- Anmerkungen zum Text
Der Text war ein Versuch, eine Geschichte aus ungewöhnlicher Perspektive zu schreiben - wie man merkt.
Mallorca
Hallo, mein Name ist Mallorca. Der Schriftzug und die lachende Sonne auf meinem Bauch sind schon verblasst, aber trotz dieses Schönheitsmakels kann ich stolz behaupten, der Lieblingsbecher meiner Besitzerin, einer netten alten Dame namens Evi, zu sein. Was kann ein einfaches Geschirr wie ich mehr erreichen, als täglich aus dem Schrank genommen und mit wunderbar duftendem Kaffee gefüllt zu werden, den Evi gerne mit einem Schuss Milch zu sich nimmt. Jedes Mal, sobald ihre Lippen meinen Rand berühren, fühle ich mich gestreichelt und wohlig geschmeichelt.
»Ach, Mallorca«, seufzt sie, wenn wir zusammen am Küchentisch sitzen und sie mit traurigem Blick ein schwarzgerahmtes Foto betrachtet, das sie im Arm ihres verstorbenen Mannes an einem Strand stehend zeigt. Auf dem Bild tragen die beiden Badebekleidung und schauen sorglos lächelnd in die Kamera. Manchmal kullert ihr dann eine Träne die Backen herunter, und manchmal hält sie mich dann ganz fest, und ich schmiege mein warmes Porzellan an ihre Hände und wedle ihr den aromatischen Duft des Kaffees zu, um sie zu trösten.
Ich bin froh, dass ich Evi gehöre, und sie scheint auch froh zu sein, mich zu besitzen. Sie achtet darauf, dass ich keinen Sprung bekomme und sorgt für meine Sauberkeit, während ich mich bemühe, ihr ein freundschaftlicher Begleiter in allen Lebenslagen zu sein - sei es beim Frühstück nach einer von Rückenschmerzen geplagten Nacht, sei es beim Erholungskaffee nach dem morgendlichen Einkaufsrundgang oder bei den gemütlichen Fernsehstunden nach dem Nachmittagsspaziergang.
In den letzten Jahren ist es um uns herum ruhiger geworden. Einmal die Woche erscheint Evis Sohn Johannes und prüft mit kritisch gerunzelter Stirn den Zustand meiner Besitzerin und der Wohnung. Seine Tochter Lotte kam früher oft vorbei, um mit Evi Rommé zu spielen. Jetzt lässt sie sich immer seltener blicken. Sie befindet sich gerade in einem Alter, das bei den Menschen Pubertät genannt wird und - wie ich aus einer Fernsehsendung erfuhr - sehr problematisch sein soll. Meist erkundigt sich Lotte nur kurz, wie es Evi geht, trinkt hastig das Glas Orangensaft aus, das Evi ihr einschenkt, beantwortet wortkarg Fragen nach der Schule und ihren Freundinnen und verabschiedet sich wieder, wobei sie Evi auffordernd anschaut, was gar nicht notwendig ist, da meine Besitzerin ihr auch ohne diesen Blick bei jedem Besuch einen Geldschein in die Hand drückt. Ein flüchtiger Abschiedskuss, und schon springt das Mädchen aus der Tür und poltert die Treppe hinunter, während ihr Evi im Flur hinterherschaut, bis sie hört, wie die Eingangstür ins Schloss fällt.
Auch bei Evis Geburtstag-Kaffeekränzchen nimmt die Zahl der anwesenden Damen Jahr für Jahr ab.
Diesmal kamen nur noch vier Tassen und Teller der Rosenthal-Clique zum Einsatz - eine im Übrigen ziemlich arrogante goldrandige Meute, die hochnäsig vor uns Küchengeschirr die Nase rümpft und sich viel darauf einbildet, in der Glasvitrine im Wohnzimmer zu wohnen und mit der Hand gereinigt anstatt, wie wir anderen, in der Geschirr-Gemeinschaftsdusche gespült zu werden.
Während die Geburtstagsgäste Kuchen und Kaffee genossen und über alte Zeiten und verstorbene Bekannte plauderten, stand ich missmutig und schmutzig in der Spüle, in der mich Evi nach einem hastigen Mittagskaffee abgestellt hatte. Sie war mit den Vorbereitungen der Geburtstagsfeier in Verzug geraten und hatte entgegen aller Gewohnheit vergessen, mich in die Geschirrdusche zu stellen. Es wurde draußen schon dunkel, als die Gäste endlich aufbrachen. Aufgeregt zischelten nebenan die Rosenthal-Tassen, beglückwünschten sich für die Komplimente, die sie von den Damen erhalten hatten und bewunderten sich gegenseitig.
Evi betrat die Küche und holte ein Tablett. Sie sah sehr blass aus. Nachdem sie, mit den Goldrandzicken beladen, wieder aus dem Wohnzimmer kam, stellte sie schwer atmend das Geschirr auf dem Küchentisch ab, setzte sich hin und starrte eine Weile vor sich hin. Empörung breitete sich unter der Rosenthal-Clique aus.
»Was soll das jetzt? Sie muss uns doch abwaschen!«
»Ich möchte auf der Stelle von diesen klebrigen Schokokrümeln befreit werden!«
»Der Service wird immer schlechter, keine Minute halte ich das noch mit diesen Lippenstiftabdrücken aus.«
»Seid still!«, fuhr ich die arroganten Rosenthaler an, und beobachtete besorgt unsere Besitzerin. Ein beleidigtes Tassenschweigen setzte ein. Evi erhob sich mühsam und trat an die Spüle.
Als sie mich erblickte, murmelte sie: »Vielleicht geht es mir ja nach einem Schluck Kaffee besser.«
Sie goss den Rest aus der Rosenthaler Kaffeekanne in meinen Bauch, ohne mich vorher abzuspülen, was sehr beunruhigend war. Ihre zitternden Hände machten mir Sorgen. Auch, wenn ich nicht viel übrig hatte für die Rosenthaler, fürchtete ich um die zierliche Porzellankanne und atmete auf, als Evi sie wieder abstellte.
Ich musste an meinen alten Becherfreund Borkum denken, der vor ein paar Jahren sein Leben ließ, als Evi ihrem Mann einen Kaffee ins Arbeitszimmer bringen wollte. Schreien und Klirren ertönte, schluchzende Telefonate, ein Hin und Her im Flur, bis schließlich zwei Männer einen Sarg aus dem Haus trugen und Evis Sohn Borkums Scherben in den Mülleimer warf.
Die Rosenthal-Kanne befand sich in Sicherheit, aber schon näherte sich mir die runzlige Hand meiner Besitzerin, griff unsicher in den Henkel und hob mich an. Der Kaffee in mir bebte, ich bibberte und schlotterte, während Evi sich langsam umdrehte, an der Spüle abstützte und dem Küchenstuhl zuwandte, der nur wenige Schritte entfernt stand. Sie löste sich von der Spüle, setzte den einen Fuß vor den anderen - und dann fiel sie und ich fiel mit. Der Fliesenboden raste auf mich zu, und plötzlich zerbarst etwas in mir und alles wurde schwarz.
Als ich wieder erwachte, sah ich in Lottes Augen. Mein Porzellan schmerzte, überall spürte ich Risse und Wunden und fühlte mich irgendwie nicht ganz. Etwas Klebriges fuhr an mir entlang. Lotte hielt eine Scherbe in der Hand, und erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich voll Schreck, dass es ein Teil meines oberen Becherrandes war. Sie presste die Scherbe auf mich. Es tat fürchterlich weh. Dann nickte sie zufrieden und trug mich ins Wohnzimmer, wo Evi, in eine Decke gehüllt, auf dem Sofa saß.
»So, Oma, dein Becher ist wieder ganz. Sieht fast aus wie neu. Jetzt können wir Rommé spielen.«
Evi nahm mich entgegen, strich liebevoll über meinen Bauch und seufzte: »Ach, Mallorca!«