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Mann Ohne Namen
Als der Mann wieder zu Bewußtsein kam, begann am Himmel das letzte Licht des Tages zu verdämmern. Sein Kopf lag mit der Stirn gegen das Lenkrad des alten, grünen BMW 525i gelehnt. Der Mann richtete sich stöhnend auf. Ein dumpfer, grollender Schmerz pochte heftig in seinem Schädel. Er hob mühevoll die rechte Hand, die schlaff an seiner Schulter herabbaumelte bis auf die gummierte Fußmatte. Vorsichtig betastete er die hühnereigroße Schwellung, die wohl seinem Aussehen nicht eben zur Zierde gereichte. Die Haut fühlte sich feucht an und klebrig. Der Mann öffnete die Augen - was ihn Mühe kostete, denn auch diese, die Brauen und die Wimpern waren blutverklebt - und blickte in den Rückspiegel. Beim Anblick seines eigenen Spiegelbildes entfuhr ihm ein Schreckenslaut. Er ließ sich in das Polster seines Sitzes zurücksinken. Dann öffnete er mit der linken Hand die Fahrertür. Die Innenbeleuchtung schaltete sich ein. Der Mann betrachtete geistesabwesend die Innenfläche seiner Hand. Auch sie glänzte von dunklem, angetrocknetem Blut.
Wie war er nur hierhergekommen? Klar, er mußte einen Autounfall gehabt haben. Aber wie, und wodurch? War das sein Wagen, oder vielleicht der eines Freundes? Oder war es gar das Auto eines Fremden? Er konnte sich nicht erinnern. Er dachte angestrengt nach, so konzentriert er eben konnte. Aber auch das Denken verursachte pochende, pulsierende Schmerzen. Dennoch kramte er vorsichtig in dem Speicher seiner Erinnerungen nach irgendeiner verwertbaren Information. Aber er konnte nichts finden. Er wußte weder wo er war noch wie der dorthin gelangt war. Er wußte nicht, wann und warum er in diesen Wagen gestiegen war und er hatte keine Ahnung, was die Ursache seines Unfalls gewesen war.
Plötzlich ergriff ein dumpfes Entsetzen von ihm Besitz. Ihm war schlagartig bewußt geworden, daß er nicht wußte, wer er war. Er mühte sich angestrengt, seinen Namen herbeizurufen aus der inneren Dunkelheit, die seinen Geist erfüllte. Er mußte doch einen Namen haben, einen Familiennamen und einen Rufnamen. Aber aus seinem Innern ertönte kein Echo. Da war keine Stimme, die ihm seinen Namen zuflüsterte, nichts, nur schwarze Leere, die seine wirren Gedanken umhüllte. Er hatte vergessen, wer er war, wohin er gehörte, ob er eine Familie hatte, einen Beruf, Freunde.
Was ist nur mit mir los, dachte er. Kann man den einfach so seinen Namen vergessen? Nur aufgrund eines relativ glimpflichen Autounfalls? Bis auf die Kopfschmerzen fühlte er sich nicht schlecht, er hatte sich wohl nichts gebrochen. Auch konnte er keine schlimmen anderen Verletzungen ausmachen. Womöglich hatte er eine Gehirnerschütterung davongetragen, aber bis auf den bedauerlichen Umstand, daß er sich an nichts, wirklich nichts erinnern konnte, konnte er einigermaßen klar denken.
Plötzlich hatte er eine Idee. Das Handschuhfach! Papiere, Personalausweis, Führerschein, fuhr es ihm durch den Sinn. Er langte über die Mittelkonsole und öffnete das Fach. Nichts. Nichts außer einem alten Straßenatlas. Er faltete ihn auseinander in der Hoffnung, doch noch irgendeinen wertvollen Hinweis zu finden, doch vergeblich. Dann begann er, fieberhaft das ganze Auto zu durchsuchen. Er tastete mit den Händen den Boden unter den Sitzen ab, er kletterte in den Fond und inspizierte jeden Quadratzentimeter dort. Er öffnete den Kofferraum und untersuchte auch dort jede einzelne Ritze. Ohne Erfolg.
Zur nächsten Ortschaft. Ich muß zur nächsten Ortschaft, dachte der Mann. Ich brauche Hilfe.
Er versuchte den Wagen zu starten, dessen Kühlerhaube an dem Stamm einer großen Eiche eingedrückt worden war. Die Maschine bäumte sich ein paar Mal gequält auf wie ein tödlich verwundetes Tier. Dann gab sie den Geist auf.
Der Mann stieg aus und fand durch ein dichtes Wacholdergestrüpp aus der Senke hinaus den Weg auf eine einsame Landstraße. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Den Mann fröstelte. Eine Windböe griff kalt und hart in sein verschwitztes, blutverkrustetes Gesicht. Unvermittelt brach die Wolkendecke auf, und ein fahler Mond lugte hervor und warf sein geisterhaftes silberweißes Licht über die Einöde wie ein Fischer sein Netz.
Die Straße war kurvig und hatte ein ziemlich starkes Gefälle. Dennoch beschloß der Mann, den schwierigen Weg bergauf zu wählen. Er wollte in die Richtung gehen, aus der er gekommen war, in die Richtung, die in seine vergessene Vergangenheit führte. Als er oben angekommen war, mußte er verschnaufen. Die Schmerzen in seinem Kopf hatten sich durch die Anstrengung verstärkt. Außerdem schien sein linker Knöchel doch verstaucht oder angebrochen zu sein, so daß er hinken mußte. Als er den Scheitelpunkt des Anstiegs überschritten hatte, sah er in der Senke vor sich ein einsames warmes Licht leuchten. In etwa drei Kilometer Entfernung gab es eine menschliche Behausung. Hoffnungsfroh begann er darauf zuzuhinken, so schnell es sein geschwächter Zustand eben zuließ. Als er nahe genug herangekommen war, erkannte er, daß es sich um ein Landgasthaus handelte. Ein Messingschild mit einem stilisierten Keiler und der Aufschrift "Zum Wildschwein" knarzte leise im Nachtwind.
Drinnen stand der Wirt hinter dem schmucklosen Tresen und war mit dem Spülen von Biergläsern beschäftigt. Zwei Männer saßen auf Barhockern davor und erzählten sich saufselige Kneipenwitze. Ein Anderer in einer schäbigen grauen Cordjacke vertraute einem blinkenden Spielautomaten neben der Tür seine offensichtlich letzte Habe an.
Als der Mann ohne Namen vor den Tresen trat, musterten ihn die Anwesenden mit einer Mischung aus Ekel, Widerwillen und falschem Mitleid.
"Können Sie mir helfen", bat er. "Ich hatte einen Autounfall. Ich brauche Hilfe, einen Arzt. Können Sie eine Ambulanz für mich rufen?"
Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Es war ein bärbeißiger, untersetzter Mann, dessen Bauch sich unter der schmutzigen weißen Schürze, die er trug, weit vorwölbte. Sein rotblonder, struppiger Schnurrbart erinnerte an die Haarmode der Wikinger.
"Haben Sie wenigstens ein Telefon, damit ich selbst anrufen kann?" flehte der Mann ohne Namen. "Sie sehen doch, daß ich eine Kopfwunde habe und ganz voll Blut bin."
"Das Telefon ist da drinnen", raunzte der Wirt, ohne sein jämmerlich aussehendes Gegenüber aus den pechschwarzen Knopfaugen zu lassen.
Der Mann ohne Namen steuerte auf die Tür zu, auf die der Wirt gedeutet hatte.
Drinnen saßen drei Männer um einen runden Tisch, der mit billigem grünem Filz überzogen war. Die Männer hielten Spielkarten in den Händen, jeder fünf Stück. Einer legte gerade zwei davon ab und erhielt von dem der Tür gegenüber sitzenden Mann, der trotz des diffusen Lichtes eine Sonnenbrille trug, zwei neue zugeteilt. In der Mitte des runden Tisches türmten sich Geldscheine zu einem ansehnlichen knittrigen Haufen. Es mochten wohl an die 10.000 Euro sein, die dort aufgeschichtet waren. Blauer Zigarettenqualm waberte durch den Raum und reizte zum Husten. Der Geruch von Bier und billigem Whisky mischte sich mit dem Schweißbrodem der Zocker.
"Guten Abend", sagte der Mann ohne Namen.
Die Zocker blickten auf, ärgerlich, ihr Spiel unterbrechen zu müssen. Eine Mischung aus Feindseligkeit und Überraschung erfüllte ihre Mienen.
"Wo bitte ist das Telefon? Ich bin verletzt, hatte einen Unfall. Der Wirt sagte mir, ich könnte hier anrufen. Ich muß einen Arzt oder einen Rettungswagen verständigen. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Eine Gehirnerschütterung. Oder Schlimmeres."
"Eine Gehirnerschütterung?", sagte der Mann mit der Sonnebrille in gespieltem Bedauern, ein Mann mit raspelkurzen schwarzen Haaren und einer flachen pockennarbigen Stirn. "Das ist aber unangenehm. Da brauchen Sie ja wirklich Hilfe, was? Aber so ein Arzt ist teuer, oder sind Sie krankenversichert? Haben Sie denn auch Ihre Versichertenkarte nicht vergessen, wenn Sie hier so einsam durch gottverlassene Gegenden fahren? Ich seh's Ihrem Gesicht an. Sie haben sie vergessen, stimmt's? - Nun, das macht nichts, denn ich habe eine viel bessere Idee. Wir helfen Ihnen. Dann können Sie sich den Arzt sparen."
"Aber wieso? Ich verstehe nicht recht."
"Nun ja, wir dachten alle, es würde reichen, wenn wir dich bewußtlos schlagen und deinen Wagen den steilen Abhang hinunterrollen lassen würden, Manfred. Ein Autounfall eben, bedauerlich, aber leider nicht völlig unwahrscheinlich. Aber das ganze war wohl ein Irrtum. Ein Kunstfehler, sozusagen. Aber jetzt können wir dank deiner Hilfe ja noch etwas nachbessern, was, Manni? Wir mögen es nämlich gar nicht, wenn einer neu bei uns einsteigt und dann mit gezinkten Karten spielt."