Man muss sich doch kümmern ...
Beide, die Frau und das Haus, hatten ihre besten Jahre schon hinter sich. Von der Haustür war die Farbe wie ein trockenes Hautekzem abgeblättert und hatte sich auf dem Boden zu einem kleinen Häufchen angesammelt. In dieses Häufchen trat jetzt der platte Halbschuh der Frau. Mit einem freundlichen Lächeln blickte sie schräg nach oben, wo eine zerbrechliche ältere Nachbarin aus dem Fenster schaute.
“Hallo, Frau Wotschek!”
Frau Wotschek lehnte sich gefährlich weit nach vorn und flüsterte: ”Frau Zemser, ihr Mann ist schon zu Hause.”
Augenblicklich verschwand das Lächeln aus Annegret Zemsers Gesicht.
“Danke, Frau Wotschek”, sagte sie tonlos und öffnete die Haustür.
Auf in die Höhle des Löwen.
Robert Zemser hatte die Fernbedienung in der Hand und zappte sich bierselig durch die Kanäle.
“Ein Mist aber auch”, kommentierte er an niemand Bestimmtes gerichtet. Er trug ein blaugraues T-Shirt mit der Aufschrift “United States Marine Corps”, das sich über dem Bauch spannte und jedem Betrachter die Frage nach dem Stadium der Schwangerschaft geradezu aufzwang.
“Ich bin da”, sagte Annegret überflüssigerweise. Sie schob die schweren Einkaufstüten mit dem Fuß in die kleine Küche. Die ganze Wohnung stank nach Zigarettenrauch und auf dem kleinen Beistelltisch neben der Couch standen etliche leere Bierdosen.
Annegret hielt kurz die Luft an und öffnete das Fenster.
“Machst du das Fenster zu, du blöde Kuh!”, richtete nun erstmalig Robert Zemser das Wort an seine Frau. “Soll ich hier erfrieren, oder was?”
“Robert, es riecht nach Rauch und …”
“Ja klar, es riecht nach Rauch. Hier wohnt ein Raucher.” Er trommelte sich wie Tarzan auf die Brust. Seine Augen verengten sich zu kleinen, gefährlichen Schlitzen. “Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja wieder gehen. Noch’n bisschen Geld verdienen, das wär doch mal was!”
Er kicherte in sich hinein. “Warte erst mal ab, wie gut es jetzt gleich riecht.” Ein krachender Furz explodierte in die plüschigen Falten der Couch hinein. Robert lachte schnaubend.
Annegret machte die Küchentür zu und lehnte ihre Stirn an den Kühlschrank.
Der Abend hatte gerade erst angefangen.
Zwei Stunden später hatte Robert sein Essen kommentarlos verschlungen und guckte Fußball.
“Schieß doch, du Vogel”, brüllte er aus seiner miefigen Ecke und wedelte drohend mit der Fernbedienung.
Annegret hoffte wirklich inständig, dass das Fußballspiel zu Roberts Befriedigung ausgehen würde. Sie hoffte es für sich und für ihre Tochter Susann, die sich sofort nach dem Abendessen lautlos wie eine Siamkatze in ihr Zimmer verzogen hatte.
Sie wusch in der Küche das Geschirr ab, sie besaßen immer noch keinen Geschirrspüler, da Robert nicht einsah, teures Geld für eine Maschine auszugeben, wenn seine Frau die Sache genauso gut erledigen konnte.
Als sie die Tür schmettern hörte, wusste sie, dass sie wieder mal umsonst gehofft hatte.
“Gibt’s nichts mehr zu trinken in dem Haus?”, hörte sie ihn krakeelen. “Was macht die Alte denn den ganzen Tag! Und wie’s hier aussieht! Ein Haufen Weiber hier, aber aufräumen können sie nicht!”
Sie hörte ihn zu Susanns Zimmer stapfen und trat schnell aus der Küche heraus.
Seine blutunterlaufenen Schweinsäuglein funkelten gefährlich. Jemand würde dafür büßen müssen, dass Hertha BSC verloren hatte.
Er holte in dem Moment zum Schlag aus, als sie schützend ihren Arm hochhielt. Sie waren ein eingespieltes Team.
Frau Wotscheks mitleidiger Blick am nächsten Tag sprach Bände. Natürlich hatte sie alles gehört, wer im Haus hatte es denn nicht gehört! Annegrets geschwollene Wange war stümperhaft mit einer Schicht Schminke zugeschmiert, klebrige alte Schminke, die die Schwellung eher noch betonte, als sie zu verstecken.
Im Parterre unterhielt sich die nette Frau Berger mit der Briefträgerin. Sie ignorierten höflich Annegrets Gesicht und wandten sich Tommy Berger zu, der in seinem Rollstuhl saß und leer vor sich hin stierte.
“Er merkt, dass Frühling wird”, sagte Frau Berger und strich ihm über die Haare.
“Urrrga”, machte Tommy und warf seine Hände in die Luft.
Annegret Zemser hatte nie ganz erfahren, was mit Tommy nicht stimmte, aber seine Mutter kümmerte sich abgöttisch um ihn, das konnte man nicht anders sagen. Robert bezeichnete Tommy verächtlich als “Spasti, den es bei Adolf nicht gegeben hätte.”
Annegret beugte sich vor und schaute in Tommys seltsam entrückte Augen. “He, Tommy”, sagte sie freundlich. “Du freust dich ja so!”
“Wir gehen einkaufen”, lachte Frau Berger. “Tommys Gehalt verprassen. Nicht wahr, mein Schatz? Wir kaufen dir ein paar Videos und was Schickes zum Anziehen.”
“Sein Gehalt?”, fragte die Briefträgerin verwundert.
“Naja”, meinte Frau Berger, “wie nennen es halt so. Und es ist ja auch was Wahres dran. Schließlich ist es Tommys Geld. Das Pflegegeld”, fügte sie erklärend hinzu, als sie die verständnislosen Blicke der anderen bemerkte.
In diesem Moment kam eine schwere Gestalt die Treppe hinunter gepoltert. Robert Zemser trug eine blaue Montur und befand sich auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in der städtischen Brauerei.
“Musst du nicht auf Arbeit?”, herrschte er seine Frau an. Er würdigte die anderen keines Blickes und stieß mit dem Fuß leicht gegen den Rollstuhl. “Ein Gerümpel hier …”
Die Haustür krachte hinter ihm zu.
“Entschuldigung”, flüsterte Annegret mit hochroten Wangen.
“Männer”, sagte die Briefträgerin mit einem schiefen Lächeln. “Wie die Axt im Walde.”
Die drei Frauen sahen einander an.
“Ja”, bestätigte Annegret. Ihr Blick glitt langsam über Tommys Rollstuhl. “Das können Sie laut sagen.”
An diesem Nachmittag nahm sich Annegret Zemser zwei Stunden frei und ging so schnell sie konnte nach Hause. Ihr Mann war Gott sei Dank noch nicht da und sie schlich in die Wohnung wie ein Einbrecher. Vorsichtig blickte sie sich um und holte sich dann einen Stuhl. Im Flur stand ein riesiger Schuhschrank, aus dessen oberstem Fach sie einen Schuhkarton mit alten Skistiefeln hervorholte. Als ob sie jemals wieder mit Robert Ski fahren würde!
Im linken Stiefel musste es sein.
Ihre Hand fuhr suchend herum, bis sie auf das dünne Heftchen stieß. Da war es, ihr geheimes Postsparbuch. Fünftausendzweihundert Euro hatte sie angespart. Eine stattliche kleine Summe, wenn man die Umstände in Betracht zog. Wenn man bedachte, wie dieser fette Fuchs von einem Ehemann trotz seiner Trinkerei noch einen genauen Überblick über alle Ausgaben behalten hatte. Sie hätte wahrlich gern mehr Geld angespart, aber es hatte keinen Sinn, jetzt Tränen darüber zu vergießen. Es musste reichen. Und sie musste hier weg. Annegret Zemser schaute auf die Uhr. In knapp zwei Stunden kam Robert nach Hause. In spätestens drei Stunden suchte er Streit. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch alles Notwendige erledigen.
Als Robert Zemser an diesem Abend durch die Wohnungstür trat, war er besonders schlecht gelaunt. Sein Chef, der arrogante Schnösel hatte ihn mehrmals zurechtgewiesen, seine idiotischen Kollegen hatten sich über Herthas Niederlage amüsiert und zum Schluss war ihm noch die Straßenbahn vor der Nase weggefahren.
Er stürmte nahezu sofort in das Zimmer seiner Tochter, aus dem die zarten Klänge eins Popsongs dudelten.
„Mach den Mist aus!“, brüllte er sie an.
„Das ist kein Mist!“, wagte sie sich zu wehren. „Das ist Lily Allen!“
Robert sprang nach vorn und riss den Stecker aus der Steckdose. „Und ich bin der König vom Schlaraffenland“, schnauzte er. Seine Tochter fing an zu heulen, was ihm eine gewisse vorläufige Befriedigung verschaffte.
Als er in die Küche stampfte, fand er seine Frau vor, die in aller Seelenruhe Schnitzel briet. Argwöhnisch starrte er sie an. Warum heulte sie nicht oder sprang ihrer Brut zu Hilfe, wie sonst?
Sein Blick fiel auf den Küchentisch, wo eine Flasche Korn mit einer roten Schleife stand.
„Was ist das denn?“ Sein fleischiger Finger zeigte erregt auf den Alkohol.
„Hat mir Frau Berger geschenkt“, log Annegret. Es war erstaunlich, wie leicht ihr das Lügen fiel, jetzt, wo sich einmal dazu entschlossen hatte.
„Die Alte mit dem Spasti? Wieso schenkt die dir ne Pulle?“ Robert Zemser konnte in nüchternem Zustand durchaus noch gewisse Zusammenhänge erfassen.
Annegret seufzte, genau so, wie sie es vor dem Spiegel geübt hatte. „Sie hat sie geschenkt bekommen.“
Sie wies auf die Schleife. „Und sie trinken so etwas nicht, da hat sie sie mir gegeben. Ich dachte, du freust dich darüber.“
Robert Zemser war immer noch misstrauisch, beschloss aber, im Moment nicht darüber nachzudenken. Er machte die Flasche auf und goss sich ein großzügiges Glas ein. Alsdann schlurfte er zu seinem Stammplatz auf der Couch.
Annegret versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. So weit, so gut. Eine zweite Flasche wartete schon im Schrank. Wenn er die erste geleert hatte, würde er nicht mehr groß fragen, wo die zweite herkam. Morgen, wenn er mit grässlichem Kater aufwachte, war sie schon mit dem Mädchen über alle Berge. Das letzte Geld hatte sie vom Konto geholt, aber auch dies würde er erst erfahren, wenn sie schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Die Koffer standen gepackt im Keller, Susann hatte sie noch nichts gesagt, damit sie sich nicht vor Aufregung verriet. Jetzt hieß es warten.
Es bestand eine gewisse Ironie darin, dass sie heute auf sein Besäufnis wartete, wie ein Kind auf den Weihnachtsmann, wenn sie doch sonst voller Angst gehofft hatte, er möge sich doch ein einziges Mal nicht betrinken.
Robert Zemser kam und ging wie ein Geist, um nachzugießen. Zwischendurch verspeiste er sein Schnitzel und überschüttete die Nachrichtensprecherin mit obszönen Beleidigungen.
Die erste Flasche war fast leer. Annegret wischte schon zum hundertsten Mal den Küchentisch ab. Wann war er endlich soweit? Er kam wieder aus dem Wohnzimmer gestolpert, aber seine Schritte stoppten abrupt im Flur. Was hatte er vor? Sie lugte durch den Türspalt. Um Gottes Willen! Seine haarige Hand griff nach dem Kellerschlüssel!
Schnell trat sie heraus. „Wo willst du denn hin?“, fragte sie, um einen beiläufigen Ton bemüht.
Robert ignorierte sie und schob sich grunzend zur Wohnungstür.
„Ich hab‘ dich was gefragt!“ Die Verzweiflung verlieh ihr Mut und zu ihrer Verwunderung blieb Robert unschlüssig stehen.
„In den Keller, Fahrrad aufpumpen“, antwortete er nahezu folgsam, fügte aber sogleich ein: „Nicht, dass es dich was angeht“ hinterher.
In Annegrets Ohren begann ein lautes Rauschen. Das durfte doch nicht wahr sein! Was musste er denn jetzt darunter gehen, wo die Koffer standen! So betrunken er auch war, er würde sofort eins und eins zusammenzählen!
„Ich kann es doch für dich aufpumpen“, meinte sie verzweifelt und schob sich zwischen ihn und die Tür.
„Lass mal“, brummte er, „mach‘ ich selber. Will ja morgen keinen Platten haben. Scheiß Straßenbahn kannste nämlich vergessen.“
Warum, schrie es in Annegret. Warum musste er ausgerechnet heute dieses gottverdammte Fahrrad aufpumpen? Womit hatte sie das verdient. Ihr ganzer schöner Plan war in Gefahr.
Kurzentschlossen stellte sie sich ihm in den Weg. „Gib mir die Schlüssel“, forderte sie.
Er glotzte sie in ehrlicher Verwunderung an. „Bist du bescheuert?“, fragte er. Eine Sekunde lang schien es fast, als erwarte er eine Antwort.
Dann aber schubste er sie zur Seite. Das fehlte ja noch, wenn diese Kuh sich ihm in den Weg stellte, obwohl er nicht ganz begriff, was plötzlich in sie gefahren war.
Er holperte die Treppen hinunter und machte einen furchtbaren Lärm. „Du weckst noch alle auf“, zischte Annegret. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und sie suchte gehetzt nach einer Gelegenheit, ihm den Schlüssel wieder zu abzunehmen.
Er hatte nun die Kellertreppe erreicht und drehte sich um. „Was latschst du mir eigentlich hinterher? Wieso soll ich denn nicht in den Keller?“ Er schien plötzlich wachsam und überhaupt nicht mehr betrunken. „Hast du da unten was versteckt? Na, das werde ich ja gleich sehen.“ Er drehte sich um und sie griff nach seinen Schultern.
„Gib mir den Schlüssel!“ Tränen schossen ihr in die Augen.
„Nun geben Sie ihr schon den Schlüssel!“, hörte sie plötzlich neben sich. Frau Berger war, vom Lärm angelockt, im Nachthemd neben ihr erschienen. Ihr Gesichtsausdruck war wütend und ihre Haare hingen wirr um den Kopf.
Robert starrte sie an und fing an zu lachen. „Wie Sie aussehen!“
„Was fällt Ihnen ein, meine Frau so zu beleidigen!“ Herr Berger war hinter seiner Frau aufgetaucht. “Ich rufe die Polizei an, wenn Sie nicht sofort aufhören, hier rumzutoben!“
„Ich habe schon ein Telefon in der Hand!“, konnte man nun auch noch Frau Wotschek von der oberen Treppenstufe hören.
„Weiber!“ Robert winkte verächtlich ab und drehte sich herum. “Wenn Weiber sterben, ist’s kein Verderben!“, murmelte er noch. Dann traf ihn der Tritt.
Mit aller Wucht hatte Annegret zugetreten. Ihr war jetzt alles egal. Dann musste sie eben ins Gefängnis, Hauptsache, sie war ihn los. Wie eine erschlaffte Puppe drehte sich Robert leicht um sich selbst und fiel mit lautem Poltern die Steintreppen hinunter.
Grotesk verzerrt blieb er unten liegen und sagte keinen Ton.
Tränenüberströmt drehte Annegret sich um und schaute in die erstarrten Gesichter der Bergers.
„Ist er tot?“, fragte Frau Wotschek, deren Kopf sich über das Geländer beugte.
Zehn Wochen später hielt Herr Berger Annegret die Haustür auf, damit sie den Rollstuhl besser durchschieben konnte.
„Wir sollten mal eine Verbreiterung der Tür beantragen“, meinte er. „Jetzt, wo wir zwei Rollstühle im Haus haben.“ Der Schatten eines Lächelns tanzte um seine Augen. Annegret nickte und schob Robert durch die Tür. Sein Kopf hing schlaff zur Seite, aber seine Augen blickten wach.
„Na, wie geht es uns denn heute?“, fragte die Briefträgerin laut, in einer für Idioten und Krabbelkinder reservierten Stimme.
„Wbll“, machte Robert angestrengt.
„So eine Tragödie!“ Die Briefträgerin schüttelte bekümmert den Kopf. „Ein Mann in den besten Jahren. Da sieht man mal wieder, wie schnell einen doch ein Unfall aus der Bahn wirft. Ich sage es ja nicht gern, aber Alkohol ist an fast allen Unfällen schuld!“
„Ich habe schon immer gesagt, dass die alten Steintreppen gefährlich sind“, bemerkte Herr Berger, der nun hinzu getreten war. “Und wie schnell man da ausrutschen kann, haben wir ja jetzt gesehen.“
„Naja“, äußerte sich Annegret. “Wir machen das Beste daraus. Man muss sich doch um seine Familie kümmern. Ein Heim kommt für uns nicht in Frage. Jetzt kann Robby erst mal ein bisschen die Sonne genießen.“ Sie schob ihn auf das kleine Rasenstück vor dem Haus, wo bereits Tommy Berger stand. “Sieh mal, Robby, dein Freund ist schon da.“ Tommy Berger riss seine Hände hoch und machte gurgelnde Geräusche.
„Hier Papa, ein bisschen Musik für euch. “ Annegrets Tochter Susann stellte einen kleinen CD Spieler neben die beiden Rollstühle ins Gras.
„First, when I see you cry, yeah it makes me smile …“, sang Lily Allen.
Roberts Kopf zuckte leicht.
„Er liebt das Lied so sehr”, erklärte Susann den Umstehenden und drückte ein Taschentuch an die Augen.
Annegret strich ihrem Mann über den Kopf. „Nachher verprassen wir dein Gehalt, mein Schatz“, sagte sie.
„Recht so“, nickte Frau Wotschek aus dem Fenster. „Man soll das Leben genießen!“