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Madlen
Madlen
Kassandra lebte kaum zwei Monate in der Pizzeystraße. An einem trüben Freitagnachmittag im Mai klingelte es an der Tür, gerade, als sie in ihren Sitzsack gefallen und hatte eine Flasche Bier geöffnet hatte.
Der Türspion zeigte einen riesigen, schwarzbehaarten Kopf auf einem kleinen, kegelförmigen Körper. Die Gestalt mahlte mit den Kiefern. Kassandras Hand zuckte auf der Klinke. Schließlich kam sie sich albern vor und öffnete die Tür.
„Hey Nachbarin, es bringt Unglück, sich nicht vorzustellen! Ich bin Madlen.“
Madlen klimperte mit langen, dichten, unechten Wimpern. Sie trug eine rosafarbene Felljacke und kaute Kaugummi. Sie hielt Kassandra eine Flasche Asti Cinzano hin, um deren Hals eine rote Schleife gebunden war.
„Das ist aber nett. Kassandra“, sagte Kassandra und deutete auf das Mc-Donald’s-Namensschild auf ihrer Brust.
„Was, wie diese Wahrsagerin da?! Du Arme.“
„Ja. Meine Eltern wollten einen ganz besonderen Namen.“
Madlen schüttelte den Kopf und lächelte. Für einen kurzen Moment sah Kassandra das Halteband ihrer Clip-Extensions.
„Diese Salzsäcke, und was man noch so macht, finde ich albern. Wer hat schon kein Salz beim Einzug? Außerdem wohnst du schon ne ganze Weile hier. Aber was zu Trinken, das braucht man doch immer. Oder?“ Madlen blickte auf die Flasche Astra, die Kassandra noch immer in der Hand hielt, blies die Backen auf und produzierte eine rosafarbene Kaugummiblase.
„Das findest du?“ Kassandra und sehnte sich nach ihrem Sitzsack.
Die Blase zerplatzte mit einem leisen Knall. „Willst du mir mal deine Wohnung zeigen, oder wie?“
Das wollte sie nicht. „Komm‘ gerne rein“, sagte sie und drehte sich seitwärts.
„Wie kannst du mit so wenigen Möbeln leben?“
Ich plane weder große Empfänge, noch bin ich auf irgendeinen Besucher eingestellt, und das ist Absicht, dachte Kassandra. „Es ist eine Übergangslösung“, sagte sie.
„Aber dein Sofa sieht bequem aus!“ Madlen drängte sich an ihr vorbei und hinterließ eine Wolke stechenden, blumigen Duftes, bog in die Kochnische ab und öffnete den Kühlschrank. Kassandra blieb der Mund offenstehen.
„Für den Asti!“ erklärte Madlen und ließ das Innere des Kühlschrankes auf sich wirken. „Isst du gar nichts?“
„Ich esse bei der Arbeit. Ich arbeite bei McDonald’s.“ Kassandra wunderte sich, wie leicht es ihr über die Lippen kam. Seit dem Aus in der Immobilienfirma gab sie wenig auf gesellschaftlichen Status. Ihr bewusst, dass die meisten anderen kaum etwas Wichtigeres kannten. Madlen sah indes nicht danach aus.
„Ok. Ich liebe es!“ sagte sie tatsächlich, als sei es eine Ehre, einen ungelernten Job in der Gastronomie auszuüben, und vielleicht war es das auch. Madlen lachte, ein Zirkoniastein auf ihrem Eckzahn glitzerte. „Ich koche jeden Tag frisch. Mein Mann hat seine Ansprüche.“
Madlen trug keinen Ring. Einen Moment lang blickte sie gedankenverloren in den Kühlschrank und stellte den Asti hinein. Dann nahm sie Kassandra mit neugewonnener Energie ins Visier. „Mein Mann arbeitet nachts. Vom Abendessen bleibt immer was übrig. Ich geb‘ dir was ab!“
„Das musst du nicht.“ Kassandra war entsetzt. Ein unruhiges Gefühl beschlich sie.
„Du hast keinen Mann!“ Es klang beschwingt.
„Woher weißt du das?“ Der Kühlschrank begann, zu piepen. Kassandras Fluchtinstinkt machte einem Gefühl von Beleidigung Platz.
„Ich hab‘ deinen Einzug beobachtet“, sagte Madlen ungerührt. „Keinen Mann haben ist super, aber dann kocht man nicht, oder? Ich hab‘ einen, und was abzugeben.“
Sie nahm sich eine Flasche Astra aus dem Kühlschrank und schloss endlich dessen Tür. „Das Gastgeschenk macht man ja nicht auf, stimmt’s?“
„Wohl nicht“, murmelte Kassandra. Jetzt kam sie sich belehrt vor.
„Ist das hier kalt!“ Madlen rieb sich die Ärmel der Jacke. Es war nicht besonders kalt. „Mach doch mal die Heizung an! Hast du Netflix?“
Madlen hielt Wort und tauchte am folgenden Abend mit einer Tupperdose auf. Zunächst dachte Kassandra, es werde bei dem einen Mal bleiben. Doch auch am nächsten Abend brachte sie eine vollständige Mahlzeit, und am Abend darauf, und ebenfalls am Abend danach. Sie selbst habe schon gegessen, behauptete Madlen, wenn Kassandra ihr etwas aus der Tupperdose anbot.
Arbeitete sie abends, stellte Madlen das Essen in einer Styroporbox vor ihre Tür.
Und sie konnte kochen. Kassandra hatte befürchtet, Opfer einer Art Restverwertung zu werden, doch das knackige Gemüse, das punktgenau gegarte Fleisch, das wie Butter zu beiden Seiten des Messers auseinanderfiel, das lockere und im Abgang nussige, lockere Couscous mit Zimtaroma, die süß-saure, zähfließende Granatapfelsauce und was der Köstlichkeiten mehr waren, belehrten sie eines Besseren. Meistens servierte Madlen etwas Krustentiere oder Lammfilets in exotischen Saucen. Der für satte Gemüter so abstoßende wie für hungrige Sinne verlockende Duft von Kreuzkümmel und Kardamom blieb fortan in der Wohnung, ganz egal, wie lange sie lüftete.
Zermarterte Kassandra sich anfangs noch den Kopf darüber, wie sie Madlen am Besten wieder loswerden konnte, und stellte sich vor, Opfer einer innovativen Schwindelmethode zu sein, ertappte sie sich bei ihren Schichten immer häufiger dabei, wie sie sich auf die Kreationen freute. Ihr Misstrauen verwandelte sich von einem nagenden, subversiven Element in einen immer dünner werdenden Nebel, der schließlich, vom Tageslicht besiegt, verschwand.
Sie traute sich nicht, Madlen zu fragen, ob sie sich vor lauter Meeresfrüchten keine Heizkosten und keinen Fernseher leisten konnte. Denn die einzigen Dinge, die Madlen im Gegenzug für die den Gaumen verhätschelnden Köstlichkeiten von ihr zu erwarten schien, waren ein warmes Plätzchen auf dem Sofa und das gemeinsame Netflixen. Kassandra kam es sparsamer vor, kurzfristig ihren Heizlüfter anzustellen, sobald ihr Madlens Klagen über die Kälte zu penetrant wurden, zumal das Thermostat seit April den Betrieb der Heizkörper unmöglich machte. Was die Abendunterhaltung betraf, hatte sie bei Madlens Anblick zuerst befürchtet, sie bestünde auf Die echten Hausfrauen von Beverly Hills, Der grausigste Mitbewohner aller Zeiten oder Mord in Amerika. In Wirklichkeit hatte Madlen überhaupt keinen eigenen Netflix-Willen und gab sich mit Falsches Profil zufrieden, was Kassandra im Original anschaute, um ihr Spanisch vor ihrer geplanten Auswanderung zu verbessern. Madlen zuliebe schaltete sie ab und zu Ladet Phil zum Essen ein oder Kulinarischer Krieg ein. Aber der es schien es gleichgültig, was gestreamt wurde. Allerdings hatte Kassandra Probleme, ihren Gast nach Ende der Folgen wieder loszuwerden. Madlen döste gerne an ihrer Schulter ein, als kennten sie sich aus Sandkastentagen. Sie weckte Madlen oft mehr rabiat als sanft, wischte demonstrativ deren Makeup-Spuren von ihrem Ärmel, aber nichts half. Als Kassandra sie aber fragte, in welcher Wohnung sie lebte, vorgeblich, um Geschirr und Styroporbox rascher zurückbringen zu können, kam Leben in Madlen.
„Zeige ich dir wann anders!“ Sie ordnete ihre Clip-Extensions und sprang auf. Kassandra konnte sich kaum von ihr verabschieden, so schnell verschwand sie.
Eines Tages quälte Kassandra sich nach der Spätschicht das Treppenhaus hinauf und fand keine Styroporbox vor der Tür. Sie schämte sich ein wenig für ihre Empörung und trank zwei Flaschen Astra. Das Einkaufen fester Nahrungsmittel hatte sie dank der exzellenten Verköstigung durch ihre Nachbarin ganz aufgeben können. Madlen behielt recht, sie war an Selbstfürsorge nicht interessiert. Andererseits konnte es so nicht ewig weitergehen: Die kahle Wohnung, der tägliche Frittengestank, die Arbeitskleidung aus Polyester, die ihr am Rücken und in den Leisten klebte. Was, wenn Onkel Bernhard trotz seiner mannigfaltigen Malaisen noch fünf Jahre weiterlebte? Die Erbschaft ihrer Eltern allein reichte nicht für die Art von Haus, die sie sich in Spanien kaufen wollte, und den Unterhalt, den so ein Haus verlangte. Zwar hätte sie erneut ins Maklergeschäft einsteigen können, zumal an einem Ort, an dem die Branche ihren zerstörten Ruf noch nicht kannte. Ein neuer Name, ein neues Profil bei Xing. Einfach. Aber lieber hätte sie weiter in der Gastronomie oder, noch lieber, gar nicht mehr gearbeitet.
Am nächsten Tag kehrte sie früher heim und wartete vergebens auf Madlen und ihr Essen. Schließlich bewegte sie sich widerstrebend die Straße herunter zum Penny und kaufte Spaghetti Bolognese aus der Dose. Doch inzwischen war sie verwöhnt, und es wollte ihr nicht schmecken. Sie saß allein auf dem Sitzsack, stocherte missmutig auf ihrem Teller herum, schaute Mord an der Costa del Sol und griff nach einem Kissen, um sich zu wärmen. Madlen, in ihrer Dreistigkeit und ihrem Stumpfsinn, fehlte. Kassandra bereute es jetzt, nicht auf Madlens Kontaktdaten bestanden zu haben. Die Frage, was passiert sein mochte, dass Madlen ihrer beider Zweckgemeinschaft nicht mehr lohnend fand, kreiste in ihrem Kopf und begleitete sie bis ins Bett. Aber warum? Arbeitete ihr Mann nicht mehr nachts? Suchte sie deshalb keine Gesellschaft mehr? Hatte sie neue Freunde gefunden? Der Gedanke, dass etwas ganz anderes mit ihr passiert war, kam ihr nicht. Nur in einem Traum sah sie Madlen durch den Türspion die Hand nach ihr ausstrecken, der Arm wurde länger und immer länger, und erreichte sie doch nicht.
Zwei Wochen später kehrte Madlen mit einer Tupperdose in der Hand zurück. Kassandra schwankte zwischen Erleichterung und Empörung. Madlen trug eine Sonnenbrille, die sie auch in der Wohnung nicht absetzte, und ein Halstuch. Die Extensions waren verschwunden. Anstelle dessen hatte sie ihre lackschwarzen Haare in einem tiefen Dutt zusammengefasst. Perlenstecker hatten ihre handtellergroßen Kreolen ersetzt. Ein Hauch Jackie O. umwehte sie, wäre nur ihre Jogginghose nicht gewesen. Als sie nebeneinander auf dem Sofa saßen, fiel Kassandra zum ersten Mal eine Grenzlinie zwischen ihrem Makeup und ihrem Hals auf.
„Willst du nicht die Sonnenbrille abnehmen?“ Sie sprach das Offensichtliche an, bevor sie sich an noch mehr Kuriositäten gewöhnte.
„Nein“, sagte Madlen in einem Ton, der sich weitere Fragen verbat.
Kassandra beherrschte ihr Bedürfnis, Rechtfertigungen oder zumindest eine Erklärung für die Abwesenheit ihrer Nachbarin einzufordern. Madlen hatte Moussaka mitgebracht. Kassandra beäugte es und kostete erwartungsvoll den ersten Bissen. Zu ihrem Entsetzen schmeckte es fürchterlich bitter und versalzen und weitere Gewürze fehlten. Sie schob die halb zerkaute Masse in die Backentasche und stand sehr langsam auf, wie, um Madlen nicht zu provozieren. Auf dem Weg zur Toilette überlegte sie, womit sie sie wohl verärgert haben könnte. Hätte sie mehr Interesse an ihrem Leben zeigen sollen, wenn Madlen doch bei aller Herzlichkeit ihr gegenüber so verschlossen schien? Hätte Kassandra sich ihrerseits offenbaren sollen, wenn Madlen doch ausschließlich am Netflixen interessiert wirkte? Sie spuckte das Essen behutsam in die Toilette, wartete einige Minuten, spülte und stellte den Wasserhahn gebührend lange an, ohne die Hände darunter zu halten.
„Ich habe mir wohl den Magen verdorben“, sagte sie und ließ sich auf das Sofa fallen.
„Du siehst aber ganz gut aus! Moment, bei McDonald’s den Magen verdorben? Kann man die nicht auf Millionen verklagen?“
„Nicht in Deutschland. Außerdem kann es auch ein Virus sein.“ Kassandra stellte die Tupperdose in einiger Entfernung auf den Couchtisch. Hinter ihrer Stirn begann es, zu pochen. Sie stieß die Luft durch die Nase aus und erwog, Madlen mitsamt ihres kapriziösen Aufzugs der Wohnung zu verweisen.
„Ich habe als Anwältin gearbeitet“, sagte Madlen unvermittelt.
Kassandra musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.
„Das ist ja interessant“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Madlen nahm die Sonnenbrille ab und wandte sich ihr zu. Gelbe Reste eines Veilchens umringten ihr linkes Auge.
„Ok, das stimmt nicht. Ich habe als Rechtsanwaltsgehilfin gearbeitet. Nach meiner Hochzeit habe ich aufgehört. Eines Tages würde ich gerne Chefin in einem Frauenhaus sein. Wie Puffmutter, nur umgekehrt, weißt du?“
„Ja.“ Kassandra biss sich auf die Lippe, wollte ansetzen, etwas zu sagen, schwieg dann. So also war es. Sie hätte die Serie, die sich um die Flucht aus einer Trailer-Gewaltbeziehung drehte, am Liebsten ausgestellt. Aber Madlen nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand.
„Das ist voll interessant, lass das!“
Ich hätte gedacht, kennst du eine, kennst du alle, ging es Kassandra durch den Kopf. Sie drehten sich wieder zum Fernseher und schauten weiter The Maid. Madlen begann bei der ersten Frauenhaus-Szene, zu weinen. Kassandra legte vorsichtig den Arm um sie und hielt ihr eine Taschentuchbox hin. Sie weinte noch mehr und weinte weiter und weiter, bis Kassandra den Fernseher ausstellte.
„Sonst haben wir keine Folge mehr für morgen“, sagte sie.
„Und keine Taschentücher“, sagte Madlen.
„Du kannst auch hier wohnen. Du weißt, was man alles…“
Madlen stand auf.
„Ja, ich weiß. Ich weiß das alles. Alles. Broschüren, Sozialarbeiter, Krankenhausärzte, Polizistinnen, Polizisten.“ Sie nahm ihr Kaugummi aus dem Mund und rollte es in ein gebrauchtes Taschentuch. „So einfach ist es nicht.“ Sie sah erschöpft aus, wie ein geschrumpfter Luftballon, an dem der Wind zerrte. Als hätten die kurzen Sätze all ihre Kraft gekostet, so dass ihr sogar das Kauen zu viel geworden war. „Genau wie da.“ Sie deutete auf den schwarzen Bildschirm.
„Ich glaube, sogar `da` gibt es ein Happy End“, behauptete Kassandra.
Madlen seufzte, stopfte das Taschentuch in die Tasche ihrer Jogginghose und setzte die Sonnenbrille wieder auf.
„Wir sehen uns morgen“, sagte sie und ging ihres Weges.
Am nächsten Abend kam Madlen wieder, und an dem Abend danach, und an dem danach, und an dem danach hörte Kassandra auf, zu zählen, seit wie vielen Abenden sie wieder da war. Kassandra verstand sich als Bewährungshelferin, bei der sich Madlen täglich unversehrt zeigen musste, sprach das Thema jenes Abends nicht mehr an. Es wurde Juni, es wurde Juli, es wurde August, und trotz der Hitze fror Madlen ständig. Kassandra schuftete beim goldenen M wie in einer endlosen Schleife und Onkel Bernhard hielt allen seinen Krankheiten zum Trotz am Leben fest. In ihren wöchentlichen Telefonaten schimpfte er über den Pflegedienst, die Regierung und seine neureichen Nachbarn und bekundete seinen Lebensüberdruss, all das in immer der gleichen Reihenfolge.
Madlens Essen gewann die gewohnte Qualität zurück. Sie brachte seit ihrem Fehlen ostasiatische Gerichte mit, die immer besser schmeckten.
„Die benutzen Sojasoße oder Fischsoße, da sehe ich den Pegel in der Flasche“, erklärte sie. „Bei Salz kann ich nicht so gut sehen, ob einer ungefragt nachgewürzt hat.“
Kassandra ließ die Gabel voll Pad Thai sinken. „Wer würde denn so was machen?“
„Was weiß ich!“, sagte Madlen und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Ihr Teint strahlte ebenmäßig wie ehedem, es war keine Make-up-Demarkationslinie zu sehen. Die Sonnenbrille trug sie nicht mehr. Ihre langen Ärmel und gelegentlichen Halstuch-Phasen schrieb Kassandra ihrem gestörten Temperaturempfinden zu.
Auf dem Fernseher fackelte der Hauptdarsteller aus You gerade seinen Tatort ab. „Sie ist ja schon tot“, stellte Madlen fest. „Aber selbst, wenn nicht, soll es gar nicht so schlimm sein.“
„Zu verbrennen?“ fragte Kassandra schriller, als nötig.
„Ja! Man soll das nicht mitbekommen, weil man vorher erstickt.“
„Als ob das besser wäre!“ Kassandra wunderte sich über so viel Naivität. Sie warf einen Seitenblick auf ihren Gast und wunderte sich auch wieder nicht.
„Naja, man wird bestenfalls eingeschläfert. Wie so eine Gasnarkose.“ Madlen malte mit orangefarbenen Gelnägeln eine sich ausdehnende Wolke in die Luft und lachte.
„Ganz ehrlich!“, entrüstete Kassandra sich und spießte eine Garnele auf.
Als Madlen am nächsten Abend eintrat, blieb sie vor dem Sofa stehen und deutete auf den Koffer.
„Du fährst weg?“ Ihre Augen weiteten sich.
„Mein Onkel ist gestorben. Ich fahre morgen nach Düsseldorf zur Beerdigung.“
„Oh, das tut mir leid!“ Madlens Augen glänzten, und über den Unterlidern bildeten sich winzige Wasserspiegel. Sie wird doch nicht wegen so was anfangen, zu heulen, aber wegen ihres ganzen Lebens nicht, dachte Kassandra.
„Das muss es nicht. Er war schon alt und lange krank. Wir standen uns auch nicht nahe.“ Zumindest nicht in jeder Hinsicht, dachte Kassandra, hob den Koffer vom Sofa und stellte ihn auf den Boden.
„Wie lange bist du weg?“ Madlens Stimme zitterte.
„Eine Woche.“ Kassandra hielt ihr die Taschentuchbox hin.
„So lange!“ entfuhr es Madlen und sie schlug die Hand vor den Mund. „Entschuldigung. Ich bin bloß überrascht.“ Sie setzte sich auf den Sitzsack, neben den Koffer und umklammerte die Tupperdose auf dem Schoß.
„Ich bleibe noch eine Weile, um bei der Haushaltsauflösung zu helfen.“ Und zur Testamentsverlesung, jubilierte Kassandra gedanklich. „Aber dann bin ich ja wieder da.“
Vom Frohsinn, den die Nachbarin beim Kennenlernen versprüht hatte, war keine Spur mehr. Kassandra seufzte. Jetzt hatte Madlen ihr die Stimmung verdorben. Sie dachte an Onkel Bernhard. Nachdem ihre Mutter ihrem Vater ins Grab gefolgt war, und Kassandras damaliger Freund bei der Trauerfeier lauter als alle Anwesenden geschluchzt hatte, gab Onkel Bernhard einen seiner seltenen Ratschläge von sich: „Du bist früh verwaist. Du musst für dich selbst sorgen. Hüte dich vor Leuten, die dich runterziehen.“ Onkel Bernhard war ein herzloser Mann.
Sie sagte zu Madlen: „Warum nimmst du nicht meinen Ersatzschlüssel? Dann kannst du abends auch ohne mich Netflix gucken. Ich gebe Dir meine Nummer. Dann textest du mir, falls irgendwas nicht in Ordnung ist. Mit der Wohnung, oder … sonst irgendwas. Jederzeit!“
„Oh, meinst du echt?“ Ganz langsam hoben sich Madlens Mundwinkel.
„Solange du hier keine Gelage veranstaltest.“
„Aber du kommst zurück!“ befahl sie.
„Klar. Pass nur auf den Heizlüfter auf. Man darf den nicht abdecken. Bier ist im Kühlschrank, weißt du ja.“
Am Abend nach der Beerdigung lag Kassandra auf einer Art Feldbett in Onkel Bernhards Werkstatt. Ein Hotel war ihr zu teuer, sein Bett indiskutabel. Sie checkte ihre Nachrichten. Keine Nachricht von Madlen. Sie hatte Kassandras Nummer unter dem Namen Mama gespeichert. Kassandra fragte sich, unter welchem Namen sie die Nummer ihrer wirklichen Mutter gespeichert hatte, und hatte diese Frage auf die gedankliche Liste der Dinge geschrieben, die sie schon immer von Madlen wissen wollte. Madlen hatte ihr erklärt, „Kassandra“ klinge wie ein Fake, und dass so etwas ihren Mann misstrauisch mache.
Sie war online.
Kassandra tippte auf das Mikrofon und sagte:
„Hallo Madlen. Hier ist Mama. Na, du weißt schon. Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung, und mein Haus steht noch. Madlen. Wie du weißt, oder auch nicht, möchte ich, deine Mama, demnächst nach Spanien auswandern. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Da ist es auch meistens warm. Du wirst Gelegenheit bekommen, dein Frauenhaus aufzumachen. Dort, wo ich hinmöchte, gibt es noch mehr Bedarf als hier. Wir könnten vielen Frauen helfen. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es viele Schlägereien unter den Bewohnerinnen gibt und die Meisten zu den Tätern zurück gehen. Das musst du vorher wissen. Aber ab und zu rettet man wohl eine. Naja. Wir besprechen alles, wenn ich wieder da bin. Bis dahann!“
Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und drückte auf den kleinen Flieger. Doch es erschien kein zweites Häkchen, denn Madlen war plötzlich offline. Ihr Herz stolperte. Sie markierte die Sprachnachricht und löschte sie „für alle“. Ein tiefer Atemzug brachte ihr Herz wieder in seinen Takt. Erst jetzt entspannte sie ihre Lippen, von denen ihr nicht aufgefallen war, wie fest sie sie zusammengepresst hatte. Sie drückte den Hinterkopf ins Kissen und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Das Feldbett quietschte.
Sie musste es ihr zu Hause vorschlagen.
Auf dem Rückweg aus Düsseldorf war Kassandra in bester Stimmung. Die Erbschaft war noch üppiger ausgefallen als erwartet. Sie saß im Zug und sah sich im Internet Liegenschaften an, die zuvor nicht in ihrer Größenordnung gewesen waren. An der Bushaltestelle schob sie Unterhaltskalkulationen für die Häuser in einer Exceltabelle hin und her.
Ein Einsatzfahrzeug überholte ihren Linienbus nach Hause. Sie hielt sich die Ohren zu, dachte an die Waldbrände in Südeuropa und überlegte, wie sie unser zukünftiges spanisches Haus vor ihnen schützen würde. Während sie aus dem Bus stieg, hoffte sie, keine Brandstifter als Nachbarn zu bekommen, die ihre Geldprobleme mit einem Versicherungsfall lösen oder Bauland aus angrenzenden Naturschutzgebieten machen wollten.
Tief in Gedanken über Vor- und Nachteile einer Alleinlage eines Hauses bog sie in die Pizzeystraße ein.
Sie schaute erst auf, als ihr Rauch in die Nase stieg.
Ihrer Mietskaserne schaute eine Menschentraube beim Abbrennen zu. Kassandras erster Gedanke galt ihren Dokumenten, die sie glücklicherweise in einem Bankschließfach deponiert hatte. Eine dumme Ahnung über Madlens Umfeld hatte sie dazu inspiriert. Erst dann dachte sie an sie und den Heizlüfter.
Eine Absperrung hielt die Schaulustigen von der Szenerie fern. Zwischen den Schaulustigen befanden sich Bewohner des Hauses. Sie kannte nicht alle. Es gab dort mindestens fünfzig Ein- und Zweizimmerwohnungen, zusätzlich eine hohe Fluktuation. Rettungskräfte versorgten ihre Nachbarn, von denensie einige noch nie zuvor gesehen hatte und den Rest wegen ihrer rußverschmierten Gesichter erst mit Verzögerung erkannte. Madlen war nicht dabei.
Trotz ihres Abstandes zum Haus imprägnierte der Qualm ihren Körper. Husten schüttelte sie.
Über die Absperrung hinweg sprach sie zwei Feuerwehrleute an, einen Mann und eine Frau, und deutete auf ihr geborstenes Fenster, das aus der rußgeschwärzten Fassade klaffte.
„Das ist meine Wohnung“, rief sie, um die Sirenen weiterer herannahender Rettungswagen, das Krachen und Knacken des Feuers und den Lärm der Löscharbeiten zu übertönen. „Haben Sie aus meiner Wohnung jemanden evakuiert?“
„Sie! Sie bleiben bitte hier. Wir haben Fragen an Sie. Das Feuer ist in Ihrer Wohnung ausgebrochen.“
„Ich war nicht da, ich war auf Reisen.“
Die Feuerwehrfrau sah mich durch ihr Visier misstrauisch an. „Gerade dann.“
„Meine Freundin war da drin“, behauptete Kassandra, „haben Sie sie evakuiert?“
Der Feuerwehrmann sah sie mitleidig an.
„Dazu können wir Ihnen nichts sagen“, bellte die Frau.
Der Rauch, oder was auch immer, brachte Kassandra zum Weinen.
„Wir haben eine Frau aus Ihrer Wohnung geholt.“ Jetzt redete der Feuerwehrmann. Seine Kollegin schickte ihm böse Blicke. Trotzdem fuhr er fort: „Sie hatte sich leider im Badezimmer eingeschlossen. Wohl aus Angst. Das hat die Bergung etwas verzögert. Leider hat sie nicht überlebt.“
Sie musste sich auf die Straße setzen, um nicht umzufallen.
„Ja, aus Angst“, sagte sie.