Mahagoni-Augen
Mahagoni-Augen
Der Schein des Feuers bringt ihr Haar zum glänzen. Mahagonifarben. Vielleicht auch Kastanie, auf jeden Fall ist eine Spur Gold mit drin.
In leichten Wellen fällt es ihr über den Rücken, fast bis zur Hüfte. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie die dichten schwarzen Wimpern sich nervös hin und her bewegen. Sie verraten mir wo diese Augen, die ich jetzt nicht sehen kann, hinschauen. Erst ins Feuer, dann geradeaus in die Ferne, als hätten sie etwas entdeckt, das sie nicht mehr aufhören wollen anzusehen. Die Augen scheinen sich losgelöst von den Gedanken des Mädchens neben mir zu bewegen, als gäbe es für sie ihre eigene kleine Welt zu erkunden.
Die Lippen, von denen ich weiß, dass sie normalerweise immer ein wenig rissig sind, sehen im Licht des Feuers jetzt seltsam weich aus, genau wie ihre sonst so harten Gesichtszüge. Sie ist wunderschön. Ich sehe sie immer noch nicht direkt an, das würde sie stören. Dennoch bleibt mein Blick jetzt an ihrem Körper hängen und ich erschrecke fast ein wenig, als ich sehe, wie perfekt er geformt ist.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich in den wenigen Tagen, die wir bis jetzt zusammen verbracht haben, immer nur ihr Gesicht angeschaut habe. Instinktiv schüttele ich den Kopf, das passt nicht zu mir. Normalerweise schaue ich Mädchen nicht zuerst ins Gesicht. Die kleine Bewegung meines Kopfes ist ihr nicht entgangen. Sie schaut mich an. Jeder andere hätte jetzt gelächelt, sie tut es nicht. Ernst sehen mich die zwei großen Augen an. Mahagoni-Gold, wie ihre Haare. Diese Augen machen mir fast ein wenig Angst, unbehaglich rutsche ich unter dem durchdringenden Blick auf der kleinen Holzbank ein Stückchen von ihr weg.
Diesmal verzieht sich ihr Mund tatsächlich zu einem kleinen Lächeln, aber die Mahagoni-Augen lächeln nicht mit.
Ich kann nicht anders, ich muss sie einfach fragen. „Was ist los“? flüstere ich und wundere mich darüber, wie unsicher meine sonst so forsche Stimme klingt, fast ein wenig ängstlich.
Sie weiß, was ich wissen will. Sie ist die einzige in unserer Gruppe, die nicht spricht. Die nur mit ja und nein antwortet und trotzdem niemals unfreundlich wirkt. Jeder von uns hat den Schmerz in ihrem Blick bemerkt, bei jeder ihrer Bewegungen scheint sie vor Schmerz zusammen zu zucken. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser geheimnisvollen Fremden. Und trotzdem – oder gerade deshalb – fühlt sich mein Innerstes auf eine eigenartige Weise zu ihr hingezogen und bringt meinen Körper dazu, immer wieder ihre Nähe zu suchen.
Das ist auch der Grund, warum ich heute wach geblieben bin und mit ihr am Feuer sitze, während alle anderen schon schlafen. Sie sitzt jede Nacht allein an der Feuerstelle. Wenn sich alle anderen zum Schlafen in ihre Zelte legen, sitzt sie hier und wird eins mit der Welt um sie herum. Mit dem Feuer, der Dunkelheit, dem Regen, eins mit der Nacht.
Ich sitze still und bereue meine Frage fast schon wieder. Ihr Blick ist wieder in die Ferne gerichtet und ich seufze leise. Mein Blick huscht wieder zu ihrem Gesicht. Die sonnengebräunte Haut über ihren Wangenknochen strafft sich ein wenig als sie plötzlich die Lippen bewegt und sich leise räuspert. Wieder schaut sie mir direkt in die Augen und diesmal kann ich in ihrem Mahagoni-Blick noch etwas anderes als Schmerz erkennen. Eine leise Hoffnung, aber noch viel stärker eine Sehnsucht, die mich mit solcher Stärke trifft, dass ich schlucken muss. In diesem Moment weiß ich, dass sie meine Gefühle spürt. Die tiefsten Winkel meiner Seele öffnen sich ihr, ohne dass ich ihnen die Erlaubnis zum Öffnen gegeben hätte.
Ich senke den Blick, aber es ist zu spät. Ich hebe meinen Kopf wieder und erwidere ihren Blick diesmal ohne Unsicherheit. Immer noch erkenne ich diese Sehnsucht in ihren Augen.
Wieder öffnen sich ihre Lippen, die immer noch seltsam weich aussehen und sie beginnt zu erzählen. Sie erzählt mir ihre Geschichte. Zunächst emotionslos, leise, so dass ich mich anstrengen muss, sie zu verstehen.
„Ich war acht als meine Mutter uns verließ. Es war furchtbar, aber mein Vater war für uns da.
Ich vermisste die Liebe meiner Mutter. Ich vermisste es, von ihr in den Arm genommen zu werden und dabei ins Ohr geflüstert zu bekommen, dass sie mich lieb hat.
Aber ich war stark, ich wusste dass der Schmerz vorübergehen würde. Ich überdeckte ihn mit Wut. Ich war wütend auf meine Mutter, dass sie uns einfach so im Stich gelassen hatte und diese Wut half mir, die Leere in meinem Inneren zu füllen.
Mein Vater arbeitete hart, er tat alles, um mir und meinem Bruder das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ich kümmerte mich um meinen kleinen Bruder. Liebe gab es bei uns nicht mehr, sie hätte uns zu stark an Mutter erinnert.“
Sie macht eine kurze Pause. Ihr Blick verliert sich wieder in der Weite und bleibt irgendwo hängen. Ich warte. Ich weiß, dass sie weitererzählen wird und verspüre keine Ungeduld. Dieser Moment ist zu schön, um zerstört zu werden. Es tut ihr weh, zu sprechen und doch scheint auch sie die Harmonie dieser Nacht zu spüren, ihr Blick wird weicher. Sie schaut mich kurz an, wie um mir zu verstehen zu geben, dass sie weitersprechen will. Ich reagiere nicht, sie weiß auch so, dass ich ihr zuhöre.
„Drei Jahre lebten wir so vor uns hin, bis mein Vater eine andere Frau kennen lernte. Ich hasste sie. Sie war niemals unfreundlich zu mir, aber sie hasste mich auch. Schon als ich sie das erste Mal sah, wusste ich, dass sie siegen würde. Mein Vater hatte den Arm um sie gelegt, als er sie uns vorstellte und ihr Lächeln war Besitz ergreifender als alles andere, was ich je gesehen hatte. Ich versuchte gar nicht erst zu kämpfen. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, wer sich zuerst zurückgezogen hat: ich oder mein Vater. Jedenfalls war ich es, die das Band zwischen uns, das immer dünner geworden war, schließlich komplett zerriss. Ich nahm meinen kleinen Bruder und lief weg.“
Wieder macht sie eine kleine Pause. Überrascht beobachte ich, wie ihr Atem ein wenig schneller geht und sie beinahe hörbar schluckt. Sie hat sich schnell wieder im Griff, noch bevor ich wirklich registriert habe, dass dieses sonst so beherrschte Mädchen sich für einen kurzen Moment von ihren Emotionen aus der Fassung bringen ließ.
„Ich war selbst noch ein Kind. Ich wusste nicht, wo ich etwas zu essen für uns beide herbekam und wo wir schlafen konnten. Aber ich hatte Glück: die Leute hatten Mitleid mit zwei elternlosen Kindern und so schlugen wir uns mit Betteln durch. Das Schlimmste war nicht einmal, dass wir ständig um unser Leben kämpften. Das Schlimmste war, dass ich so furchtbar allein mit meinen Ängsten war. Mein Bruder vertraute mir mit seinen sechs Jahren, ihm machte es beinahe Spaß, die Leute um ein wenig Geld zu bitten, aber ich hatte niemanden mehr. Niemand war da, der verstand, wie schlecht es mir ging. Niemand, der mir zuhörte.
Und dann traf ich diesen Jungen. Er war achtzehn, also sieben Jahre älter als ich und er war für mich da. Er hörte sich meine Geschichte an und ließ mich bei sich schlafen. Er wohnte mit ein paar anderen Jugendlichen in einem alten, leer stehenden Haus. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Angenommensein, dass es mir egal war, dass seine Zärtlichkeiten nicht bei Umarmungen und Händchen halten aufhörten. Ich hatte zwar ein wenig Angst vor den Nächten, weil es mir weh tat, was er mit mir machte, aber ich fand, dass ich ihm das schuldig war und hielt einfach still.“
Ich schaudere bei der Vorstellung, dass diesem wunderbaren Körper Gewalt angetan worden war und rutsche unwillkürlich wieder ein kleines Stück näher zu ihr hin. Es kommt mir albern vor, aber ich habe den starken Drang, sie zu beschützen.
„Irgendwann tat es nicht mehr weh. Es fühlte sich immer noch falsch an, aber ich spürte keinen Schmerz mehr. Nur mein Inneres schrie jedes Mal vor Schmerzen auf, wenn er kam. Ich war noch nicht bereit dazu, ich war noch viel zu jung.
Ich liebte diesen Jungen auf meine eigene Weise. Er war gut zu meinem Bruder und auch gut zu mir. Vielleicht hätte er mich sogar nachts in Ruhe gelassen, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber ich tat es nicht. Die Angst, wieder alleine zu sein, war größer als der Schmerz in meinem Inneren. Er gab mir und meinem Bruder zu essen, ohne etwas dafür zu verlangen. Das ging vielleicht zwei Jahre so. Ich weiß es nicht mehr genau, Zeit spielte keine Rolle in diesem Leben. Und dann kam der Tag…“ Sie bricht ihre Erzählung ab, schaut jetzt zum ersten Mal nicht in die Ferne, sondern auf ihre Knie. Sie setzt wieder zum Sprechen an „er kam zu mir…“ ihre Stimme versiegt. Ihre Schultern heben und senken sich jetzt unregelmäßig und immer schneller. Wie eine Erklärung für dieses Zucken bahnt sich eine Träne ihren Weg aus den Mahagoni-Augen und rollt über ihre Wange. Ich verspüre den Drang meine Hand zu heben und diese Träne vorsichtig wegzuwischen, merke aber gleichzeitig, dass sie das nicht wollen würde. Also bleibe ich einfach sitzen und sehe mit an, wie weitere Tränen über ihr Gesicht rollen. Sie weint stumm. Kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Ich sitze einfach nur da und warte. Es ist mir nicht unangenehm oder peinlich, sie weinen zu sehen. Ich weiß, dass es gut ist. Wer weint, der stellt sich seinem Schmerz und lässt ihn zu. Wer weint, der will den Schmerz loswerden. Ja, es ist gut, dass sie weint.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen bis sie wieder anfängt zu erzählen.
„Es war ein Sommertag. Er kam zu mir und sagte, ich müsste mein Geld jetzt selber verdienen, er könnte nicht mehr für mich und meinen Bruder zahlen. Ich nickte nur, dazu war ich bereit. Er nahm mich an der Schulter und führte mich durch die Stadt. Seine Berührung war schön. Es war nicht wie sonst, wenn er mich berührte. Er führte mich mit einer Hand auf meiner Schulter, es kam mir vor, als läge sie beinahe zärtlich dort.
Die Sonne schien diese Minuten perfekt zu machen. Später kam mir der helle Schein wie blanker Hohn vor. Wir liefen vielleicht zehn Minuten, bis wir an ein Haus kamen. Das Haus war wohl ziemlich alt, denn die weiße Farbe war schon überall abgeblättert. Ich weiß noch, wie ich mich darüber wunderte, wie hässlich es aussah. Er klingelte und als die Tür aufging, schob er mich in dieses fremde Haus hinein und war auf einmal weg. Ich wollte mich umdrehen und ihm hinterher laufen, oder ihn wenigstens fragen, warum er mich hier alleine ließ, aber da war plötzlich ein Mann bei mir. Er schaute mich an und grinste. Er sah aus wie ein wildes Tier. Ich hatte furchtbare Angst. Was dann geschah, kannst du dir denken.“
Die schwarzen Wimpern senken sich über ihre Augen. Sie schweigt. Sie möchte nicht weiter erzählen, aber ich weiß, dass es ihr gut tun wird. Also zwinge ich sie dazu. „Und danach? Hast du…ihn verlassen? Bist du abgehauen mit deinem Bruder?“
Ihr Mund verzieht sich wieder zu einem Lächeln, diesmal ist es spöttisch und verbittert zugleich. „Nein, ich konnte nicht. Von diesem Tag an war ich fast jede Nacht bei diesem Mann oder auch bei anderen Männern. Ich weiß nicht, was mich davon abhielt, einfach fortzulaufen. Vielleicht war es die Angst vor dem Alleinsein, vielleicht sah ich dieses grausame Leben als gerechte Strafe für mein Versagen an. Worin ich versagt hatte, wusste ich selber nicht, aber irgendetwas musste ich ja falsch gemacht haben, sonst würde Gott mich nicht so hart bestrafen. Und vor seinem Schicksal weglaufen kann keiner.“ „So ist er nicht!“ sage ich leise, aber bestimmt.
Sie nickt leicht.
„Irgendwann ist mein Bruder dann abgehauen. Er war zehn Jahre alt. Ich weiß bis heute nicht, ob er noch lebt. Da hielt ich es nicht mehr aus. Sein Verschwinden tat mir weh, aber es rettete mich. Jetzt musste ich mich nicht mehr darum kümmern, dass er etwas zu essen bekam. Ich war nur noch für mich selbst verantwortlich und ich verließ…ihn. Ich schlug mich durch. Ich bettelte, ich putzte, erledigte kleine Jobs. Wenn ich gar nichts mehr hatte, verkaufte ich meinen Körper. Ich war sowieso schon kaputt.“
Hier ist ihre Geschichte zu Ende. Ich spüre, dass jetzt alles gesagt ist, ich will nur noch eine Sache wissen. „Und wie bist du dann hierhergekommen?
„Es war einer dieser Tage, an dem ich nichts zu essen hatte und mich darauf vorbereitete, einen Mann anzusprechen. Das tat ich dann schließlich auch und der Zufall wollte es, das dieser Mann Trekkingtouren für Jugendliche organisierte.“ Sie weist mit dem Kinn auf das Zelt in einiger Entfernung, in dem unser Leiter schläft. „Er sagte, er bräuchte noch eine Mitarbeiterin und ihm war es egal, dass ich jung war, dass ich mein Geld verdiente, indem ich meinen Körper verkaufte und dass ich wahrscheinlich auch noch bestialisch stank.“ Aus ihrer Kehle kommt ein Laut, der vermutlich als ein Lachen zu deuten ist. Ich weiß es nicht, ich habe sie noch nie lachen hören. „Vielleicht bot er mir auch genau deshalb diesen Job an. Ich bin ihm dankbar. Ich habe meine Ruhe, muss nicht ums Überleben kämpfen und das Leben geht weiter.“ Sie zuckt mit den Schultern, wie um meinen Gedanken, dass sie dieses Leben nicht ausfüllt, zu unterstreichen. Sie ist zufrieden, aber sie ist nicht glücklich. Ich höre, wie sie tief durchatmet. Es muss ihr ganz schön weh getan haben, diese kleine Reise in die Vergangenheit zu machen, die sie so erfolgreich verdrängt hatte.
In mir entsteht das Verlangen, sie glücklich zu machen. Ich weiß nicht wie ich das anstellen soll, aber ich habe das Gefühl, dass ich nie wieder glücklich sein kann, wenn sie es nicht ist. Ich teile ihren Schmerz, fühle ihn genauso, wie sie ihn fühlt. Ich sehne mich danach, bei ihr zu bleiben, sie nie wieder zu verlassen. Als ich sie anschaue, sieht sie nicht wie erwartet in die Ferne, sondern in mein Gesicht. Sie hat den Kampf beobachtet, der in meinem Inneren tobt und wieder habe ich das unangenehme Gefühl, dass sie bis auf den Grund meiner Seele sieht.
Diesmal bin ich es, der tief durchatmet. Ich hebe meine Hand und nehme ihre, die auf ihrem Knie liegt. Ich zwinge mich, ihr in die Augen zu sehen und ein Schauer des Glücks läuft mir über den Rücken, als ich sehe, dass sie nun nicht mehr Mahagonifarben aussehen, sondern golden leuchten. Es ist ein warmes, freundliches Gold. Ein Gold, das zu ihren hochgezogenen Mundwinkeln passt und ihrem Gesicht das erste Mal, seit ich sie kenne, einen Ausdruck des Friedens gibt. In diesem einen kleinen Moment ist sie glücklich.