnung, was die wollen, dachte ich, und versteckte Graspflanze und Laptop vorsichtshalber. Illegales Streaming war immer noch strafbar, oder?
„Es geht um Ihren Vater.“
Natürlich vermutete ich etwas Heftiges. Erst einmal war ich froh, dass sie nur deswegen hier waren.
„Ich hab kein Verhältnis zu ihm gehabt“, sagte ich. Wahrscheinlich hatte ich mehr als eine Vermutung.
„In Ordnung.“ Der Beamte wirkte erleichtert.
Zwei Jahre nach meiner Geburt wurde ich in die Mütterhöhle gelegt. Nackt und so laut schreiend, dass sich mit Sicherheit jemand um mich kümmerte. Meistens meine Mütter. Meine Mutter, wenn sie von den Arbeiten kam, und ihre Arbeitskollegin und beste Freundin, wann immer sie gebraucht wurde. Jane und Rita.
Vier Jahre nach meiner Geburt bekam ich einen neuen Papa. Einen Fahrradfahrbeibringer, Mitdirfußballspieler, Dichaufdieschulternnehmer. Ein echter Papa. Nicht immer einfach, aber liebevoll. Als ich ihn zum ersten Mal sah (weil aus einem Date von Jane mehr geworden war), nahm ich seine Hand und sagte: „Wir sind jetzt beste Freunde.“
Vierzehn Jahre nach meiner Geburt glättete ich mir vor dem Badezimmerspiegel die Haare, während mein Papa die verschlossene Tür mit einer Stecknadel zu öffnen versuchte. Sicher schrien wir uns ein bisschen an und dann nahm ich das Pausenbrot, das er mir geschmiert hatte.
Zwölf Jahre nach meiner Geburt kam ich mit einem blauen Auge und Spucke auf dem Pulli aus der Schule, Rita holte mich ab. Sie schwor, den Jungen zu töten und ich sagte: „Nur über meine Leiche.“ Oder so etwas in der Art. Jedenfalls fuhren wir zum Reiten nach Brandenburg. Islandponys. Selbstwertbildende Maßnahme. Funktionierte ganz okay. Abends Gokartfahren in Spandau. Später legte sich Jane zu mir ins Bett, Papa schlief. Ich war vom Pferd gefallen. Blaues Auge. Rita war immer auf meiner Seite. Ob sie wollte oder nicht.
Sieben Jahre nach meiner Geburt war ich ziemlich schlecht drauf. Ich fand es bescheuert, dass ich eine kleine Schwester bekommen sollte. Keine Lust, meine Eltern mit irgendwem zu teilen. Als Papa Jane ins Krankenhaus fuhr, passte Rita auf mich auf.
Siebenundzwanzig Jahre nach meiner Geburt erklärte mir meine nicht mehr kleine Schwester den Begriff ‚Intersektionalität‘. Ich fing an, mich mit meinen Vorstellungen von Männlichkeit auseinanderzusetzen und hinterfragte meine 90er-Jahre-American-Pie-Sozialisierung, sortierte einige Bücher und Filme aus, kaufte andere. Viel änderte sich nicht. Aber ein bisschen nachdenklicher wurde ich schon. Kleiner Bruder, große Schwester.
Ein paar Tage oder Wochen früher oder später klingelte der Beamte an der Tür.
„In einem Hotel in Delhi gefunden.“
„Wow“, sagte ich. „Wie gesagt, ich kannte ihn nicht.“
„Haben Sie Kontakt zu Ihrer Tante väterlicherseits?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie haben die Möglichkeit, seine Rückführung zu beantragen.“
„Rückführung?“, fragte ich.
Jane riet mir, das Erbe auszuschlagen. Ich ging zum Notar und unterschrieb, dass ich das wahrscheinlich mit Schulden belastete Erbe meines leiblichen Vaters ausschlug.
Zwanzig Jahre nach meiner Geburt ging ich mit meinem Papa wandern. Eifel. Auf einer Bank, auf einer Bergspitze, fragte er mich: „Was hältst du davon, wenn ich dich adoptiere?“ Ich glaube, wir beide weinten, jedenfalls waren wir ziemlich glücklich.
Einunddreißig Jahre nach meiner Geburt denke ich über die Mütterhöhle und einen Löwen nach. Glücklich, wer Menschen um sich hat, die ihn lieben.