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Magnolien und heisse Schokolade
Die Magnolien sind wunderschön, er hat mir wirklich nicht zuviel versprochen. In voller Blüte schon, weiss und graurosa, gross, leuchtend und opulent, zwischen all den anderen noch kahlen Bäumen stehend.
Ich wusste gar nicht, dass er sich noch daran erinnern konnte, wie ich letztes Jahr an einem sonnigen Frühlingstag von Magnolien geschwärmt hatte. Wir waren im Park spazieren, als wir an diesem kleinen, blühenden Baum vorbeikamen und ich ihm von meiner Begeisterung für Magnolien erzählte. So setzten wir uns hin, unter den Baum. Er erzählte mir, dass im Süden, am Lago Maggiore, die Magnolien noch viel prächtiger seien als auf der Alpennordseite, und dass er mich einmal dorthin mitnehmen wollte, wenn sie mir so gefielen.
Jetzt, als Fabian sein Versprechen einlöst, ist der Himmel über uns nicht azurblau wie an jenem Tag, sondern grau und wolkenverhangen. Trotz des Regens gefallen mir die blassrosa Magnolien noch besser als diejenigen im Park unseres Städtchens. Ich zupfe eine nasse Blüte ab und stecke sie mir ins Haar. Fabian ruft sofort, ich solle so stehen bleiben und holt seine Spiegelreflexkamera aus seinem Rucksack hervor.
„Deine Jacke passt farblich hervorragend zu den Magnolien, lass mich ein paar Fotos machen! “
Fabian, der Künstler. Ich muss grinsen, als er in die Knie geht und mich durch den Sucher fixiert. Er dreht am Objektiv, misst die Belichtung, wählt die richtige Blende. Mehrmals wechselt er die Perspektive, bevor er mich abknipst. Das Prozedere wiederholt sich aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln.
„Bist du endlich fertig?“, frage ich halb belustigt, halb ungeduldig.
„Eins, ein letztes noch, okay?“, bettelt er und lächelt unwiderstehlich. Ich seufze und wechsle meine Pose.
„Was machst du eigentlich mit all diesen Fotos von mir? Hängst du sie über dein Bett auf oder klebst du sie in Alben ein? Ich meine, irgendwo musst du sie doch aufbewahren.“
Fabian murmelt etwas Unverständliches und errötet.
„Oh, lass mich raten, du hängst sie über dem Bett auf, nicht?“, scherze ich. Fabian nimmt es aber ernst.
„Also, eigentlich klebe ich sie in ein Album, aber können wir das Thema lassen?“, erwidert er ein wenig verärgert und beschämt. Ich habe ihn wohl gerade an einem wunden Punkt erwischt und bereue sofort, was ich gesagt habe. Er fummelt an seiner Kamera herum, um nicht mich anzusehen. Vermutlich ist er noch immer in mich verknallt, wie damals. Er tut mir leid. Ich mag ihn wirklich, aber mehr nicht. Wir haben uns vor mehr als einem halben Jahr getrennt, als Freunde, und wir verstehen uns immer noch sehr gut.
Nach dem Gymnasium ist er an die Kunstschule, ich an die Uni. In zwei verschiedene Städte sind wir gezogen, haben uns aber zwischendurch E-Mails und in den Ferien Postkarten geschrieben. Schon seit einer Weile hatte ich nichts mehr von ihm gehört, bis er vor zwei Tagen angerufen hat. Aus heiterem Himmel fragte er mich, ob ich mit ihm ins Tessin an den Lago Maggiore kommen wolle. Er war schon immer so spontan gewesen, was mich manchmal an ihm nervte, aber ich habe zugesagt. Ich weiss nicht einmal, weshalb, vielleicht, weil er mich so lieb gefragt hat. Er ist ein sanfter Typ, so liebenswürdig und einfühlsam. Damit konnte und kann er mich schnell um den Finger wickeln. Heute Morgen hat er mich am Bahnhof abgeholt und ins Ferienhaus seiner Eltern gefahren. Sein Vater ist Chef einer Firma, die Computerteile herstellt, daher kein Wunder, dass sie sich solch eine Liegenschaft, ein umgebautes Weingut am Lago Maggiore, leisten können.
Im Garten der mediterranen Villa – Ferienhaus wäre eine masslose Untertreibung – stehen nun diese schönen Magnolien, neben geradezu mickrig wirkenden Rhododendren. Aber vom Inneren bekomme ich erst einmal gar nichts zu Gesicht, denn Fabian nimmt mir die Tasche ab, stellt sie in den Eingang und schliesst die Türe. Ich stehe verwirrt auf dem sauber gerechten Kiesweg.
„Was ist denn?“, frage ich.
Er grinst. „Überraschung. Wir machen einen kleinen Ausflug!“
„Wohin denn?“
„Du wirst schon sehen.“
Als er das Auto endlich parkiert, habe ich die Orientierung bereits völlig verloren. Zuerst sind wir am See entlang gefahren, dann in die Berge abgebogen und auf kurvenreichen Strassen durch kleine Dörfer getourt. Weisse Ortstafeln ziehen am Fenster vorbei, Suino, Sessa, Bombinasco, Nerocco, Novaggio... vorbei an Bergkirchen und Rebhängen. Edelkastanien säumen den Weg. Die blaugrauen Wolken haben sich ein bisschen aufgelöst, aber nur schwach. Weit entfernt ist kurz ein Stück hellblauer Himmel zu sehen, der jedoch bald wieder verschwindet. Vereinzelte Nebelschleier schleichen die bewaldeten Berghänge hinauf. Immerhin, es regnet nicht mehr.
„Findest du den Malcantone nicht auch schön?“, meint Fabian. „Ich liebe diese Dörfer.“
Ich nicke nur. Mir ist schwindlig von den vielen Kurven, doch ich möchte ihm die Freude nicht verderben, er meint es ja gut, und die Landschaft ist tatsächlich schön, nicht grossartig, aber urtümlich und unberührt irgendwie, nostalgisch. Kleine Gassen, schräge Treppen, windschiefe Rebhäuschen, Halbruinen und abbröckelnder Putz müssen für eine Künstlerseele wie ihn eine wahre Augenweide sein.
Wir steigen aus. Fabian blickt etwas skeptisch in den Himmel hinauf. Es ist noch kühl, auf den höchsten Gipfeln des Alpenvorgebirges liegt frisch gefallener Schnee.
„Wir sollten lieber einen Schirm mitnehmen.“
„Ach, ich habe doch meine Regenjacke an, das wird reichen.“
„Trotzdem“, sagt er und kramt aus dem Kofferraum einen grossen Schirm hervor. Er schlägt die Richtung ein, in der hässliche Neubauten und Fabriken stehen. Ich verstehe seine Absicht nicht, aber ich folge ihm neugierig. Nach wenigen hundert Metern beginnt es zu tropfen, worauf ich die Kapuze meiner Jacke über den Kopf stülpe.
„Fabian, kannst du mir nicht endlich verraten, wohin du mich schleppst?“
„Hmm, also gut. Wenn du’s unbedingt wissen willst, sag ich’s dir. Ich bin nämlich ein hinterhältiger und abgrundtief böser Raubritter, der hilflose Prinzessinnen auf einen einsamen Berg entführt, wo ein fürchterlicher Drache den einzigen Zugang bewacht.“
„Muss ich kreischen oder weglaufen?“
„Weglaufen nützt nichts, kreischen auch nicht.“, Er grinst und packt mich. „Du entkommst mir nicht!“, flüstert er mir theatralisch ins Ohr und zieht mich an ihn heran. Im ersten Augenblick ist mir seine Nähe unangenehm, fremd beinahe, ich will ihn abweisen. Wie lange war ich ihm schon nicht mehr so nahe gewesen? Aber ich rieche seinen vertrauten Duft und ergebe mich. Seine Haare kitzeln und ich muss kichern.
„Mensch, Julia, hast du keinen Sinn für Dramatik?“ Er versucht, einen ernsten Ton in die Stimme zu legen und verdreht die Augen. Ich drücke ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
„Zufrieden, böser Ritter?“
„Naja, immerhin werde ich meinem Drachen sagen, er soll dich nicht gleich auffressen.“
„Wie liebenswürdig.“
Der Regen wird immer stärker. Irgendwann bin ich unter seinen Schirm gesprungen und habe mich bei ihm eingehakt. Die Häuser sind nun verschwunden und einem Wald gewichen. Die weissen Buschwindröschen stechen aus dem zaghaft spriessenden Grün hervor. Neben uns erhebt sich ein steiler Berg mit nassen Felswänden, Wasser rinnt in Bächen herab. Neben der Strasse ist das Ufer eines Sees, auf dem sich durch den Regen kleine Spitzchen bilden. Ein Schwan landet auf dem Wasser, hinter dem Regenvorhang kaum noch erkennbar, Wellen rauschen zur Seite. Ganz in Ufernähe taucht ein bunter Wasservogel unter.
„Ein Haubentaucher! So nah! Und ich habe die Kamera nicht dabei!“ Fabian ist sichtlich enttäuscht.
„Aber Regen würde deiner Kamera sicher nicht gut tun, oder?“, versuche ich in zu aufmuntern.
„Hast Recht.“
„Was ist das denn für ein See? Oder willst du es mit immer noch nicht sagen?“
„Das ist ein Teil des Lago di Lugano, und das“ – er zeigt auf den Berg – „ist der Monte Caslano.“
„Und unser Ziel?“
„Der Weg ist das Ziel.“
Mittlerweile haben sich meine Hosen vollkommen mit Wasser aufgesaugt, ganz zu schweigen von den mit Schlamm überzogenen Schuhen. Fluchen hilft sowieso nichts, sage ich mir, als ich in eine tiefe Pfütze trete. Fabian murmelt und wünscht sich das Wetter zur Hölle. Wir folgen dem kleinen steinigen Pfad, in dem sich das Wasser sammelt. Die schroffe Bergwand ist bei Sonnenschein sicher sehr eindrücklich, die Aussicht auf den See und die kleinen Buchten hinunter wahrscheinlich auch, aber jetzt ist das italienische Ufer auf der anderen Seite nur schemenhaft sichtbar und ich schaue momentan mehr auf den Boden, um nicht in eine weitere Pfütze zu steigen.
„Entschuldige, Julia. Ich wollte dich mit einem schönen Frühlingsspaziergang überraschen, aber...“
Er schüttelt das Wasser ab, welches sich auf dem Schirm gesammelt hat. Nasse Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht. Missmutig rümpft er seine Nase und kickt einen Tannenzapfen weg. Ich muss plötzlich lachen, lauthals lachen, weil wir hier draussen im Regen stehen. Mitten im strömenden Regen auf einem kleinen Wanderweg. Völlig durchnässt. Mitten im Frühling, auf dem Monte Caslano, unter kahlen Bäumen. Absurd irgendwie, absurd, dass wir, statt im Trockenen zu sitzen, uns freiwillig verregnen lassen. Fabian schaut mich schräg an.
„Alles in Ordnung?“
Ich versuche ihm es zu erklären. Er seufzt.
„Ja, ich gebe zu, es war nicht die brillanteste Idee von mir, okay.“
„Schon gut, ich meine es nicht so, es ist einfach eine derart absurde Situation, dass ich lachen musste. Passiert dir das nie?“
„Nicht so oft wie dir, wie es scheint.“ Er macht eine Pause. „Aber es stimmt, es ist absurd.“ Er grinst nur, macht einen Schritt vor und rutscht auf dem glitschigen Stein aus. Klatschend landet er mit dem Gesäss in der nächsten Pfütze. Einen Moment lang schweigen wir und schauen uns an. Dann brechen wir gleichzeitig in Gelächter aus. Wir krümmen uns vor Lachen, wodurch alles noch grotesker wird. Kaum haben wir uns halbwegs beruhigt, als Fabian den Schirm zusammen klappt und ihn in hohem Bogen wegwirft.
„Den brauchen wir nicht mehr, ich bin sowieso bis auf die Unterhosen nass.“
„Bis auf die Unterhosen?“ Ich pruste noch einmal los.
Die letzen hundert Meter zum Auto sprinten wir, nachdem wir den Monte Caslano umrundet haben. Ich bin Fabian voraus, aber am Ende holt er mich ein.
„Dem bösen Raubritter entkommt keiner!“
„Ich ergebe mich! Nimm mich in deiner Kutsche mit!“ Er lacht.
„Etwas dagegen, wenn ich die Hosen ausziehe? Sie sind klatschnass.“ Ich warte seine Antwort gar nicht ab und verrenke mich so, dass ich sie abziehen kann. Er schielt zu mir herüber.
„Also, deine schönen Beine würden mich beim Fahren zu sehr irritieren.“
Ich spiele die Empörte.
„Leg doch die Wolldecke dahinten drüber, ausserdem würdest du dich erkälten“, fügt er hinzu. Es ist tatsächlich kühler geworden.
Der Heimweg, den wir nehmen, ist viel kürzer, wir fahren auf einer Hauptstrasse zurück. Der Scheibenwischer zuckt nervös hin und her. Vor uns die roten Rücklichter anderer Autos. Fabian konzentriert sich auf die Strasse und den dichten Verkehr, ich versuche ihn nicht abzulenken und blicke schweigend aus dem Fenster.
Aus der Küche steigt der Duft warmer Milch auf. Ich sitze im Wohnzimmer, in eine dicke Decke gehüllt und blättere lustlos in einem Buch. Nach einer Weile lege ich es auf die Seite, schniefe ins Taschentuch und stelle den Fernseher an. Ein Flachbildschirm. Sie haben wirklich Geld.
Eine Soap läuft. Ach ja, neuerdings nennt man das Telenovela. Anderer Name, gleicher Unsinn. Er sagt gerade „Ich liebe dich doch!“. Sie schaut ihn mit Tränen in den Augen an, zögert und wirft sich ihm schluchzend in die Arme. Wie billig. Die Nachrichten sind auch nicht viel versprechend - ein neuer Selbstmordanschlag im Irak, ein Besuch des Aussenministers in Japan, eine neue Schönheitskönigin, das Bild eines jungen Giraffenbabys, welches sich scheu das erste Mal in der Öffentlichkeit sehen lässt.
Fabian kommt aus der Küche und rettet mich, gerade bevor ich vollständig in Missmut zu versinken drohe.
„Heisse Schokolade, das magst du doch?“
Ich huste und nehme die Tasse dankend an. „Du alter Charmeur! Mmh, schwarze Schokolade! Zartbitter!“
„Und zum Abendessen habe ich Tagliatelle mit einer Steinpilzsauce vorgesehen.“
„Du nützt alle meine Schwächen aus! Wie fies!“ Ich nehme einen kräftigen Schluck und spüre, wie die Wärme in meinen Körper zurückfliesst. Fabian schaut mich an, schaut mich einfach zufrieden an, wie ich genüsslich die heisse Schokolade trinke.
Die Flasche auf dem Tisch ist beinahe leer, zwei Weingläser daneben, das Dessert ausgelöffelt. Eine Kirchenuhr schlägt in der Ferne. Ein Uhr? Zwei Uhr? Mir ist es egal. Ich kuschle mich an Fabian, spüre seinen warmen Körper unter der Decke. Er legt seine muskulösen Arme um mich. Wir schweigen. Wir brauchen uns nichts zu sagen, wir kosten nur diesen wertvollen Moment aus, behutsam, wie man einen Schmetterling, den man gefangen hat, in der hohlen Hand betrachtet.
Fabian ist schon eingeschlummert, seine Brust hebt sich langsam und senkt sich wieder, in regelmässigen Zügen. Ich kann seinen schwachen Atem hören. Meine Augen werden feucht.
Am nächsten Morgen wache ich spät auf. Fabian hat schon das Frühstück vorbereitet. Ich habe ein schlechtes Gewissen, er hätte mich ruhig wecken können. Jetzt hat er den ganzen Abwasch alleine gemacht, das Geschirr von Gestern ist säuberlich im Schrank versorgt. Frische, duftende Buttergipfel liegen auf einem Teller, Honig und Marmelade stehen daneben.
„Gut geschlafen?“
„Ja, Danke“, nicke ich. Aber mein Nacken ist steif und in meinem Hals hat sich ein Frosch eingenistet.
„Ich mache dir einen Tee.“ Er saust in die Küche. Ich schaue auf die Uhr. Noch eineinhalb Stunden, dann fährt mein Zug los.
Abschiedsmomente, wie ich sie hasse. Was ich nicht leiden kann, sind die ach so sentimentalen Leute, die sich mit geröteten Augen hundertmal umarmen müssen, bevor sie einander loslassen. Nur um sich ein weiteres Mal umarmen zu können.
Fabian trägt mein Gepäck zum Gleis hinauf, obwohl ich es ihm abnehmen will.
„Das ist mein Rucksack, Fabian, lass mich doch.“
„Nein, du bist krank und erkältet, und zwar durch meine Schuld.“
„Lass mich wenigstens selber damit einsteigen.“
„Wenn du darauf bestehst.“
Noch fünf Minuten. Wir stehen auf dem Bahnsteig und wissen nicht was sagen. Ich bemerke, wie er mehrmals zu einem Satz ansetzen möchte und dann doch schweigt. Betreten schaue ich auf den Boden.
„Möchtest du ein Halsbonbon? Ich kauf dir eine Packung.“
„Nein, Danke. Mach dir mal meinetwegen kein Sorgen.“ Mein Husten straft Lügen. Glücklicherweise rettet mich der Zug. Der nächste Hustenanfall geht im Quietschen der Bremsen unter.
„Also, mach’s gut, Fabian.“
„Du auch, pass auf dich auf.“ Keine geröteten Augen. Das Taschentuch nur wegen meiner Erkältung. Drei flüchtige Küsschen auf die Wange. Links, rechts, links.
„Meld dich Mal wieder, wenn du daheim bist!“, ruft er mir zu, als ich einsteige. Ich finde schnell einen Platz und setze mich zu einer alten Frau mit einer dicken Lesebrille ins Abteil, die in ein Buch vertieft ist. Fabian winkt mir zu, als der Zug auch schon losfährt. Ich winke zurück.
Beim Verlassen des Bahnhofs erhasche ich einen Blick auf die Magnolien, welche zwischen den Parkreihen stehen. In wenigen Wochen wird von ihrer weissrosa Pracht nicht mehr viel zu sehen sein. Nur noch blasse, welkende Blütenblätter mit braunen Rändern, den Boden unter ihnen bedeckend. Ich werde Fabian nach den Fotos fragen.