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- 24.04.2017
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Maikäfer
Es geschah an diesem sonderbaren Tag im Mai, als es plötzlich an seiner Haustüre klingelte. Er hatte eigentlich keinen Besuch erwartet und deswegen wunderte es ihn doch sehr, wer um diese Zeit bei ihm vor der Haustüre stehen und die Klingel schellen könnte. Vor seiner Türe stand bloß ein junges Mädchen, sie war gerade einmal so groß, dass sie die Klingel drücken konnte und so stellte sie sich sogleich als seine Tochter vor. Louisa, hieß die Kleine, die soeben durch die Türe marschierte, an dem Flur vorbei und direkt ins Wohnzimmer gestiefelt war, sie war sieben, wohnte bei ihrer Mutter einer gewissen Anna Schönfeld und soll vor genau sieben Jahren und elfeinhalb Monaten gezeugt worden sein. An eine Anna konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, auch zu dem Namen Schönfeld fehlte ihm jegliche Erinnerung, ebenso, dass er vor gut siebeneinhalb Jahren in einer Beziehung steckte, erschien ihm nun doch schon zu lange her, als dass er sich daran erinnerte. Ihre Mutter war da natürlich anderer Meinung gewesen, so hatte sie ihrer Tochter von ihm erzählt und war sich zu einhundert Prozent sicher, dass das kleine Mädchen seine Tochter sei, sowie sie damals mit Louisa schwanger wurde. So hatte sich das kleine Mädchen also von Altherrendorf, wo sie lebte auf den Weg gemacht, runter ins Niemandstal, um ihren Leiblichen Vater persönlich einmal kennenzulernen. Das waren zwar mit dem Auto nur zwei Stunden, doch scheinbar war sie mit dem Schnellzug gereist, was ihn nur noch mehr verwunderte, da ihm eine Siebenjährige ganz alleine in einem Schnellzug doch seltsam befremdlich vorkam. Als sie sich in seiner Wohnung umschaute und gerade die zahlreichen Urlaubsfotos betrachtete, die er vor Jahren geschossen hatte, als er unten an der Südsee seine Zeit verbracht hatte, erinnerte ihn das Mädchen mit ihrem kleinen rosaroten Rucksack und den knallbunten Stiefeln an irgendwen, doch es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen, an wen sie ihn so sehr erinnerte. So schlenderte die Kleine weiter an dem großen Bücherregal vorbei und ließ sich auf die Couch plumpsen, von wo aus sie ihn mit ihren neugierigen Augen musterte, dann schielte sie kurz rüber zum Fernseher auf dem irgendeine Dokumentation über Paviane lief und wieder zu ihm hinüber, um dann doch etwas verlegen zu lächeln. Er wusste wirklich nicht so recht, was er nunmehr mit ihr anfangen sollte, nun da sie durch die Haustüre spaziert, schon in seiner Wohnung war und auf der Couch saß, um ihre Zeit nun mit ihm zu verbringen. So bot er ihr erst einmal etwas zu trinken an, sie wollte eine Schoki, was übersetzt so viel bedeutete wie einen heißen Kakao, doch Kakao hatte er nicht, weshalb er ihr ein Glas kühlen Orangensaft einschenke, um sich dann etwas weiter weg, neben sie auf die Couch zu setzen, ihr das Glas mit den Saft reichte, welches sie sogleich zum Mund führte, um daraus mit kräftigen Zügen zu trinken. Das Kind, welches aber nicht so genannt werden wollte, da es schon stolze acht Jahre alt war, hatte ihn mit seiner Anwesenheit völlig überrumpelt.
Ihre Mutter wusste nicht, dass sich ihre Tochter bei ihm aufhielt, also meinte Louisa bloß, Anna würde sie sowieso nicht zu ihm lassen, da sie ihn nicht sonderlich gut leiden konnte. Im Grunde schien sie ihn sogar regelrecht zu verachten, so wie sie über ihn gesprochen hatte. Weswegen das Mädchen auch nichts von ihrer spontanen Reise erzählt hatte. Er wurde aus der Kleinen einfach nicht schlau, wie sie überhaupt an seine Adresse gelangt war, wollte sie ihm nicht verraten, doch wenn er genauer darüber nachdachte, so schwer war es heutzutage nicht an die Adresse von jemanden zu kommen, solange man wusste nach wem man suchte. So hockten sie schweigend nebeneinander und er wusste immer noch nicht so recht, was er nun, da sie einander kennengelernt hatten, überhaupt von sich erzählen sollte. Doch das machte ihr scheinbar nichts aus, schien das Mädchen schon anderweitig beschäftigt, kramte in dem rosaroten Rucksack herum und zog Mr. Beetlebum, ihren riesigen Plüschkäfer, der einem Maikäfer ziemlich ähnlich sah aus dem Rucksack. Das Ding schaute ihn mit seinen großen Augen freudig an und hatte die gesamte Zeit in ihrem Rucksack ausharren müssen, sichtlich erfreut ihn wohl auf zu sehen, hielt sie ihn nun fest umklammert in ihren Armen. Als er sie fragte, ob ihr Käfer schon öfters verreist sei, grinste sie ihn bloß schelmisch von der Seite an und meinte dann, sie seien schon zusammen an der Costa de Sol gewesen, dort hät ten sie gemeinsam den Sommer über verbracht. Bis ins Niemandstal war es da ja bloß ein Katzensprung. Außer an der Südsee war er noch nicht viel in der Welt herumgekommen. Sie erzählte, ihre Mutter sei mit ihr, als sie noch kleiner war, immer hoch ans Meer gefahren, um dort die Tage zu verbringen. Die Kleine liebte das Meer, wenn sie groß ist, sagte sie sichtlich stolz, wollte sie Meeresbiologin werden und den weiten Ozean erforschen. Was er so mache, fragte sie ihn eher beiläufig. So erzählte er von seiner Anstellung in der Papierfabrik, die allerlei verschiedenes Papier herstellte, von schlichtem Kopierpapier, glänzendem sowie matten Tonpapier bis hin zu hauchdünnem Papier, welches sie bestimmt schon einmal in den alten Gebetbüchern gesehen hatte. Sie glaubte nicht an Gott und interessierte sich noch weniger für Papier, manchmal kritzelte sie darauf herum, ansonsten lernte sie darauf bloß das Schreiben und Rechnen. Sie ging in die zweite Klasse und lernte scheinbar gerade das kleine Einmaleins, doch wie er, hatte auch sie so ihre Schwierigkeiten mit dem Kopfrechnen. Jetzt fiel ihm auch zum ersten Mal die kleinen Ähnlichkeiten an ihr auf, die sie mit ihm hatte, so hatte sie tatsächlich seine Augen, auch das köterblonde Haar glich dem seinem doch sehr, wie er, hatte sie ebenso an den Wangen winzige Muttermale und wie er, grinste sie immer schelmisch, sobald sie etwas amüsierte. Das Mädchen hielt noch immer ihren Plüschkäfer umklammert als sich gerade im Fernseher die Affen über die Bäume hinweg geschwungen hatten und nun die Totale auf eine junge Affenmutter zeigte, die gerade ihr Kleines säugte, in dem Augenblick fragte er sich, ob es nicht doch besser ihrer Mutter Bescheid geben sollte, damit sie zumindest wusste, wo ihre Tochter abgeblieben war. Nicht das auch noch die Polizei vor seiner Türe stand und ihn wegen möglicher Kindesentführung verhaftete, als sich das Mädchen dann ebenfalls zu langweilen begann, bot er ihr an er könne ihre Mutter kontaktieren, damit sie die Kleine abholen kommt, schließlich mache sich ihre Mutter sicher schon Sorgen um ihre kleine Tochter. Louisa schaute zu ihm herüber und meinte, sie sei auch seine Tochter, was er zwar bekräftigte, dann aber doch lieber wieder versuchte, sie doch davon zu überzeugen, dass es besser wäre, sie würde zurück zu ihrer Mutter gehen. Doch das Mädchen schien seine Manipulationsversuche zu durchschauen und entgegnete ihm bloß, sie hätte mit ihrem Neuen, einem gewissen André genug um die Ohren, da sei ihre Abwesenheit wohl zweitrangig. André schien bei dem Mädchen nicht sonderlich beliebt, so sprach sie ihn immerzu mit seinem Vornamen an, wenn sie über ihn redete und meinte kühl und eher abfällig, auch André sei nur ein weiterer Kerl an der Seite ihrer Mutter, der vergeblich versuchte zu ihrer Tochter irgendeine Beziehung einzugehen, um sich mit dem Kind seiner Freundin zu engagieren.
Dieser André, so klang es, schien noch weniger mit der kleinen zurechtzukommen als er es selbst anscheinend tat. Und wie sie da so saß, den Plüschkäfer schon fast erdrückt mit schmollendem Blick, weil er noch immer versuchte sie davon zu überzeugen es sei besser sie würde zu ihrer Mutter und diesem André zurückkehren, da war er mit der gesamten Situation sichtlich überfordert. Sowie er zum Hörer griff und die Nummer wählte, die in ihrem Rucksack stand, machte sich der gesamte Unmut in dem kleinen Mädchen breit und wie sich die genervte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung meldete, wurde ihm auf einen Schlag bewusst mit wem er gerade telefonierte. Louises Mutter hörte sich durch den Hörer noch kühler und gereizter an, als er ihre Stimme in Erinnerung gehabt hatte, zudem schwieg sie die meiste Zeit über, sowie er versuchte, die Situation mit ihrer Tochter und deren plötzliches Auftauchen zu erklären. Als sie ihn dann endlich unterbrach, meinte sie bloß, André würde in anderthalb Stunden vorbeikommen und sie abholen kommen, dann legte sie auch schon auf, ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren.
Irgendwie brach es ihm das Herz das kleine schmollende Mädchen auf der Couch zu sehen, das ihr Gesicht in dem Plüschkäfer versank und ihn mit ihren stechenden Augen finster musterte und zu wissen, er würde das Richtige tun, trotzdem fühlte sich die Entscheidung, die er getroffen hatte in diesem Augenblick keineswegs richtig an, seine eigene Tochter diesem völlig Fremden zu überlassen, der bald schon vor seiner Haustüre stehen und sie abholen kommen würde, sowie die Kleine ins Auto setzte, um mit ihr aus dem Niemandstal zu verschwinden in Richtung Altherrendorf.
Schönfeld, der Name kam ihm auch jetzt, wo er wusste, wer diese Frau war, mit der er vor etwa acht Jahren verkehrte, nicht vertraut vor. Hatte sie in der Zwischenzeit geheiratet oder hatte sie damals bezüglich ihres Namens vielleicht ebenfalls gelogen? Ganz davon abgesehen, dass sie ihm nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt, geschweige denn ihm von ihrer gemeinsamen Tochter erzählt hatte. Sie hatte sich nach der kurzen Beziehung, die er mit ihr führte, schließlich nie mehr bei ihm gemeldet. Was hatte er ihr damals nur angetan, dass sie ihn heute so sehr verachtete? Er erinnerte sich jetzt, wo er neben dem schmollenden Mädchen Platz genommen hatte und behutsam über ihren Rücken strich, genau an den Tag, an dem er Anna damals in der alten Kneipe ums Eck kennengelernt hatte. Sie war neu in der Stadt und mit Freunden aus der Uni aus, er saß dort mit einem Kumpel und versoff sein letztes Geld, als er sie von Weitem erblickte und als sich ihre Blicke kreuzten, nun da war sie einfach viel interessanter und so sprach er sie kurz darauf am Tresen an. Sie studierte im vierten Semester Bioinformatik, stammte ursprünglich aus dem Norden und war ins Niemandsland gezogen, um in der Hauptstadt nunmehr für ein paar Semester fertig zu studieren. Als sie sich Wochen später wieder zufällig in der Tram trafen, gab sie ihm ihre Nummer und so verbrachten sie den Sommer über am Strand, bis Anna sich nach etwa einem Jahr von ihm trennte, seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Bis eben zu jenem sonderbaren Tag im Mai, als ihre gemeinsame Tochter vor seiner Haustüre stand und er somit von der längst verschollen geglaubten Vergangenheit eingeholt wurde. Doch wie er da so neben dem kleinen Mädchen hockte, dass sich an ihn gelehnt hatte, es fest umklammert hielt, wusste er, dass ihn all das kaum mehr weiter brachte, denn von dem Mädchen konnte er nicht erwarten, dass sie über jedes Detail der Beziehung zwischen ihm und ihrer Mutter Bescheid wusste, war sie eben doch noch ein Kind. Sowie es an der Haustüre klingelte, stand auch schon ein drahtiger Typ davor und grüßte ihn freundlich, das war also André, der neue Freund von Louisas Mutter. Er hatte sich ihn, nun da er an ihm vorbei ins Wohnzimmer lief, anders vorgestellt, sowie die Kleine von ihm sprach, glaubte er, André sei ein robuster kräftig gebauter Kerl, doch nun hockte auf dem Sofa nur dieser hagere Kerl und versuchte das Mädchen zum Mitkommen zu bewegen. Anna war wie schon am Telefon angekündigt nicht mitgekommen. André schien wirklich noch ungeschickter mit Kindern umzugehen und so gestaltete sich das ganze Drama dann doch schwieriger als gedacht. Wie er die beiden so beobachtete, wunderte es ihn nicht, dass das Mädchen André nicht besonders gut leiden konnte, so wie er mit dem Kind sprach als wäre sie irgendeine Erwachsene, in diesem barschen Befehlston, wirkte er auch auf ihn nicht sonderlich sympathisch. Als der dürre Kerl versuchte das bockige Mädchen von der Couch zu hieven und dieses sich mit aller Kraft wehrte, weil es nicht mit ihm mitkommen wollte, da fiel ihr der große Plüschkäfer aus der Hand und zu Boden. Wie die beiden weiterhin stritten, dachte er daran, wie er wohl von außer wirkte, ob es ebenso ungelenk mit dem kleinen Mädchen umgesprungen war oder er genauso dämlich im Umgang mit ihr wirkte, sowie nunmehr André, der scheinbar nicht verstand was in dem kleinen Wesen vor sich ging, der sich in ihre Gefühlswelt einfach nicht hineinversetzen konnte. Auch wenn er sie noch so fest packte, sie noch harscher an brüllte, sie würde nicht mit ihm kommen, sondern lieber hier bei ihm bleiben, statt zusammen mit André in dessen Auto zu steigen und zurück nach Altherrendorf zu fahren. Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, Anna wäre mitgekommen, dachte er sich noch, als er dem Theater endlich ein Ende bereitete, sowie er meinte, er würde mitkommen, wenn Louisa dann ebenfalls ins Auto steigen und sie gemeinsam zu der Wohnung der Mutter fahren würden. Das zauberte der Kleinen sogleich ein breites Grinsen ins Gesicht und Andrés verdutzter Gesichtsausdruck war es ihm wert gewesen, sich mit dem völlig Fremden sowie dem kleinen Mädchen ins Auto zu setzen, um zu seiner Ex zu fahren. Sowie das Mädchen durch die Wohnung sauste und ihre Sachen zusammen packte, um mit ihm, ihrem Vater und André zurückzufahren, da hob sie den Plüschkäfer vor lauter Eile nicht vom Boden auf, um ihn in den rosaroten Rucksack zu stopfen. Als André zu ihm kam, nahm dieser ihn kurz zur Seite und schien sich nicht so sicher, ob sein Vorschlag so eine sonderlich gute Idee gewesen war, schließlich wusste auch André nur zu gut wie sehr Anna ihn verachtete und so konnte André nicht einschätzen, wie Anna darauf reagieren würde, sobald er im Auto sitzend, vor ihrer Wohnungstüre stehen würde. So musste er André versprechen. dass er, sobald sie vor der Wohnung angekommen waren, seiner Freundin keinen weiteren Ärger bereitete und besser noch einfach gleich wieder verschwand, bevor die Situation noch zu eskalieren drohte. Bevor er die Haustüre hinter sich schloss, hob er den großen Plüschkäfer vom Boden auf, den Louisa liegen gelassen hatte und steckte ihn in die Umhängetasche, um sich dann zu André und der Kleinen ins Auto zu setzen.
So saßen sie nun im alten Kombi von André, er vorn am Steuer, sie hinten auf der Rückbank, neben ihm, fröhlich vor sich hin summend und fuhren zunächst über die Landstraße, dann aus der Innenstadt raus, auf die Autobahn, die Ausfahrt Richtung Altherrendorf nehmend und ihm wurde so langsam bewusst, dass er Louisa wahrscheinlich das letzte Mal gesehen hatte, da er nicht zu ihnen hochkommen, sondern stattdessen sogleich wieder abreisen würde, um den restlichen Abend bei sich allein in der Wohnung zu verbringen.
Louisa stieg als Erste aus und rannte eilig zu ihrer Mutter, die schon an der Eingangstüre stand, als sie die Einfahrt hochgefahren waren und schloss das Mädchen in ihre Arme. André nahm den Schlüssel und meinte zu ihm, er solle bloß keine Szene machen und einfach verschwinden. Als sie beide aus dem Wagen stiegen, da löste sich das Mädchen aus der Umklammerung ihrer Mutter und lief mit großen Schritten auf ihn zu, um ihn mit ihrer kleinen Hand am Ärmel seiner Jacke zu packen und ihn zu sich in die Wohnung zu ziehen. Sichtlich genervt ihn wiederzusehen, schaute Anna ihn mit finsterem Blick von der Eingangstüre aus entgegen. verschränkte ihre Arme und blickte dann wütend in Andrés Richtung. Sodass er das Mädchen festhielt, sie zur Seite nahm und sich zu ihr herunter beugte, um aus der Umhängetasche den großen Plüschkäfer zu holen, den sie liegengelassen hatte, um ihn ihr zu geben. Sichtlich froh ihn wiederzusehen, kuschelte sie sich an das Plüschtier und als er dann mitteilte, dass er nicht mit zu ihnen in die Wohnung kommen würde, da brach er der Kleinen das Herz und ruinierte just in diesem Moment all die schönen Erinnerungen, die sie in Zukunft an diesen Tag haben würde. Sie verstand nicht, wieso er nicht mit zu ihr kommen konnte, schließlich war er doch ihr Vater, nicht dieser André oder die anderen Kerle vor ihm, von denen sie eh nichts hielt, doch so sehr sie sich auch wand und je fester sie mit den Fäusten auf seine Brust schlug, diesen allerletzten Wunsch würde er nicht erfüllen können. Und so packte André das am Boden liegende Plüschtier, griff nach der Hand des kleinen Mädchens und zerrte sie von ihm weg, um dann mit ihr und ihrer Mutter im Haus zu verschwinden. Wie er so vor dem großen Haus auf der langen Einfahrt stand, dachte er kurz daran, was er alles hätte haben können, wenn die Dinge ein wenig anders verlaufen wären, doch so drehte er sich um und verließ Altherrendorf in Richtung des Niemandstal, ohne dorthin zurück- zukehren. In seiner Wohnung brannte noch der Fernseher, auf dem nun ein alter schwarzweiß Film lief und auf dem Tisch neben der Couch stand das halbvolle Glas mit dem Orangensaft, aus welchem vor etwa viereinhalb Stunden noch das kleine Mädchen mit den köterblonden Haaren und dem viel zu großen Plüschkäfer getrunken hatte, während es ihn so schelmisch von der Seite anlächelte. Jetzt saß da keiner mehr und als ihm seine Fehlentscheidung bewusst wurde, schmetterte er das Glas an die Wand und der gelbliche Saft floss langsam die Tapete herunter.
Ihre Mutter wusste nicht, dass sich ihre Tochter bei ihm aufhielt, also meinte Louisa bloß, Anna würde sie sowieso nicht zu ihm lassen, da sie ihn nicht sonderlich gut leiden konnte. Im Grunde schien sie ihn sogar regelrecht zu verachten, so wie sie über ihn gesprochen hatte. Weswegen das Mädchen auch nichts von ihrer spontanen Reise erzählt hatte. Er wurde aus der Kleinen einfach nicht schlau, wie sie überhaupt an seine Adresse gelangt war, wollte sie ihm nicht verraten, doch wenn er genauer darüber nachdachte, so schwer war es heutzutage nicht an die Adresse von jemanden zu kommen, solange man wusste nach wem man suchte. So hockten sie schweigend nebeneinander und er wusste immer noch nicht so recht, was er nun, da sie einander kennengelernt hatten, überhaupt von sich erzählen sollte. Doch das machte ihr scheinbar nichts aus, schien das Mädchen schon anderweitig beschäftigt, kramte in dem rosaroten Rucksack herum und zog Mr. Beetlebum, ihren riesigen Plüschkäfer, der einem Maikäfer ziemlich ähnlich sah aus dem Rucksack. Das Ding schaute ihn mit seinen großen Augen freudig an und hatte die gesamte Zeit in ihrem Rucksack ausharren müssen, sichtlich erfreut ihn wohl auf zu sehen, hielt sie ihn nun fest umklammert in ihren Armen. Als er sie fragte, ob ihr Käfer schon öfters verreist sei, grinste sie ihn bloß schelmisch von der Seite an und meinte dann, sie seien schon zusammen an der Costa de Sol gewesen, dort hät ten sie gemeinsam den Sommer über verbracht. Bis ins Niemandstal war es da ja bloß ein Katzensprung. Außer an der Südsee war er noch nicht viel in der Welt herumgekommen. Sie erzählte, ihre Mutter sei mit ihr, als sie noch kleiner war, immer hoch ans Meer gefahren, um dort die Tage zu verbringen. Die Kleine liebte das Meer, wenn sie groß ist, sagte sie sichtlich stolz, wollte sie Meeresbiologin werden und den weiten Ozean erforschen. Was er so mache, fragte sie ihn eher beiläufig. So erzählte er von seiner Anstellung in der Papierfabrik, die allerlei verschiedenes Papier herstellte, von schlichtem Kopierpapier, glänzendem sowie matten Tonpapier bis hin zu hauchdünnem Papier, welches sie bestimmt schon einmal in den alten Gebetbüchern gesehen hatte. Sie glaubte nicht an Gott und interessierte sich noch weniger für Papier, manchmal kritzelte sie darauf herum, ansonsten lernte sie darauf bloß das Schreiben und Rechnen. Sie ging in die zweite Klasse und lernte scheinbar gerade das kleine Einmaleins, doch wie er, hatte auch sie so ihre Schwierigkeiten mit dem Kopfrechnen. Jetzt fiel ihm auch zum ersten Mal die kleinen Ähnlichkeiten an ihr auf, die sie mit ihm hatte, so hatte sie tatsächlich seine Augen, auch das köterblonde Haar glich dem seinem doch sehr, wie er, hatte sie ebenso an den Wangen winzige Muttermale und wie er, grinste sie immer schelmisch, sobald sie etwas amüsierte. Das Mädchen hielt noch immer ihren Plüschkäfer umklammert als sich gerade im Fernseher die Affen über die Bäume hinweg geschwungen hatten und nun die Totale auf eine junge Affenmutter zeigte, die gerade ihr Kleines säugte, in dem Augenblick fragte er sich, ob es nicht doch besser ihrer Mutter Bescheid geben sollte, damit sie zumindest wusste, wo ihre Tochter abgeblieben war. Nicht das auch noch die Polizei vor seiner Türe stand und ihn wegen möglicher Kindesentführung verhaftete, als sich das Mädchen dann ebenfalls zu langweilen begann, bot er ihr an er könne ihre Mutter kontaktieren, damit sie die Kleine abholen kommt, schließlich mache sich ihre Mutter sicher schon Sorgen um ihre kleine Tochter. Louisa schaute zu ihm herüber und meinte, sie sei auch seine Tochter, was er zwar bekräftigte, dann aber doch lieber wieder versuchte, sie doch davon zu überzeugen, dass es besser wäre, sie würde zurück zu ihrer Mutter gehen. Doch das Mädchen schien seine Manipulationsversuche zu durchschauen und entgegnete ihm bloß, sie hätte mit ihrem Neuen, einem gewissen André genug um die Ohren, da sei ihre Abwesenheit wohl zweitrangig. André schien bei dem Mädchen nicht sonderlich beliebt, so sprach sie ihn immerzu mit seinem Vornamen an, wenn sie über ihn redete und meinte kühl und eher abfällig, auch André sei nur ein weiterer Kerl an der Seite ihrer Mutter, der vergeblich versuchte zu ihrer Tochter irgendeine Beziehung einzugehen, um sich mit dem Kind seiner Freundin zu engagieren.
Dieser André, so klang es, schien noch weniger mit der kleinen zurechtzukommen als er es selbst anscheinend tat. Und wie sie da so saß, den Plüschkäfer schon fast erdrückt mit schmollendem Blick, weil er noch immer versuchte sie davon zu überzeugen es sei besser sie würde zu ihrer Mutter und diesem André zurückkehren, da war er mit der gesamten Situation sichtlich überfordert. Sowie er zum Hörer griff und die Nummer wählte, die in ihrem Rucksack stand, machte sich der gesamte Unmut in dem kleinen Mädchen breit und wie sich die genervte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung meldete, wurde ihm auf einen Schlag bewusst mit wem er gerade telefonierte. Louises Mutter hörte sich durch den Hörer noch kühler und gereizter an, als er ihre Stimme in Erinnerung gehabt hatte, zudem schwieg sie die meiste Zeit über, sowie er versuchte, die Situation mit ihrer Tochter und deren plötzliches Auftauchen zu erklären. Als sie ihn dann endlich unterbrach, meinte sie bloß, André würde in anderthalb Stunden vorbeikommen und sie abholen kommen, dann legte sie auch schon auf, ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren.
Irgendwie brach es ihm das Herz das kleine schmollende Mädchen auf der Couch zu sehen, das ihr Gesicht in dem Plüschkäfer versank und ihn mit ihren stechenden Augen finster musterte und zu wissen, er würde das Richtige tun, trotzdem fühlte sich die Entscheidung, die er getroffen hatte in diesem Augenblick keineswegs richtig an, seine eigene Tochter diesem völlig Fremden zu überlassen, der bald schon vor seiner Haustüre stehen und sie abholen kommen würde, sowie die Kleine ins Auto setzte, um mit ihr aus dem Niemandstal zu verschwinden in Richtung Altherrendorf.
Schönfeld, der Name kam ihm auch jetzt, wo er wusste, wer diese Frau war, mit der er vor etwa acht Jahren verkehrte, nicht vertraut vor. Hatte sie in der Zwischenzeit geheiratet oder hatte sie damals bezüglich ihres Namens vielleicht ebenfalls gelogen? Ganz davon abgesehen, dass sie ihm nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt, geschweige denn ihm von ihrer gemeinsamen Tochter erzählt hatte. Sie hatte sich nach der kurzen Beziehung, die er mit ihr führte, schließlich nie mehr bei ihm gemeldet. Was hatte er ihr damals nur angetan, dass sie ihn heute so sehr verachtete? Er erinnerte sich jetzt, wo er neben dem schmollenden Mädchen Platz genommen hatte und behutsam über ihren Rücken strich, genau an den Tag, an dem er Anna damals in der alten Kneipe ums Eck kennengelernt hatte. Sie war neu in der Stadt und mit Freunden aus der Uni aus, er saß dort mit einem Kumpel und versoff sein letztes Geld, als er sie von Weitem erblickte und als sich ihre Blicke kreuzten, nun da war sie einfach viel interessanter und so sprach er sie kurz darauf am Tresen an. Sie studierte im vierten Semester Bioinformatik, stammte ursprünglich aus dem Norden und war ins Niemandsland gezogen, um in der Hauptstadt nunmehr für ein paar Semester fertig zu studieren. Als sie sich Wochen später wieder zufällig in der Tram trafen, gab sie ihm ihre Nummer und so verbrachten sie den Sommer über am Strand, bis Anna sich nach etwa einem Jahr von ihm trennte, seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Bis eben zu jenem sonderbaren Tag im Mai, als ihre gemeinsame Tochter vor seiner Haustüre stand und er somit von der längst verschollen geglaubten Vergangenheit eingeholt wurde. Doch wie er da so neben dem kleinen Mädchen hockte, dass sich an ihn gelehnt hatte, es fest umklammert hielt, wusste er, dass ihn all das kaum mehr weiter brachte, denn von dem Mädchen konnte er nicht erwarten, dass sie über jedes Detail der Beziehung zwischen ihm und ihrer Mutter Bescheid wusste, war sie eben doch noch ein Kind. Sowie es an der Haustüre klingelte, stand auch schon ein drahtiger Typ davor und grüßte ihn freundlich, das war also André, der neue Freund von Louisas Mutter. Er hatte sich ihn, nun da er an ihm vorbei ins Wohnzimmer lief, anders vorgestellt, sowie die Kleine von ihm sprach, glaubte er, André sei ein robuster kräftig gebauter Kerl, doch nun hockte auf dem Sofa nur dieser hagere Kerl und versuchte das Mädchen zum Mitkommen zu bewegen. Anna war wie schon am Telefon angekündigt nicht mitgekommen. André schien wirklich noch ungeschickter mit Kindern umzugehen und so gestaltete sich das ganze Drama dann doch schwieriger als gedacht. Wie er die beiden so beobachtete, wunderte es ihn nicht, dass das Mädchen André nicht besonders gut leiden konnte, so wie er mit dem Kind sprach als wäre sie irgendeine Erwachsene, in diesem barschen Befehlston, wirkte er auch auf ihn nicht sonderlich sympathisch. Als der dürre Kerl versuchte das bockige Mädchen von der Couch zu hieven und dieses sich mit aller Kraft wehrte, weil es nicht mit ihm mitkommen wollte, da fiel ihr der große Plüschkäfer aus der Hand und zu Boden. Wie die beiden weiterhin stritten, dachte er daran, wie er wohl von außer wirkte, ob es ebenso ungelenk mit dem kleinen Mädchen umgesprungen war oder er genauso dämlich im Umgang mit ihr wirkte, sowie nunmehr André, der scheinbar nicht verstand was in dem kleinen Wesen vor sich ging, der sich in ihre Gefühlswelt einfach nicht hineinversetzen konnte. Auch wenn er sie noch so fest packte, sie noch harscher an brüllte, sie würde nicht mit ihm kommen, sondern lieber hier bei ihm bleiben, statt zusammen mit André in dessen Auto zu steigen und zurück nach Altherrendorf zu fahren. Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, Anna wäre mitgekommen, dachte er sich noch, als er dem Theater endlich ein Ende bereitete, sowie er meinte, er würde mitkommen, wenn Louisa dann ebenfalls ins Auto steigen und sie gemeinsam zu der Wohnung der Mutter fahren würden. Das zauberte der Kleinen sogleich ein breites Grinsen ins Gesicht und Andrés verdutzter Gesichtsausdruck war es ihm wert gewesen, sich mit dem völlig Fremden sowie dem kleinen Mädchen ins Auto zu setzen, um zu seiner Ex zu fahren. Sowie das Mädchen durch die Wohnung sauste und ihre Sachen zusammen packte, um mit ihm, ihrem Vater und André zurückzufahren, da hob sie den Plüschkäfer vor lauter Eile nicht vom Boden auf, um ihn in den rosaroten Rucksack zu stopfen. Als André zu ihm kam, nahm dieser ihn kurz zur Seite und schien sich nicht so sicher, ob sein Vorschlag so eine sonderlich gute Idee gewesen war, schließlich wusste auch André nur zu gut wie sehr Anna ihn verachtete und so konnte André nicht einschätzen, wie Anna darauf reagieren würde, sobald er im Auto sitzend, vor ihrer Wohnungstüre stehen würde. So musste er André versprechen. dass er, sobald sie vor der Wohnung angekommen waren, seiner Freundin keinen weiteren Ärger bereitete und besser noch einfach gleich wieder verschwand, bevor die Situation noch zu eskalieren drohte. Bevor er die Haustüre hinter sich schloss, hob er den großen Plüschkäfer vom Boden auf, den Louisa liegen gelassen hatte und steckte ihn in die Umhängetasche, um sich dann zu André und der Kleinen ins Auto zu setzen.
So saßen sie nun im alten Kombi von André, er vorn am Steuer, sie hinten auf der Rückbank, neben ihm, fröhlich vor sich hin summend und fuhren zunächst über die Landstraße, dann aus der Innenstadt raus, auf die Autobahn, die Ausfahrt Richtung Altherrendorf nehmend und ihm wurde so langsam bewusst, dass er Louisa wahrscheinlich das letzte Mal gesehen hatte, da er nicht zu ihnen hochkommen, sondern stattdessen sogleich wieder abreisen würde, um den restlichen Abend bei sich allein in der Wohnung zu verbringen.
Louisa stieg als Erste aus und rannte eilig zu ihrer Mutter, die schon an der Eingangstüre stand, als sie die Einfahrt hochgefahren waren und schloss das Mädchen in ihre Arme. André nahm den Schlüssel und meinte zu ihm, er solle bloß keine Szene machen und einfach verschwinden. Als sie beide aus dem Wagen stiegen, da löste sich das Mädchen aus der Umklammerung ihrer Mutter und lief mit großen Schritten auf ihn zu, um ihn mit ihrer kleinen Hand am Ärmel seiner Jacke zu packen und ihn zu sich in die Wohnung zu ziehen. Sichtlich genervt ihn wiederzusehen, schaute Anna ihn mit finsterem Blick von der Eingangstüre aus entgegen. verschränkte ihre Arme und blickte dann wütend in Andrés Richtung. Sodass er das Mädchen festhielt, sie zur Seite nahm und sich zu ihr herunter beugte, um aus der Umhängetasche den großen Plüschkäfer zu holen, den sie liegengelassen hatte, um ihn ihr zu geben. Sichtlich froh ihn wiederzusehen, kuschelte sie sich an das Plüschtier und als er dann mitteilte, dass er nicht mit zu ihnen in die Wohnung kommen würde, da brach er der Kleinen das Herz und ruinierte just in diesem Moment all die schönen Erinnerungen, die sie in Zukunft an diesen Tag haben würde. Sie verstand nicht, wieso er nicht mit zu ihr kommen konnte, schließlich war er doch ihr Vater, nicht dieser André oder die anderen Kerle vor ihm, von denen sie eh nichts hielt, doch so sehr sie sich auch wand und je fester sie mit den Fäusten auf seine Brust schlug, diesen allerletzten Wunsch würde er nicht erfüllen können. Und so packte André das am Boden liegende Plüschtier, griff nach der Hand des kleinen Mädchens und zerrte sie von ihm weg, um dann mit ihr und ihrer Mutter im Haus zu verschwinden. Wie er so vor dem großen Haus auf der langen Einfahrt stand, dachte er kurz daran, was er alles hätte haben können, wenn die Dinge ein wenig anders verlaufen wären, doch so drehte er sich um und verließ Altherrendorf in Richtung des Niemandstal, ohne dorthin zurück- zukehren. In seiner Wohnung brannte noch der Fernseher, auf dem nun ein alter schwarzweiß Film lief und auf dem Tisch neben der Couch stand das halbvolle Glas mit dem Orangensaft, aus welchem vor etwa viereinhalb Stunden noch das kleine Mädchen mit den köterblonden Haaren und dem viel zu großen Plüschkäfer getrunken hatte, während es ihn so schelmisch von der Seite anlächelte. Jetzt saß da keiner mehr und als ihm seine Fehlentscheidung bewusst wurde, schmetterte er das Glas an die Wand und der gelbliche Saft floss langsam die Tapete herunter.