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Magische Zufälle

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01.05.2008
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Magische Zufälle

In dem Augenblick, in dem meine Mutter starb, habe ich geschlafen, allein, in meinem Bett zuhause. Mein Vater behauptete, er sei um 3:15 morgens aufgewacht, exakt zur Todesstunde meiner Mutter, und habe „so ein komisches Gefühl“ gehabt. Ich habe einfach nur geschlafen und nichts mitbekommen. Kein Engel erschien mir im Schlaf und warnte mich vor. Auch mein verstorbener Großvater hat mich nicht besucht in der Nacht. Ich habe einfach keinen Draht zum Jenseits. Die Geister wollen von mir nichts wissen. Das Okkulte liegt mir nicht. Ich würde auch gern Stimmen hören oder Gläser rücken, in Trance einen vaginalen Orgasmus kriegen oder hellsichtige Erscheinungen haben. Nichts davon. So habe ich denn auch den Tod meiner Mutter einfach verschlafen.
Ich hoffe, dass sie mir nicht böse ist. Wenn ein Geist richtig böse ist, kann es sehr ungemütlich werden, möchte man Hollywood und diversen Esoterikautoren Glauben schenken. Aber da ich wie gesagt gegen Geister immun bin (oder sie allergisch auf mich sind), muss mir das keine Sorgen machen. Allerdings hätte ich nichts gegen einen Besuch meiner Mutter, nur so, um zu hören, dass es ihr auch gut geht und die anderen Geister nett zu ihr sind; man macht sich schon Gedanken, wo sie da wohl gelandet ist, etwa in einer abgedrehten Geister-WG mit lauter Hippies, die cooles Jenseits-Dope am Start haben und die ganze Nacht Party machen, wo meine Mutter doch eigentlich schlafen will. Man weiß es nicht.
Es ist ja auch nicht so, dass ich sie nicht vermisse, ich vermisse sie sehr, ich vermisse vor allem meine Kindheit, die mit ihr gestorben ist. Jetzt gibt es nur noch meinen Vater, meine Katze und mich. Darauf einen Gin Tonic. „Süppel nicht so viel“, würde sie jetzt sagen, und recht hätte sie.
Erinnerungen kann einem keiner nehmen, sagen die einen; Erinnerungen verblassen, sagen die anderen. Was ist besser? Tun Erinnerungen weniger weh, wenn sie langsam Gestalt verlieren und sich dem Hintergrund anpassen wie ein Farbklecks, der durch die Sonne verbleicht? Die Zeit heilt alle Wunden, ja ja. Ich weiß das alles.

Als ich es erfuhr, saß ich auf dem Sofa, einen Drink in der einen und das Fotoalbum in der anderen Hand und blätterte mich durch die Jahre. Meine Mutter beim Christbaumschmücken. Meine Mutter auf unserem Segelschiff. Meine Mutter und ich auf dem Rummelplatz vor der Achterbahn. Meine Mutter hatte vor nichts Angst. Ausgerechnet ich, Ivy Kiefer, gebeutelt durch Ängste und Phobien, die nur durch Alkohol im Zaum gehalten werden konnten, hatte eine Mutter, die mutiger war als jeder Seemann! Stolz war ich auf sie, stolz, eine so eine tapfere und schöne Mutter zu haben. Leider habe ich weder Mut noch Schönheit von ihr geerbt. Ich schlage mehr nach meinem Vater, der zwar auch gutaussehend, aber eben ein Mann ist. Kinn und Stirn sowie Nase und Ohren habe ich von ihm. Lippen und Augen sind eine Eigenkreation der Natur. Nur die hohen Wangenknochen und den Leberfleck auf der Stirn habe ich von meiner Mutter. Wenigstens etwas.
Dann rief mein Vater mich an und sagte es mir. Ich konnte nicht glauben, dass sie tot ist, ich war in dem Moment fest davon überzeugt, den Tod gäbe es gar nicht und er sei nur eine Erfindung der Kirche.
Die Krankenschwester, mit der ich im Krankenhaus sprach, als ich die persönlichen Gegenstände meiner Mutter abholte, fragte mich, ob ich die Tote noch einmal sehen mochte, aber ich wollte meine Mutter lebendig im Gedächtnis behalten und nicht als Leiche. Ich bereue meine Entscheidung nicht. Kurz vor ihrem Tod hatte ich sie noch einmal im Krankenhaus besucht und als ich mich verabschiedete, winkte sie mir zu und rief, „ich liebe dich“. Es waren ihre letzten Worte an mich. Ich wusste das natürlich nicht und rief etwas irritiert, „ich dich auch“. Wenn ich gewusst hätte, dass sie in der folgenden Nacht sterben würde, hätte ich – , ja, was hätte ich? Die ganze Zeit bei ihr gesessen und geweint? Von früher erzählt? Oder einfach ihre Hand gehalten und geschwiegen?
Ich bin dann nach Hause gefahren ohne komisches Gefühl im Bauch, da ich dachte, ich sähe sie am nächsten Tag wieder. Ich sagte ja, ich habe keine spirituellen Antennen, ich habe wirklich nichts gemerkt. Ich wusste, dass es ihr nicht gut ging, ja, dass sie in den nächsten Wochen oder Monaten sterben könnte, ja, aber nicht am nächsten Tag, nicht am nächsten Tag.

Die Beisetzung fand zehn Tage später auf einem Schiff statt; meine Mutter hatte sich eine Seebestattung gewünscht. Das Motorboot, mit dem wir aufs Meer hinaus fuhren, hieß Doris, wie meine Mutter. Auch die Pastorin, die die Rede hielt, hieß Doris mit Vornamen. Ich hielt dies für einen bemerkenswerten Zufall.
Nach der Bestattung fuhr ich mit meinem Vater in ein Restaurant. Wir entschieden uns für einen Italiener. Es war der klassische Casa-Mia-Casa-Blanca-Casa-Nova-Italiener mit Antipasti-Buffet und Fischernetzen an der Decke. Gemütlich, wenn auch nichts Besonderes. Im Hintergrund liefen leise die drei Tenöre. Das gestärkte Tischtuch hatte Flecke von Tomatensoße, die halbherzig mit einem feuchten Tuch behandelt worden waren, aber es störte mich nicht. Ich war wie betäubt. Das erste Glas Wein kippte ich in einem Zug hinunter. Mein Vater trank keinen Alkohol. Überraschenderweise hatten wir beide Hunger.
Als der Kellner kam, war ich sehr überrascht, denn es war der Kellner aus meinem Lieblingsrestaurant bei mir um die Ecke.
„Was machen Sie denn hier?“, fragte ich.
„Ich helfe hier nur aus, das Restaurant gehört meinem Bruder“, antwortete er. „Seine Frau hat vor zehn Tagen ein Baby bekommen und kann nicht arbeiten, solange bin ich hier.“
„Vor zehn Tagen?“
„Ja.“
„Junge oder Mädchen?“
„Ein Mädchen.“
Mein Vater bestellte Spaghetti Carbonara, ich Lasagne. Bis das Essen kam, schwiegen wir. Es gab nichts zu sagen. Meine Mutter war tot, wir vermissten sie schmerzhaft, darüber mussten wir nicht sprechen. Wir kannten uns gut genug, um das Schweigen des anderen nicht persönlich zu nehmen.
Das Essen war heiß und lecker, aber nach den ersten drei Bissen war ich satt, mein Magen war wie zugeschnürt. Ein paar Tränen waren auf meine Lasagne gefallen und vermischten sich mit dem zerlaufenen Käse. Mein Vater schob seinen halbvollen Teller in die Mitte des Tisches, er konnte auch nicht mehr.
„Sie wollen vielleicht ein Dessert?“, fragte der Kellner. „Tiramisu ist gerade frisch gemacht worden.“
Tiramisu war das Lieblingsdessert meiner Mutter.
„Nein danke“, sagte ich, „heute ist ein schlechter Tag für Desserts.“
Mein Vater zahlte und wir gingen. Er brachte mich zu meinem Auto und stieg in seins. Ich drückte ihn vorher fest, obwohl das sonst nicht meine Art ist, aber mir war danach. Wann, wenn nicht jetzt?
Ich setzte mich in meinen zwanzig Jahre alten Polo und fuhr langsam nach Hause. Erst als ich versuchte einzuparken fiel mir auf, dass ich nicht richtig denken konnte: Ich hatte zuviel Alkohol getrunken, ich hätte gar nicht fahren dürfen. Mit Ach und Krach gelang es mir schließlich, den Wagen abzustellen und ich wankte vorsichtig zu meinem Wohnhaus. Glück gehabt, dachte ich, Glück gehabt, dass nichts passiert ist. Ich schimpfte mit mir selbst, so was durfte nie wieder vorkommen. Mit zittrigen Händen schloss ich meine Wohnungstür auf und ließ mich komplett angezogen auf mein Bett fallen, nicht mal Schal und Mantel legte ich ab. Einen Augenblick später war ich eingeschlafen.

Als ich aufwachte, war es schon dunkel. Ich tastete nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Ich wollte Nachrichten sehen, aber es lief „Bettgeflüster“ mit Doris Day. Ich machte den Fernseher wieder aus und zog endlich meinen Mantel aus, mir war warm, jetzt. Dann ging ich ins Wohnzimmer und ließ mich dort auf das Sofa fallen. Mein Blick glitt an meinen Büchern im Regal entlang und blieb am „Goldenen Notizbuch“ von Doris Lessing hängen. Ich nahm es aus dem Fach und schlug es wahllos auf: „Und das war das Ende.“
Mir wurde flau im Magen, ich merkte, ich hatte nicht genug gegessen; trotz der Lasagne hatte ich Hunger, es trieb mich in die Küche. Meine edle, selten benutzte Einbauküche blitzte mich an. Ich hatte Appetit auf Pilzomelette; ein Gericht, das meine Mutter oft für mich gekocht hatte. Ich hatte wenig Ahnung vom Kochen und war meistens auf den Rat von Kochbüchern angewiesen, auch diesmal. Ich ging mit dem Finger die Rezeptbücher durch, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten und in einer Reihe in einem Wandschrank über der Essecke standen. Da fiel mir ein altes, zerfleddertes Buch entgegen, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es noch hatte: Es war das Kochbuch, das meine Mutter mal für mich angelegt hatte, als ich noch ein Teenager war in der Hoffnung, mir das Thema Kochen damit näher bringen zu können. Das hatte sie zwar nicht geschafft, aber ich erinnerte mich, es gab ein schönes Rezept für Pilzomelette darin. Ich nahm es in die Hand und schlug es auf. Da lag ein kleiner Zettel, mit der sauberen, schnörkellosen Handschrift meiner Mutter beschrieben, ein gemaltes Herz daneben: „Mein Schatz, ich liebe dich, Kuss, Mutter.“
Einen Augenblick glaubte ich, ihre Stimme zu hören, ihr Parfum zu riechen. Endlich weinte ich ein bisschen.
„Ich liebe dich auch, Mama“, sagte ich leise. Hinter mir raschelte es, aber es war nur der Wind, der durchs Fenster wehte. Durchs geschlossene Fenster? Mir wurde kalt, ein eisiger Lufthauch umfing mich. Mein Blick fiel wieder auf das Buch. Ich schlug die nächste Seite auf und darauf stand „Ich bin immer bei Dir. Viel Spaß mit dem Pilzomelette! Mutter“.
Was für ein Zufall, dachte ich. Was für ein bemerkenswerter Zufall.
Ich werkelte in der Küche vor mich hin; mit Hilfe des Rezeptes meiner Mutter gelang mir schließlich ein Pilzomelette aus etwas Butter, drei Eiern und einer kleinen Dose Champignons, es war lecker; ich aß mit mehr Appetit als vorher im Restaurant. Es schmeckte nach Kindheit, meine Geschmacksnerven erinnerten sich. Langsam und unter Einwirkung einiger Gläser Wein entspannte ich mich. Ich sah nach draußen und erblickte einen Regenbogen. Gleichzeitig erblickte ich in der Fernsehzeitung „Und Jimmy ging zum Regenbogen“. Irgendwann hatte ich mal gehört, dass Regenbögen Grüße der Toten aus dem Jenseits an die Lebenden waren. Ich hatte dem nie Bedeutung zugemessen. Jetzt sah ich einen. Somewhere over the rainbow.
Ich aß weiter mein Omelette, auch wenn es jetzt kalt war, es schmeckte trotzdem. Ich glaubte, ich hatte begriffen.

 

Hallo catlucy!

Auch mein verstorbener Großvater hat mich nicht besucht in der Nacht (und auch sonst nicht).
Das in Klammern hat doch für die Geschichte keine weitere Bedeutung, und auch sonst stört dieser Kommentar, ich würde ihn streichen.
Aber da ich wie gesagt gegen Geister immun bin (oder sie allergisch auf mich sind),
Dito.
man macht sich schon Gedanken, wo sie da wohl gelandet ist, etwa in einer abgedrehten Geister-WG mit lauter Hippies, die cooles Jenseits-Dope am Start haben und die ganze Nacht Party machen, wo meine Mutter doch eigentlich schlafen will.
Tolle Stelle!
Überraschenderweise hatten wir beide Hunger.
Aha ... Ironie?
um das Schweigen des Anderen nicht persönlich zu nehmen.
des anderen

Das ist eine schöne Geschichte. Die Gedankengänge der Erzählerin sind allesamt nachvollziehbar, ich konnte richtig mitfühlen mit ihr. Was ich immer angenehm finde, ist, wenn ein Autor es schafft, über ein trauriges Thema zu schreiben, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Das trifft auf die Geschichte hier und auch auf sonst sehr viele, die ich von dir gelesen habe, zu. Aus der Tragikomik im Erzählton spricht schon die Verzweiflung der Protagonistin, ist sehr schön zu lesen.

Liebe Grüße,
strudel

 

Hallo strudel,

freut mich, dass Dir und den anderen die Story gefällt, klasse. Die kleinen Änderungen von Dir bessern den Text und sind schnell gemacht. Danke!

Lg,
catlucy

 

Hallo catlucy,

Mir hat der sanfte Erzählton gefallen. Durch den Tod eines Menschen wird man damit konfrontiert sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen zu müssen. Die Protagonistin vergleicht sich mit der toten Mutter, zieht ihr Resüme. Schön finde ich, dass du auch die Widergeburtsmöglichkeit, als magischen Zufall aufgegriffen hast. Darin war für mich jedoch ein Wermutstropfen. Seebestattungen finden in der Regel nicht schon 10 Tage nach dem Tod statt. Ich kenne es aus eigener Erfahrung, dass die Trauerfeier abgehalten wird und dass die Einäscherung nicht so schnell vollzogen wird, weil das Krematorium wenig freie Kapazitäten hat. Anschließen dauert es noch seine Zeit, vielen Urnen sind in einer Wartezeitschleife, bis sie dran sind um auf See "beigesetzt" zu werden.

LG
GD

 

Hallo, catluzy!

Vorweg: Es gibt keine Zufälle!
(die meisten sind Synchronizitäten) ;)

Ich kenne nur die überarbeitete Version und noch keine anderen Geschichten von dir, aber ich war sofort drin und hatte nicht einen Moment lang das Gefühl, "nur" eine Geschichte zu lesen. Sie ist durch und durch glaubwürdig. Auch dein "einfacher" Sprachstil (bitte nicht negativ bewerten!) gefällt mir gut. Deine Geschichte ist leicht und fließend zu lesen und macht Lust auf mehr.

Was den Zufall - oder die Häufigkeit - betrifft ... aus eigener Erfahrung kann ich sagen, diese Synchros treten häufiger auf, als man denkt - und sie haben einen merkwürdigen Sinn für Humor. :lol:

Ach, und Kontakte zum Jenseits ... wo fängt das Jenseits denn an? ;)

Liebe Grüße
Tyra

 

Liebe Tyra,

danke für Dein Feedback! Freut mich, wenn den Leuten meine Stories gefallen. Ich stehe übrigens auch auf Magie & Mystic …

Lg,
catlucy

 

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