Man muss sich das Unmögliche vorstellen...
Frank schlug die Morgenzeitung auf und las:
Zur Soziologie und soziologischen Un-Möglichkeiten
Jemand, der sich immanent einer Rolle, also auch Schichtzugehörigkeit, erkennt, neigt im weiteren Verlauf dazu, sich mit dieser Rolle und Schichtzugehörigkeit gegen andere Rollen und Schichtzugehörigkeiten abzugrenzen.
So im Beispiel des Individuums, das sich zur Arbeiterschicht zugehörig ingruppiert hat und in Folge dessen sich an einem Generalstreik aktiv beteiligt, um so sowohl die Zugehörigkeit zur Arbeiterschicht zu festigen als auch sich dadurch als Gruppe der Arbeiter gegen die Gruppe der Arbeitgeber abzugrenzen.
Gleiches gilt für andere Rollen, so etwa beim Arbeitgeber, der seine Schichtzugehörigkeit und den damit zukommenden finanziellen Vorteil durch Statussymbole wie Sportwagen zum Ausdruck bringt.
Solange diese Schichtmerkmale -Streikpotenz vs. Sportwagen - aufrecht erhalten werden, ist eine unmittelbare und absolute Identifikation des Individuums mit den Eigenheiten der verschiedenen Gruppen kollektiv erkennbar.
Auch, wenn ein Hochbegabter die Forderung nach einem Streik gegen das ihn aus seiner Sicht benachteiligende Bildungssystem anstrebt, muss von einem Bewusstsein ausgegangen werden, einer Gruppe nur immanent zuzugehören.
Wenn aber eine Kommunikation, ein Austausch und eine Identifikation als Geflecht der verschiedenen Rollengruppen erreciht werden will, ergo jedwede Kategorisierung und jedwedes Schubbladendenken aus Erkenntnisgründen vermieden werden will - was angestrebt werden sollte - so muss, bildlich gesprochen, der Schnuller aus dem Mund des Kleinkindes genommen werden, der dem Kleinkind eine unmittelbare Befriedigung des Bedürfnisses der Objektbesetzung ist.
Beim Erwachsenen nennen wir diese Befriedigung der Objektbesetzung das Präsentieren eines oder mehrerer Symbole, wie es ein Sportwagen darstellt oder eines oppositionellen Symbols, wie es der Generalstreik darstellt.
Nun muss in konsequenter Weiterdenkung der Auflösung solcher klassifizierenden Strukturen die Forderung nach Abschaffung jedweder klassifizierender Objekte laut werden - die Folge daraus mag mitdenkenden Köpfen vielleicht als Aufruf zum Kommunismus und damit assoziierte Denkweisen vorkommen.
Dies wäre aber wiederum eine Klassifizierung dieser Schrift in einen politischen Kontext.
Muss denn eine Auflösung von klassifizierenden Objekten und Strukturen zwangsläufig in einem politischen Kontext landen?
Keinesfalls, denn die Demokratie als politisches System soll unangetastet bleiben.
Es soll lediglich eine Bestandsaufnahme vorherrschender Verhaltensweisen in der Gesellschaft Deutschlands im Jahre 2004 sein, ohne Anspurch auf Vollständigkeit zu erheben.
Die Forderung an sich - dessen sei sich auch der Verfasser dieses Textes bewusst - muss als Utopie beurteilt werden, genauso wie die Forderung Nietzsches Zarathustras nach dem Übermenschen eine Utopie bleiben wird, auch wenn sie immer wieder in den vergangenen und zukünftigen Zeiten gebraucht und missbraucht werden wird.
Eben deshalb, weil Forderungen immer aus der Position einer Person oder der Perspektive einer Gruppe gestellt werden wird.
So bleibt es vorläufig der utopischen Fantasie überlassen, sich eine solche Entwicklung vorzustellen.
Aber wie heißt es in einem hochintelligentem Zitat: "Man muss sich das Unmögliche vorstellen, um das Mögliche zu erreichen."
Warmer Kaffee floss seinen Hals hinunter, füllte den knurrenden Magen.
Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Qualm, wie er zur Decke stieg.
"Eine utopische Fantasie?", fragte er sich, hörte zugleich die Katze maunzen, die sich um seine Beine schmiegte.
"Was macht ein solcher Artikel in der Morgenzeitung?"
"Frank!"
Er blickte auf und sah seine Mutter.
"Es ist viertel vor Acht."
"Verdammt!", entfuhr es ihm. Er schrieb in der ersten Stunde eine Geschichtsarbeit.
Er sprang auf, schnappte sich seinen Rucksack und rannte zur Tür hinaus.
***
Eine Arbeit wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Man stellt es sich schlimm vor, doch es wird noch schlimmer. Was mit Ziepen beginnt, wird eine Explosion der Synapsen, ein Tanz der Schmerzmoleküle, ein Todesreigen für die Stimmung. Schwärze soll mich umdämmern, einer kalten Hand gleich packen.
Was braucht man Arbeiten, was Noten?
Es sind immer wieder diese Klassifizierungen, die der Mensch dem Menschen aufdrückt. Gruppentiere, archaische Mechanismen, so subtil und wirksam wie eh und je.
Revolution! Es muss die Bombe platzen. Kein Konfetti mehr, kein buntes Schillern von Papier und Schrift! Der erste Schritt musste gemacht werden, musste geboren werden.
Ich habe es gemacht: Nichts soll heilig sein. Nichts soll das Ding an sich sein in der Welt, befreit von Symbolen und Kämpfen um diese. Kein Öl mehr fließen, keine Scheine mehr flattern von Konto zur Tasche!
Der Anfang ist gemacht. Kein Buchstabensymbol in der Arbeit, ein Nichts abgegeben, das alles ist.
***
Der Brief war kurz und klar formuliert: Ein Tadel. Worte standen darin wie "Undsizipliniertheit" und "Arroganz", welche nur schwer von den Lippen Franks Mutter kamen. Sie sah enttäuscht aus, desillusioniert, keine Regung auf ihrem Gesicht. Starrer Blick.
Des Vaters Hand war schlagend.
Frank bekam Stubenarrst.
***
Dunkel im Zimmer. Nur Tropfen aus der Heizung. Chaotisch. Schön. So muss die Welt sein: ein tropfendes Chaos, ein Tanz der Elemente, individuelle Sterne, zerstörend und erbauend zugleich.
Eine Weltformel? Alte Gedanken und die ganze Kraft dem Individuum! Seiner schöpfenden Fanatsie, seiner Kreativität! Kunst! Ich sage Kunst soll es sein! Aus dem Nichts erschaffende Bilder, Schriften, Melodien! Keine Utopie! Ein Plan entsteht im Kopf! Alles ist der Ursprung des Kopfes. Und der ist keine Masse! Die Masse ist kopflos, hat keine eigenen Gedanken.
Was aber, wenn jeder sich löst aus der Masse, jeder schöpfend sein Inneres gebärt?
Wenn jeder seine Wirklichkeit offenbart, sein Leben seiner Welt. Wenn so unzählige kleine Welten, etwa die des kleinen Dorfes oder des Lebens im Wald entstünden? Ein Ganzes aus vielen kleinen Ganzen!
Wen es interessieren würde?
Vielleicht keinen aus meinem Dorf. Vielleicht aber einen aus einem ganz anderen Dorf. Und dieser würde inspiriert werden, seine Welt zu offenbaren. Und diese seine Offenbarung würde andere Menschen zur selben Tätigkeit ermutigen. Was, wenn die Kettenreaktion erst einmal in Gang ist? Was, wenn dies der Anstoß wäre für das goldene Zeitalter? Atlantis würde entstehen aus den Tiefen des Meeres, an die Oberfläche stoßen und zu neuem Glanz entstehen!
Es muss erst etwas zerstört werden, damit etwas Neues entstehen kann...
***
Franks Mutter hörte Scheppern! Klirren! Zerberstendes Holz!
Sie rannte nach oben, öffnete die Zimmertür, sah, was sie nicht sehen wollte. Einen leblosen Körper und ein zerstörtes Zimmer. Sie konnte nicht schreien - und brach zusammen.
***
Der Abschiedsbrief wurde auf der Beerdigung vorgelesen:
"Man muss das Unmögliche vorstellen, um das Mögliche zu erreichen. Das Möglichste war mir der Freitod, denn das Leben ist ein Symbol des Leidens, gespickt von Kämpfen um die unwichtigsten aller Sachen: um die Dinge. Das höchste Gefühl aber, so spüre ich es in diesen Momenten, ist das Wissen um eine vollkommende Welt, die nur aus Licht besteht. Man muss das Dunkle besiegen, um das Licht zu spüren. Und das Dunkle war mein Leben. Ihr werdet es nicht nachvollziehen können, und auch wenn ihr es versucht - erliegt nicht der Versuchung, es mir gleich zu tun. Außer, ihr alle tätet es zur gleichen Zeit, würdet den Menschen von der Welt mit einem Schlag entfernen. Die Natur würde wieder etwas erschaffen, denn sie ist das schöpfende Prinzip allen Lebens. Der Mensch zerstört. Und ich zerstöre den Menschen in mir, um zur natur zurück zu kehren, mit ihr wieder neu zu schaffen. Aus meiner Asche, meinen Atomen wird neues Leben entstehen. Was für eine Vorstellung, als Blume auf die Welt zu kommen, ohne ständiges Warum zu sein. Die Blume, das möchte ich euch sagen, ist das perfekte Leben. Nur sie vegetiert, ist schön und nicht einmal stolz darauf oder eitel. Sie ist ohne Warum. Und so fragt euch nicht, warum ich es getan habe. Ich bitte euch: Seid ohne Warum...
***
Hier endet die Geschichte von Frank, der ein Teil wohl einer Fantasie war, die zum Teil hier auf dieses Papier fand. Findet euch wieder in Frank - und lasst Frank sterben. In eueren Gedanken, um Neues zu schaffen.