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Manuskript meines Lebens
Wie kam ich zu dem Glauben und zu den Überzeugungen, die ich heute habe? Wie erklärt sich meine Einstellung zum Leben?
Ich bin den Klauen meines Vaters eigentlich im Alter von zwölf Jahren entkommen, aber doch beherrscht er mein Denken und Fühlen noch immer. Ich habe es nie geschafft wirklich nicht mehr an ihn zu denken. Ich ärgere mich noch immer über ihn, über seine Ignoranz, über sein Wesen.
Wie groß war der Einfluss meines Vaters auf mich, wie groß der meiner Mutter? Ich hoffe ich bin nur zu einem kleinen Prozentsatz wie mein Vater und zu einem wesentlich größeren wie meine Mutter.
Politisch bin ich keinem von beiden ähnlich, ich denke sie sind eher konservativ gewesen, klassische CDU –Wähler. Oder vielleicht noch FDP.
Was für Gedanken haben meine Eltern sich in meinem Alter gemacht? Meine Mutter hatte gerade zwei Kinder bekommen und meinen Vater geheiratet, als sie so alt war wie ich jetzt.
Mein Vater dürfte gerade in seiner zweiten Ehe gewesen sein.
Wie hat sich mein Glauben entwickelt, mein Glaube daran, dass die Seele meiner Mutter immer bei mir sein wird? Dass Gott so, wie die Kirchen und die Religionen es sich vorstellen, vermutlich nicht existiert. Dass Gott vielmehr eine Macht ist, eine höhere Macht, die ich so nicht „Gott“ nennen möchte. Diese Macht besteht aus den Seelen aller Menschen, aus den dunklen genauso, wie aus den hellen, die Seele eines Menschen spiegelt sich in seinem Wesen und in seiner Ausstrahlung wieder.
Heute Morgen saß mir in der S-Bahn eine Frau gegenüber, sie hatte eine grandiose Ausstrahlung, sehr selbstsicher und sympathisch, am liebsten hätte ich es ihr gesagt, wie stark ihre Ausstrahlung ist. Mein Vater hat eine Ausstrahlung, die abstoßend ist, mir kommt es zumindest so vor.
Ich denke, mein Glauben hat sich daraus entwickelt, wie ich geprägt wurde. Über die langen Jahre hinweg, die Tatsache, dass ich auch aus der negativsten Erfahrung einen positiven Aspekt ziehen kann, und auch muss.
Vielleicht macht das meine Kraft aus, die ich für mich aus allem ziehe. Negative Kraft nehme ich auf, wandele sie um in Arroganz und kann so meine Selbstsicherheit, die in dem Moment vielleicht gerade auf dem Boden liegt, mit einem Schauspiel aufrechterhalten.
Die Frage, wie es dazu kam, kann ich nicht wirklich beantworten, ich habe öfter auf dem Boden gelegen, bin aber auch schon immer wieder aufgestanden und habe mich berappelt, habe mich der Situation soweit es ging, gestellt. Es stellt sich die Frage, ob das Dummheit ist, oder Durchhaltevermögen.
Zwischendurch habe ich selber gesagt: Dummheit. Inzwischen weiß ich es ist Durchhaltevermögen.
Aufgewachsen als kleinstes von drei Geschwistern, und einem Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters, hab ich viel Prügel von meinen Brüdern kassiert. Es war nie so, dass meine Mutter sich dazwischen gestellt hat und gesagt hat: „Lasst die Kleine in Ruhe“, ich bekam viel mehr zu hören: „Wer mit großen Hunden pinkelt geht, muss das Beinchen heben können.“ Und da ältere Brüder für Argumente nicht zugänglich waren, und ich als 5jährige auch noch nicht sonderlich gut argumentieren konnte, artete es eben immer in handfeste Kabbeleien aus. Ich wurde von meinem Halbbruder auf den Tisch gehoben und dann so lange gekitzelt, bis mir alles wehtat und ich keine Luft mehr bekam.
Ich würde mich heute niemals laut über meine Kindheit beklagen, zum Beispiel, wenn ich jemanden neues kennen lerne, aber es war nicht wirklich schön, manchmal war es sogar ganz schön traurig und schrecklich.
Mein Vater war Tiefbauingenieur ich war damals vielleicht sechs Jahre alt, da bekam er wohl von seiner Firma den Auftrag Bauarbeiten in Lybien zu machen. Er reiste weg, und meine Mutter fuhr im nach, ich verstand das nie, wie gut oder schlecht es uns ging, ich war ja noch ein Kind. Wir haben in einem Reihenhaus zur Miete gewohnt, ich hatte ein paar Freunde in der Nachbarschaft, und durch den Kindergarten und die Grundschule gab es weitere Freunde. Manche davon habe ich danach nie wieder gesehen.
Eine beste Freundin hatte ich damals auch, Janet, komisch auch sie habe ich nie wieder gesehen.
Ich ging Sonntags in den Kindergottesdienst, zu Pfarrer Sieben, ich weiß gar nicht, ob meine Eltern in der Zeit in den Gottesdienst gegangen sind, viele Dinge, über die ich heute so nachdenke, kamen mir erst in den letzten zehn Jahren in den Kopf, sodass ich meine Mutter nicht mehr befragen kann. Meinen Vater möchte ich nicht befragen.
Aber zurück zur Familie. Mein Vater war für mich eine nicht anwesende Person, er ging morgens zur Arbeit, und kam abends wieder. Er lebte so neben uns her. Meine Mutter hat vormittags gearbeitet, soweit ich mich erinnern kann, nachmittags, wenn ich aus der Grundschule heimkam, war sie da. Meine Brüder gingen beide zur Schule, sie sind 8 und 10 Jahre älter als ich. Standen also mehr oder weniger mitten in der Pubertät und wollten ihr Abitur machen. Mein ältester Bruder, der Halbbruder, war schon verheiratet und hatte Kinder, ich war schon mit zwei Jahren Tante, mit vier war ich eine zweifache und mit sechs Jahren dreifache Tante. Aber er war nicht sonderlich oft bei uns. Ich war ein bisschen froh darüber, denn so wurde ich nicht ganz sooft gekitzelt.
Meine Mutter war eine beliebte Gastgeberin, wir hatten oft Besuch von Freunden und Verwandten, und wenn dieser Besuch da war, habe wir lange in dem Esszimmer gesessen und Essen zu uns genommen, was meine Mutter in stundenlanger Arbeit in der Küche hergestellt hat. Manchmal gab es auch Fondue, aber auch dafür hatte sie stundenlang in der Küche gestanden, selbst gemachte Kräuterbutter, das Fleisch schneiden, Brot aufbacken, Fett auf dem Herd heiß machen etc. Zu unserer Familie gehörte auch der Dackel meines Vaters, der Jagdhund von ihm, Asbach. Ich habe Asbach als kleinen Kerl in Erinnerung behalten, und eine Narbe am Arm habe ich auch noch von ihm, aber daran war ich selbst schuld, ich hatte Asbach am Schwanz durch die Küche gezogen, einmal quer durch. Und er war schon sehr geduldig mit mir, hat erst nach ca. 5 Meter zugebissen. Weder Asbach, noch ich haben ernsthaften Ärger dafür bekommen, ich war noch ein Kind und Asbach hat sich nur gewehrt.
Von diesen Jahren in dem Reihenhaus habe ich mir nicht viel gemerkt, ich wurde älter, und ging nicht mehr in den Kindergarten, sondern in die Schule und das war zwar aufregend, aber erinnern kann ich mich nicht mehr an viel. Daran, wie die anderen mich gehänselt und aufgezogen haben, erinnere ich mich noch. Ich war nicht besonders hässlich oder besonders dumm, ich war ich, ich hatte eben nicht den besonders tollen Schulranzen, ich hatte eben nicht die besonders tollen Klamotten, wobei das damals noch nicht einmal so schwerwiegend war, ich habe mir darum vielleicht mehr Gedanken gemacht, als die andern Kinder.
Ein Bild hat sich mir besonders eingeprägt. Unsere Schule war so angelegt, das die zwei Schulgebäude, die es gab, ihre Eingänge auf den Schulhof raus hatten, der war rechteckig, so dass die Schule über Eck ging. An der längeren Seite des Rechtecks lag das Gebäude, in dem die Kleinen waren, die erste und die zweite Klasse. Im den anderen Gebäude waren die dritte und die vierte Klasse. Das Gebäude für die Großen lag ein wenig erhöht zu den anderen Gebäuden, und es führte eine sehr flache Treppe mit sehr lang gezogenen Stufen zu dem Eingang hoch, die Art von Stufen, die für einen Schritt zu lang und für zwei Schritte zu kurz sind.
Meiner Erinnerung nach gehe ich diese Treppe hoch und hinter mir eine Traube aus Mitschülern, die sich über mich lustig machten.
Kinder können so grausam sein.
Ich erinnere mich viel besser an die Ferienspiele, die auch auf dem Schulgelände stattfanden. Damals gab es sowas, da waren die Kinder in den Sommerferien beschäftigt und die Eltern mussten nicht 6 Wochen Urlaub nehmen, um ihre Zöglinge im Auge zu behalten. An die Spaghetti und an den Erdbeer- Tee, den wir an jedem zweiten Tag bekamen. Und daran, dass wir mit dem Fahrrad zu dem Kronberger Schwimmbad gefahren sind. Da ist ein Mädchen ertrunken, es war schlimm, ich erinnere mich noch daran, dass die Betreuerin ziemlich fertig war deswegen.
Der Arbeitseinsatz meines Vaters in Lybien war nicht so erfolgreich, wie er es sich vielleicht gewünscht hat, so wie es mir erzählt worden war, kam mein Vater in einen Sandsturm und bekam Sand in die Lunge, er hatte schon vorher Asthma, aber dadurch wurde es noch verschlimmert. Er wurde wieder nach Deutschland geflogen und vom Flughafen direkt in die Uniklinik in Frankfurt gefahren. Er konnte danach nicht mehr arbeiten und musste alle paar Stunden an ein Inhalationsgerät, wo er mit Kortison inhalieren musste. Das Gerät hat einen furchtbaren Krach gemacht. Darum ist er aus dem Elternschlafzimmer ausgezogen, in das Arbeitszimmer. Ich glaube meiner Mutter machte es nicht sehr viel aus, dass mein Vater nicht mehr bei ihr im Schlafzimmer geschlafen hat. Ich habe mir auch nie Gedanken darüber gemacht, ob meine Eltern noch miteinander schliefen, erst heute, mit 31 Jahren, bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht der Fall gewesen ist. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber irgendwann bin ich zu meiner Mutter ins Elternschlafzimmer gezogen und habe mit ihr im Ehebett geschlafen.
Vorher habe ich in einem kleiner Zimmer geschlafen.
Ich hatte damals öfter zwei Alpträume, in dem ersten befand ich mich in einem großen rechteckigen Saal, mit sechs Türen, in jeder Ecke eine und an den Längsseiten jeweils auch noch mal eine. Ich stand mitten in diesem Saal, der einen Bodenbelag in Schachbrettmuster hatte, und plötzlich gingen die Türen auf und aus jeder Tür kam ein Geist auf mich zu, aus irgendeinem Grund versetzte mich dieser Traum immer wieder in Panik.
Der zweite Traum war sogar noch schlimmer für mich. Ich sah vor mir einen kleinen hellen Punkt, dieser Punkt fing an sich zu drehen, entwickelte sich zu einer Spirale, die immer größer wurde und sich immer schneller drehte. Aus beiden Träumen bin ich immer schweißgebadet erwacht. Ich erinnere mich nicht daran, ob ich diese Träume auch noch im Ehebett bei meiner Mutter hatte.
Mein Vater konnte auf jeden Fall nicht mehr arbeiten gehen, zumindest nicht mehr als Ingenieur. Meine Eltern fassten den Plan ein Haus zu bauen, und so kamen wir schließlich nach Glashütten. Ich war ungefähr neun Jahre alt, und durfte bei den Abholzungsarbeiten auf dem Grundstück helfen, ich kletterte die Bäume hinauf und band ein Seil so weit oben wie möglich um den Baum, damit meine Brüder den Baum dann, wenn er unten angesägt war, und fast umfiel, in die richtige Richtung ziehen konnten. Wir bauten nun ein Haus. Ein Holzhaus, da das so Energie sparend war. Geheizt wurde mit Gas, ich verstand das damals noch nicht. Wie fast alles.
Meine Brüder bekamen ihre Zimmer im Keller, mein Vater hatte sein Zimmer im Erdgeschoss, und meine Mutter und ich zogen im ersten Stock in zwei Zimmer. Wir sind in den Sommerferien umgezogen, so dass ich die Schule genau zum Klassenwechsel gewechselt habe. Ich ging in der dritten Klasse noch in Oberhöchstadt auf die Schule und in der vierten Klasse war ich dann in Glashütten. Da ich da nur ein Jahr zur Schule ging, erinnere ich mich nicht sonderlich an diese Schule. Aber dann kam die Förderstufe, die fünfte und die sechste Klasse, das war dann in Königstein. Die Taunusschule hatte damals keinen sonderlich guten Ruf, und nun sollte ich dahin gehen, eine lange Busfahrt jeden Morgen, und eine lange Busfahrt jeden Mittag zurück. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem es besonders schlimm geschneit hatte. Der Verkehr staute sich jeden Morgen sehr weit zurück, vom Königsteiner Kreisel zurück bis nach Glashütten, das waren um die 10 Kilometer. Also eigentlich keine Strecke. An dem Morgen, an dem es richtig lange gedauert hat, stand ich wie immer an der Bushaltestelle, der Schulbus sollte eigentlich um eine Minute nach sieben Uhr fahren, aber er kam erst gegen halb neun an, bis wir dann endlich in der Schule waren, war es halb eins, unsere Lehrer haben dann beschlossen, dass es keinen Sinn machte, wenn wir uns jetzt in den Unterricht setzen würden und dann wieder ähnlich lange bis nach Hause brauchen würden. Der Stau hatte sich dort ab mittags dann schon in die andere Richtung entwickelt. So wurden wir direkt wieder in den Bus gesetzt und konnten dann so gegen vier Uhr nachmittags wieder zu Hause sein.
Ich erinnere mich an die vielen kleinen tyrannischen Verhaltensmuster meines Vaters. Ich glaube er fing erst damit an, als wir nach Glashütten gezogen sind. Er schlug meine Brüder, das war allerdings auch schon früher der Fall wie meine Brüder mir später erzählten und er schlug mich, wir hatten einen Hund, der war unseren Nachbarn zugelaufen, und wir haben ihn dann aufgenommen, bzw. sie. Line, sie war ein Mischling, mit einem herrlich bunten Fell, und weißen Pfoten und einer weißen Schnauze und einer weißen Schwanzspitzen, ich fand das immer bemerkenswert. Mein Vater hat diesen Hund verprügelt und bekam es zurück. Einmal waren mein Vater und ich mit Line spazieren, sie hat nicht das gemacht, was mein Vater wollte, und daraufhin hat er seinen Spazierstock auf ihrem Rücken zerschlagen, mit nur einem Schlag, mein Vater hatte sehr viel Kraft. Line ist daraufhin weggelaufen, in den Wald hinein. Mein Vater und ich sind weitergelaufen. Und ein Punkt, der mein zukünftiges Gerechtigkeitsempfinden mit Sicherheit stark geprägt hat, war die Tatsache, dass mein Vater wenige Schritte weiter auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht ist und sich die Hand gebrochen hat. Ich musste mir das Lachen verkneifen. Line kam abends wieder heim.
Einmal hatte mein Vater mir Hausarrest erteilt, da er nun nicht mehr arbeiten konnte, musste meine Mutter ganztags arbeiten, somit lag die Erziehung von mir nun bei ihm, meine Brüder ließen sich nicht mehr viel sagen. Ich hatte Hausarrest und durfte aber noch Fernsehen, es gab unterschiedliche Abstufungen bei dem Arrest, den wir bekamen, Hausarrest, dann Hausarrest mit Fernsehverbot, dann Zimmerarrest. Ich durfte noch Fernsehen, es war die Vorweihnachtszeit, und ich schaute „Nesthäkchen“. Bei einer besonders traurigen Szene musste ich weinen, und mein Vater hat es natürlich nicht verstanden, was denn mit mir los sei, dass ich einfach nur wegen der Serie traurig war, kam in seinem Vorstellungsvermögen nicht vor. Ich weinte also, und er meinte ich wollte ihn ärgern, oder was auch immer, ich weiß es nicht, und werde es vermutlich nicht herausbekommen, auf jeden Fall entzog er mir das Recht weiter Fern zu sehen und ich sollte sofort ins Bett gehen, es war nachmittags, und ich hatte, da ich ja sowieso Hausarrest hatte das Nachthemd eh schon an. Da ich nun aber auch noch traurig war, dass ich Nesthäkchen nicht fertig gucken durfte, weinte ich noch mehr, und mein Vater hatte nichts besseres zu tun, als hinter mir her zu kommen, in mein Zimmer, mir die Bettdecke wegzuziehen und mir den Arsch zu versohlen, so hat er das immer genannt. Mein Vater trug eine Brutalität in sich, die ich nie verstehen konnte, ich will sie auch gar nicht mehr verstehen, ich konnte es nicht als Kind und als Erwachsene auch nicht. Meine Angst war und ist, dass ich eines Tages so werde wie er, dass ich die Gefühle meiner Kinder nicht verstehen kann und aus dieser Hilflosigkeit einfach zuschlage.
Das ist eine der schlimmeren Erinnerungen an meinen Vater, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, fallen mir keine positiven ein. Eine vielleicht, er ist zu der Beerdigung meiner Mutter gekommen. Und dann wieder gegangen, das war das positive.
Er hatte mir irgendwann mal einen seiner Schlafsäcke und fünfzig Pfennig geschenkt, und dann war er wieder sauer auf mich (keine Ahnung warum) und ich wollte ihm beides wieder geben, er war gerade dabei eine Halterung für die Balkontür in Glashütten an der Wand fest zu schrauben, weil sie immer zufiel, das Haus stand am Hang und irgendwann stand es auch schief. Ich kroch auf Knien zu ihm und wollte ihm den Schlafsack und die fünfzig Pfennig wieder geben, ich wollte es nicht haben.
Er holte aus und schlug mich.
Mein Vater hat mir nie gesagt, dass er mich liebt. Dass er mich lieb hat. Ich weiß gar nicht, warum mir das noch nie aufgefallen ist. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch, und ich brauchte fast zweiunddreißig Jahre um festzustellen, dass mein Vater mir nie einen Zuneigungsbeweis gegeben hat. Meine Mutter war auch nicht immer nett zu mir, aber sie hat mich getröstet, wenn ich traurig war, und sie hat mich auch geküsst, wie eine Tochter von ihrer Mutter geküsst wird.
Meine Brüder reagierten unterschiedlich auf die Art meines Vaters, Phillipp, der ältere, ist phlegmatisch, positiv ausgedrückt, er lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, schade nur, dass man sich solange nicht aus der Ruhe bringen lassen kann, bis man selber vor dem Scherbenhaufen seines Lebens steht. Der jüngere, Martin, ist meinem Vater so ähnlich geworden, dass es mich ängstigt, ich kann nicht mit ihm umgehen, ich bin immer skeptisch, wenn es darum geht ihn zu treffen, er ist unberechenbar, eben ist noch alles in Ordnung und plötzlich ist er arrogant und überheblich und aggressiv. Ich weiß nicht, ob er seiner Frau gegenüber genauso ist, und seinen Kindern. Ich kann zu ihr keinen rechten Draht finden, sie leben auch zu weit weg, als dass ich eben mal schnell zum Kaffee trinken zu ihr fahren kann.
Wie es Stefan, meinem Halbbruder, damit ergangen ist, kann ich nicht beurteilen, er lebte ja nie bei uns, er hatte seine eigene Familie, seine eigene Ehe, die in die Brüche ging, und hat dann neu geheiratet, vermutlich hat Sylvie, seine zweite Frau genau gewusst, was es mit meinem Vater auf sich hat. Denn sie hat immer Abstand zu ihm gehalten, und sich nicht auf ihn eingelassen, wie schlau diese Frau doch war. Stefan und sie waren anscheinend glücklich. Schade, dass sie sich auch auf mich nicht eingelassen hat, aber vielleicht lag es an meinen Genen. Ich war eben zu sehr die Tochter meines Vaters, als dass sie mit mir umgehen konnte. Stefan ist viel zu früh gestorben, an eine Leberzirrhose. Sylvie tat mir wirklich richtig leid, sie hat ihn wohl sehr geliebt. Eine weitere erschreckende Erkenntnis über meinen Vater hat der Tod von Stefan mit sich gebracht. Ich war gerade in Bonn und besuchte eine Freundin, als mein Handy geklingelt hat, ich hatte einen extra nervtötenden Klingelton für meinen Vater. Und darum ging ich nicht dran, als dann wenige Minuten später mein Bruder Phillipp anrief, wunderte ich mich, zu dem Zeitpunkt hatte ich seit ungefähr zwei Monaten nicht mehr mit meinem Vater gesprochen, und ich wusste nicht warum ich jetzt wieder damit anfangen sollte. Als mein Bruder aber anrief, wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Ich ging dran und mein Bruder sagte mir, dass Stefan gestorben sei, und dass die Beerdigung in zwei Tagen auf dem Friedhof in Oberhöchstadt stattfinden würde. Ich stellte mir vor, wie schlimm das für meinen Vater sein muss, seinen erstgeborenen Sohn zu verlieren. Also sprang ich über meinen Schatten und rief ihn an. Fragte ihn: „Vater, wie geht es Dir?“ Und er fing an, mir zu erzählen, dass er jeden Tag in die Uniklinik fahren müsste, und wie anstrengend das doch alles ist, und wie krank er doch gerade ist. Ich dachte mir, naja, vielleicht hat er mich nicht richtig verstanden, und fragte noch mal: „Vater, Du hast gerade erfahren, dass Dein Erstgeborener gestorben ist, wie geht es Dir dabei?“ Und er fing wieder an, darüber zu berichten, wie krank er doch sei. Er ist krank, das sehe ich inzwischen, seelisch, emotional, empathisch, im Bezug auf alles, was mit Gefühlen zu tun hat, ist dieser Mann krank. Sehr krank. Aber ich habe lange gebraucht um das zu verstehen. Inzwischen haben wir gut drei Jahre nicht miteinander geredet und ich warte nur darauf, dass mein Bruder Phillipp anruft und mir sagt, dass unser Vater gestorben ist.
Glashütten war, so im Nachhinein eine seltsame Zeit, ich kam in die Pubertät, wir feierten Weihnachten immer wieder mit unserer Tante Christel, ihrem Freund und späterem Ehemann Hans und meiner Großmutter Ama, und es war immer schön, ich vermisse diese Weihnachten, sie fehlen mir wirklich. Als meine Mutter gestorben war, wollte meine Tante diese Tradition aufrechterhalten, aber ohne meine Mutter? Ich fand den Gedanken schrecklich. Und wehrte mich dagegen. Ich verweigerte mich. Meine Tante kann bis heute nicht verstehen, dass diese Weihnachten nur und wirklich nur darum so besonders waren, weil meine Mutter da war. Die Erinnerungen an meine Mutter sind nicht durchweg positiv, in Glashütten war es dann so, dass die den ganzen Tag nicht da war, aber ich war schon etwas älter, so dass ich begriff, dass sie nicht neben uns her lebt. Sie hat abends, wenn sie nach Hause kam noch das Essen gekocht. Mein Vater hat meine Hausaufgaben kontrolliert, das war hart, denn er war sehr streng. Einmal saß ich an meinem Schreibtisch in meinem Zimmer und schrieb meine Hausaufgaben in Deutsch, er bemängelte meine Handschrift und schlug mich von hinten gegen den Kopf, während ich schrieb, meine Handschrift wurde dadurch noch schlimmer, und er konnte noch mehr mit mir schimpfen.
Irgendwann in dieser Zeit war es, dass ich die Gerüchte mitbekam, dass meine Eltern sich trennen wollen würden. Dass sie aber zusammenbleiben wollten, bis ich nicht mehr zur Schule gehe. Aber ich war sehr verwirrt durch diese Aussage, und in der Taunusschule war der Vertrauenslehrer, zu dem die Schüler mit ihren Problemen gehen konnten, zufällig mein Klassenlehrer, also ging ich zu ihm und legte ihm einen Zettel auf den Tisch, auf dem stand: „meine Eltern lassen sich scheiden.“ Er glaubte mir natürlich nicht, und da ich schon immer auffällig in meinem Verhalten war, und zusätzlich noch faul, also meine Hausaufgaben nicht machte, musste ich zur Schulpsychologin. Sie fragte mich, wie ich denn darauf käme? Ich sagte es ihr, dass meine Eltern sich um ihr Bier und ihren Schnaps stritten, dass meine Mutter und mein Vater ihre „Fächer“ im Kühlschrank hatten, dass meine Eltern sich nur anschreien, dass es ständig ums Geld geht, und alles, was mir noch so einfiel, auch, dass mein Vater mich schlug. Daraufhin sollten meine Eltern auch zu ihr in die Praxis kommen. Sie kamen. Und dann wurde es schlimm für mich.
Die Therapeutin fragte meine Eltern, ob ich geschlagen werden würde, und natürlich verneinten meine Eltern, aus welchem Grund weiß ich nicht. Ob es die Scham war, dass ihr Kind bescheuert ist, oder aus Scham, dass das Kind verprügelt wird, oder was es auch immer war, ich musste nicht mehr zur Therapeutin, ich wurde als einfach nur faul abgetan. Es wurde eine Vereinbarung zwischen meinen Lehrern und meiner Mutter getroffen, wonach meine Lehrer in meinem Hausaufgabenheft unterschrieben, was ich als Hausaufgaben aufgeschrieben hatte und meine Mutter musste das abends abzeichnen, nachdem sie kontrolliert hatte, das ich alles gemacht hatte.
Eine weitere schlimme Erinnerung an meinen Vater ist, wie er sich verhalten hat, als ich einmal weggelaufen bin. Da war ich elf, ich hatte meine blaue Sporttasche mit meinem Lieblingskuscheltier gepackt, einen Laib Brot, mein kleines Taschenmesser, mein Jeanssparbuch und ein Einmarkstück. Erst lief ich ein bisschen durch Glashütten, ich wollte mich eigentlich solange verstecken, bis irgendjemand anfängt mich zu suchen, aber das wurde mir schnell langweilig, also beschloss ich zu laufen, ich hatte kein bestimmtes Ziel, ich wusste nur, dass ich weit weg von meinem Vater wollte. Und so lief ich neben der B8 entlang. Angst hatte ich keine, ich war die meiste Zeit abends im Wald und Triebtäter waren mir damals noch kein Begriff. Also lief ich, die ganze B8 von Glashütten bis nach Königstein zum Kreisel, mir kam das damals wie eine richtig lange Strecke vor, heute weiß ich, dass es nur wenige Kilometer waren. Ich achtete immer darauf, ob der gelbe Audi meines Vaters irgendwo zu sehen sei, und als ich ihn dann sah, habe ich mich auf den Boden gelegt, damit er mich nicht sieht. Als ich in Königstein angekommen war, wusste ich immer noch nicht, wie ich hinwollte, aber da ich mein Sparbuch dabei hatte, bin ich dann nach Kronberg gelaufen, denn nur bei der Volksbank in Kronberg konnte ich von meinem Sparbuch etwas abheben. Also lief ich weiter. Als ich in Kronberg ankam, hatte die Bank schon zu, und ich wusste nicht weiter. Das einzige, was mir noch einfiel, war, dass ich zu einer Freundin meiner Mutter lief. Zur Petra, eine Künstlerin, die zu dem Zeitpunkt in Kronberg lebte. Mit etlichen Katzen. Als ich dort ankam, wollte ich nicht wieder nach Hause, aber sie redete lange und mit Engelszungen auf mich ein, dass mein Vater sich bestimmt Sorgen machen würde und dass wir unbedingt zu Hause anrufen sollten, irgendwann hatte sie mich soweit, ich erlaubte ihr meinen Vater anzurufen. Und das, was mich am meisten erschüttert hat, was mich immer wieder erschreckt, bis ins Mark hinein, ist die erste Frage, die er mir stellt: „Hast Du Deine Hausaufgaben gemacht?“
Meine Mutter hat mich dann abgeholt und ich denke ich habe ganz ordentlich Schläge kassiert. Hätte Petra mich doch nicht überredet zu Hause anzurufen.
An einem Nachmittag im Herbst war ich bei einer Freundin, Jasmin hieß sie, wir haben Frisör gespielt, und ein bisschen an unseren Ponies rum geschnitten, ich sollte um sechs Uhr abends zuhause sein, und da ich gebummelt hatte und von ganz unten in Glashütten nach ganz oben laufen musste, kam ich zu spät, ich meine mich zu erinnern, dass ich sogar noch aus einer Telefonzelle aus zuhause angerufen hatte und meine Mutter dran war, mein Vater war schon auf der Couch eingeschlafen, und sie wollte ganz leise sein, bis ich zuhause bin, damit er nicht merkt, dass ich zu spät bin. Er hat es doch gemerkt.
Eine weitere Erinnerung, die mich ein wenig mit dem Leben versöhnt hatte, war, als mein Vater sich so schwer an der rechten Hand verletzte. Wir haben Gartenabfälle in die Mülltonne geworfen und mein Vater wollte sie mit einem Blumentopf, den meine Mutter weggeworfen hatte tiefer in die Tonne drücken. Meine Mutter hatte den Topf sicherlich nicht umsonst weggeworfen, vermutlich war er kaputt, aber soweit hatte mein Vater nicht gedacht, es kam, wie es kommen musste, der Topf ging endgültig kaputt und eine Ecke des größeren Teils des Topfes schnitt meinem Vater das rechte Handgelenk bis zum Knochen durch, alles was in dem Handgelenk war, wurde dabei durchtrennt. Nerven, Sehnen und auch die Arterie. Das Blut schoss nur so aus meinem Vater heraus. Auf die Hauswand, knapp an mir vorbei, in den Garten, überall hin. Line bekam fast einen Blutrausch. An dem Tag wollten Leute kommen um sich das Haus anzusehen, es war wohl schon in der Trennungsphase meiner Eltern, denn das Haus sollte verkauft werden. Mein Vater drückte mit der linken Hand auf das Handgelenk und versuchte die Blutung zu stoppen. Dann lief er ins Haus und setzte sich auf die Treppe, ich lief in den Keller um meinen Bruder zu holen, und wir riefen einen Arzt. Mein Vater fing an eine Flasche Rotwein zu trinken, Alkohol verdünnt das Blut, und mein Vater blutete den ganzen Eingangsbereich voll. Line wurde inzwischen im Gäste- Bad eingesperrt, da sie ansonsten völlig durchgedreht wäre. Der Arzt kam und versuchte meinem Vater zu helfen, als mein Bruder Martin nach Hause kam, warf er einen Blick auf die Szene und meinte trocken: „Wollen wir nicht warten, bis ein richtiger Arzt kommt?“ Der Arzt war nicht sehr begeistert über diesen Kommentar. Die Leute, die sich das Haus ansehen wollten kamen auch inzwischen und mein Vater, emotionslos, wie er nun einmal ist und war, sagte ihnen, sie sollen sich ruhig im Haus umsehen. Einmal, als er für eine Operation an seiner Hand in Hofheim in der Klinik war, und wir ihn besuchten, war ich auf der Toilette und verwechselte den Lichtschalter mit dem Schwestern- Rufknopf, als die Schwester ins Zimmer kam und fragte, was denn los sei und klar wurde, dass ich aus Versehen die Schwester gerufen hatte, hat mein Vater doch tatsächlich ausgeholt und wollte mich schlagen, ihm wurde dann aber noch bewusst, dass ihm das mit seiner verletzten Hand mehr weh tun würde als mir.
Von dieser Verletzung hat mein Vater sich nie erholt, auch heute, gut sechzehn Jahre später hat er noch Schmerzen in der Hand, er hatte etliche Operationen und nichts half wirklich. Das nenne ich Gerechtigkeit.
Wann genau es war, dass meine Mutter endgültig realisiert hat, dass mein Vater nicht nur sie schlug, sondern uns alle, kann ich nicht sagen, ich weiß nur noch, dass es irgendwann geschehen ist. Und sie hatte über ihren Arbeitgeber eine Wohnung gefunden, die für sie und zwei Kinder reichen sollte. Aber da mein Vater so krank war, musste eines der Kinder bei ihm bleiben, ich stand bei dieser Entscheidung außen vor, weil ich zu jung war um meinem Vater eine Hilfe zu sein. Also entschied es sich zwischen meinen Brüdern. Ich weiß nicht mehr wie die Entscheidung getroffen wurde, aber im Zweifel wurde eine Münze geworfen. Phillipp sollte bei ihm bleiben, musste bei ihm bleiben. Und die Ironie dieser Entscheidung kam erst viele Jahre später, als mein Vater mir im Streit einmal mehr vorhielt, dass der Phillipp ja der einzige war, der zu ihm gehalten hatte, ich muss immer wieder laut lachen bei diesem Gedanken, er denkt wahrscheinlich auch heute noch, dass der Phillipp das gerne gemacht hatte. An diesem Tag, bei diesem Streit wollte ich nichts als meinem Vater weh zu tun, ihm all die Schmerzen zurückgeben, die er uns allen immer und immer wieder angetan hatte. Ich sagte ihm, dass keiner der beiden eigentlich bei ihm hatte bleiben wollen. Er hat es nicht begriffen.
Nachdem meine Mutter nun diese Wohnung hatte, und geklärt war wer mit wem ging, setzte sich meine Mutter beim Sonntagsessen hin und sagte wortwörtlich: „Ich ziehe aus, wer kommt mit?“ Martin und ich sagten sofort: „Ich.“ Und somit war das beschlossene Sache.
So kamen meine Mutter, mein Bruder Martin und ich nach Stierstadt, da es diesmal schneller gehen sollte, mitten im Schuljahr, in den Osterferien. Damals war ich in der siebten Klasse, also war ich zwölf Jahre alt.
Ab da waren mir die Probleme die meine Mutter mit Alkohol hatte das erste Mal bewusst geworden, sie kam gegen 17 Uhr aus dem Büro und trank ein Bier und einen Korn. Dann trank sie noch einmal dasselbe, dann kochte sie Essen und in der Zeit trank sie weiter, gegen 18 Uhr war sie dann soweit, dass sie den Korn direkt aus der Flasche trank. Sie vergaß, dass sie sich gerade eine Zigarette im Wohnzimmer angezündet hatte, ging in die Küche und zündete sich dort noch eine an. Sie zerfiel langsam, und ich war mir der Tragweite dieses Problems wirklich nicht bewusst. Wenn ich sie fragte: „Mami, warum trinkst Du?“ gab sie mir zur Antwort: „Überleg mal, was Du mir alles antust.“ Das kann schon ziemlich niederschmetternd wirken. Auf ein Mädchen von zwölf Jahren, welches am Anfang seiner Pubertät steht.
Damals wurde mir zum ersten Mal klar, wie sehr mein Bruder Martin unserem Vater ähnelt. Unsere Spülmaschine war kaputt gegangen und wir konnten uns keine neue leisten, also gab es fortan einen Spüldienst. Einmal, als ich am spülen war, bei geschlossener Tür, weil ich Radio hörte und mein Bruder Fernsehen geschaut hat, kam er plötzlich mit hochrotem Kopf in die Küche gerannt und schrie mich an, dass er es ja begriffen hatte, dass ich spüle, und dass ich aufhören sollte mich so überheblich zu benehmen. Ich weiß nicht was es war, was ihn davon abgehalten hat mich zu schlagen, aber ich glaube er war ganz kurz davor. Den Ausbruch habe ich nicht verstanden, aber ich habe ihn abgekriegt. Martin war dann bald beim Bund, und somit nur noch am Wochenende da. Das war nichts besonderes, ich war viel draußen, zum Spielen, war in der Schule, habe bei der Garde angefangen. Was man als pubertierendes Mädchen eben so tut.
Wenn meine Mutter getrunken hatte, wurde sie asozial, richtig abstoßend. Ich fing an sie dafür zu hassen, für dieses Verhalten, manchmal, wenn sie wieder betrunken im Sessel eingeschlafen war, stand ich mit einem ihrer großen Fleischermesser hinter ihr und überlegte, ob ich das jetzt wirklich machen soll. Ich habe sie meistens im Sessel schlafen lassen, am Anfang, weil ich auch ins Bett musste, wenn sie ging, und kein Fernsehen mehr schauen konnte. Meine Mutter hat damals im Wohnzimmer in einem Schrankbett geschlafen. Später dann, als sie wieder ein eigenes Zimmer hatte, weil Martin ausgezogen ist, musste ich auch ins Bett, weil ich ja auch wieder Schule hatte am nächsten Tag.
Meine Faulheit hatte sich nicht gelegt durch die Trennung, also gab es weiterhin die Regelung mit meinem Hausaufgabenheft.
Eines Abends, als meine Mutter wieder betrunken war und Martin nicht da war, saß meine Mutter beim Essen mir gegenüber und schaute mich mit verklärtem Blick an und sagte: „ Du bist Scheiße.“ Was sie dazu brachte, weiß ich nicht, ich glaube ich habe sie sogar mal gefragt, warum sie das getan hatte, sie erinnerte sich nicht, dass sie das überhaupt gesagt hatte.
Die Zeit in Stierstadt. Sie sollte für meine Mutter erst spät wirklich ein Genuss werden.
Durch meine Faulheit waren meine Leistungen in der Schule nie bewegend, ich mogelte mich immer nur so durch, ich war ja nicht dumm, nur eben stinkend faul. Und so machte ich auf der Integrierten Gesamtschule in Stierstadt nur meinen Hauptschulabschluss. Traurig, aber wahr, mit ein bisschen mehr Fleiß am Leib wäre vielleicht doch etwas Anständiges aus mir geworden. Meine Lehrer schlugen mir oder meiner Mutter dann wohl vor, eine weiterführende Schule zu besuchen, eine Berufsfachschule sollte es dann sein, ich würde die neunte Klasse zwar wiederholen, aber das wäre mir sicher hilfreich. Also machte ich an der Feldbergschule in Oberursel einen Aufnahmetest, und ich bestand ihn.
So besuchte ich nun die Feldbergschule Oberursel und dort die Berufsfachschule Metall. Ich hatte schon immer etwas für die handwerklichen Belange übrig.
Als ich noch in der Förderstufe war, hatte mein Vater mir irgendwann mal versprochen, dass er mit mir für ein Wochenende nach London fliegen würde, damit ich mein Englisch üben und verbessern könnte. Er hatte das schon wieder vergessen, aber ich eben nicht. Und als ich eines Abends meiner Mutter davon erzählte, hat sie sich ein Herz gefasst und meinen Vater angerufen, dass hätte im Normalfall niemals gemacht. Aber so tat sie es. Und mein Vater muss davon so sehr beeindruckt gewesen sein, dass er es tatsächlich machte, er fuhr mit mir ein Wochenende nach London, es war keine Freude, da er mir die ganze Zeit Vorhaltungen machte, dass er dafür eine ganze Woche St. Stefansburg mit meinem Neffen streichen musste und so nur noch zwei Wochen nach St. Stefansburg konnte.
Eine junge Frau sprach uns auf den Straßen von London an und fragte uns nach dem Weg, zufällig wussten wir ihn, ich wollte gerade anfangen ihn ihr zu erklären, und da fiel mir mein Vater ins Wort, zornentbrannt fiel er mir ins Wort, dass ich mich da raushalten sollte, ich wüsste doch gar nicht worum es geht. Später sah ich die Frau verwirrt durch die Straßen irren, ich glaube nicht, dass sie auch nur ein Wort von dem verstanden hatte, was mein Vater ihr gesagt hatte.
Als ich dann auf der Berufsfachschule war, hatte ich eine Zeit lang wohl sehr schlimmen Streit mit meiner Mutter, denn ich wollte auf einmal zu meinem Vater. Sie hat nicht mit mir gestritten deswegen, heute weiß ich, dass sie mich meine eigene Erfahrung machen lassen wollte. Zumindest denke ich mir das. Ich lebte also bei meinem Vater, ganze drei Wochen. Es war schlimm, schrecklich und ich wollte nur wieder zu meiner Mami.
Und sie nahm mich wieder auf. Ich bin sicher mit Freuden.
Eines Morgens in den Osterferien 1993 stand meine Mutter in meinem Zimmer am Fußende meines Bettes und sagte: „Wenn bis heute Mittag nicht mindestens drei Bewerbungen auf dem Tisch liegen fliegst Du raus.“ Ich hatte wohl schon zu lange ihre Frage nach Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz ignoriert. Ich machte mich an die Zeitung, sah die Stellenanzeigen durch und wurde fündig. Internet gab es damals sicher schon, aber nicht für uns. Ich rief bei der Telekom an und fragte, ob sie noch Ausbildungsplätze frei hatten und ob denn bald wieder ein Einstellungstest stattfinden würde. Zwei Tage später sollte ein Test sein, wir vereinbarten, dass sie mir die Einladung schickt und ich sollte ihr meine Unterlagen schicken. Gesagt – getan. Ich bestand den Test, und bekam am gleichen Tag noch gesagt, dass ich einen Ausbildungsvertrag bekommen würde.
Nachdem meine Eltern sich getrennt hatten, habe ich meinen Vater regelmäßig am Wochenende besucht. Heute denke ich darüber nach, ob meine Mutter sich damals einsam gefühlt hatte, wenn ich nicht da war. Einen Freund hatte sie meines Wissens nicht. Erst später einmal, war da ein Mann, meine Mutter und er trafen sich ab und an, und wenn das der Fall war, habe ich mir eine Pizza oder Nudeln bestellt und mich dann in mein Zimmer zurückgezogen. Als die Sache anscheinend ernster wurde, sollten er und ich uns kennenlernen. Der Tisch war schön gedeckt, und er kam. Sein erster Kommentar, als er den Tisch mit drei Gedecken sah, war: „Ja wie, holst Du Dir heute keine Pizza?“ Und ich antwortete: „ Nein, Mami will, dass wir uns kennen lernen.“ Und das taten wir. Ein schrecklicher Mann. Er war wohl noch verheiratet und hatte selber Kinder. Meine Mutter und ich unterhielten uns und als eine kurze Pause entstand, sagte er zu meiner Mutter: „ Ich finde ja, alles was Kinder und Jugendliche bei Tisch sagen, sollte ignoriert werden.“
Keine Ahnung, ob er begriffen hat, dass wir im zwanzigsten Jahrhundert waren, wenn er es begriffen hatte, weiß ich nicht wann, es war das letzte Mal, dass ich den Mann gesehen habe. Und auch das warf meine Mutter mir manches Male vor.
Mein Leben war von Vorwürfen geprägt, warum hast Du dies so getan? Warum hast Du das nicht anders gemacht? Warum hast Du etwas überhaupt gemacht? Oder auch schön: Warum hast Du etwas nicht gemacht? Ich habe immer und generell alles falsch gemacht, wenn ich es so gemacht habe, hätte es genau umgekehrt sein müssen.
So kam es mir zumindest vor. In meiner Familie.
Was meiner Mutter und mir sehr gut tat, war, als ich im zweiten Ausbildungsjahr, etwa vier Monate nach meinem achtzehnten Geburtstag zu ihr sagte: „Du Mami, was hältst Du denn davon, wenn ich ausziehe?“ So betrunken meine Mutter in diesem Moment auch war, sie war auf einen Schlag nüchtern.
Ich hatte eigentlich schon alles geregelt, das hatte ich wohl von ihr gelernt. Eigentlich hätte ich keinen Anspruch auf ein Zimmer im Wohnheim gehabt, weil ich zu nahe an der Niederlassung wohnte, aber da ich das Ganze über unsere Sozialbetreuung geregelt hatte, durfte ich ins Wohnheim ziehen.
In diesem Moment, als ich sie fragte, wartete nur noch der Vertrag mit dem Wohnheim auf meine Unterschrift. Und sie sah mich an, mit ihren blauen Augen, die leuchteten, und plötzlich so klar waren und sagt: „Du, Suse, ich glaube das ist eine sehr gute Idee.“
Und so zog ich aus. Mit achtzehn. Darauf bin ich sehr stolz.
Ich vermisse meine Mutter immer wieder. Kein Wunder, kein Scharlatan, kein Zauber, nichts auf dieser Welt kann sie zurück bringen, zurück zu mir und meinen Brüdern.
Ich zog ins Wohnheim, ich fand das so schön, ich war auf einmal unabhängig, musste niemandem Rechenschaft ablegen und genoss diese Zeit.
Mit meiner Mutter blieb ich natürlich in Kontakt, wir telefonierten viel, ich hatte endlich den Rhythmus ihrer Alkoholsucht erkannt und rief niemals nach 18 Uhr an. Da konnte man schon nicht mehr mit ihr reden.
Eine Ungerechtigkeit die sich mir auch immer mal wieder ins Gedächtnis schleicht, ist die, dass meine Brüder den Führerschein bezahlt bekamen. Ich nicht, denn da war kein Geld mehr da. Meine Eltern waren pleite.
Meine Mutter starb am 9. März 1998. Das ist mein persönlich schlimmster Tag. Der Tag an dem meine Mutter starb. Mein Vater starb nicht. Noch immer nicht. Er weilt noch immer unter uns. Alle Nachbarn, die er inzwischen so hat, finden ihn ganz nett, ein netter älterer Herr eben. Diesen Tyrannen, Schauspieler, Arsch. Mein Glück, dass ich meiner Mutter so ähnlich sehe, denn ich müsste sonst vermutlich jeden Morgen brechen, wenn ich in den Spiegel sehe und das Gesicht meines Vaters sehe. Ich habe lange versucht ihn respektvoll zu behandeln. Denn er ist immer noch mein Vater. Ich habe mich um ihn gekümmert. Obwohl er alle gegeneinander ausgespielt hat. Ich habe ihn regelmäßig besucht, als ich dann den Führerschein gemacht hatte und auch ein Auto, bin ich zu ihm gefahren. Ich habe sogar meinen Geburtstag mit ihm zusammen gefeiert, weil wir am gleichen Tag haben, mir ging das in der Pubertät und mit einundzwanzig schon sehr auf den Geist, ich wollte es nicht mehr. Als es ihm sagte, war er so böse auf mich, dass wir ein Jahr lang nicht miteinander geredet haben. Eine schöne Zeit. Aber später haben wir das dann wieder getan. Einmal. Und es war so peinlich, er war sehr betrunken und hat während er sich mit meinen Freunden unterhalten hat gesabbert, der Speichel ist ihm aus dem Mund gelaufen und er hat sein Rotweiglas so schief gehalten, dass der Wein auf seine Hose lief. Er hat es noch nicht einmal gemerkt.
Ich fuhr mit ihm zu Freunden meiner Mutter, und er hat sich daneben benommen, wo es nur ging, hat sich bei mir darüber beklagt, dass es ja doch sehr spartanisch wäre, wo wir schliefen. Er stellte immer Fragen und ließ niemanden ausreden. Das war dann auch der Grund, warum wir uns, hoffentlich endgültig, zerstritten haben, an dem Tag, an dem wir wieder nach Hause fahren wollten, hatte er morgens ein Buch über Aquarien gefunden, das Buch stammte aus den Siebzigern, war also nicht gerade aktuell. Er stellte mir Fragen zu meinem Aquarium und ließ mich dann nicht ausreden, als er das das dritte Mal getan hatte, habe ich ihm gesagt, wenn Du es nicht wissen willst, frag nicht. Er beschimpfte mich, was mir denn einfallen würde, so sehr wäre er ja noch von keinem seiner Kinder beleidigt worden. Den Satz hatte ich schon so oft über meine Brüder gehört, dass ich ihn nicht ernst nahm. Ich schlug ihm vor, dass ich ihn gerne an einem beliebigen Bahnhof absetzen könnte, und ab da sprach er nicht mehr mit mir, ich war dankbar dafür.
Das einzige Mal, dass wieder miteinander redeten, war, als Stefan gestorben ist.
Heute bin ich überzeugt, dass mein Leben so, wie es gelaufen ist gut für mich war, es waren schlimme Zeiten dabei, ja, es waren schmerzliche Zeiten dabei, ja. Aber im Großen und Ganzen hat es mich geprägt und den Menschen aus mir gemacht, der ich bin.
Ich trauere vielen Dingen nach, ich hätte vieles anders erlebt. Ich verstand lange Zeit nicht, wenn Menschen ihre Familie nicht schätzten, aber ich bin auch entspannter geworden, weil ich einsah, dass es hinter jedem Menschen eine Geschichte gibt, eine Begründung für sein Verhalten, vielleicht ist das auch der Grund, warum ich meinen Frieden mit meinem Vater geschlossen habe, ich verstehe nun, dass er frei von Gefühlen ist, kein Verständnis für Gefühle hat.
Es gab eine Zeit, da hat er mir vorgejammert, wirklich vorgejammert er würde sich umbringen, damit das alles endlich ein Ende hätte, er hatte sogar Tränen in den Augen. Ich habe mir keine ernsthaften Sorgen darum gemacht, er hätte die Möglichkeit gehabt, ja, aber er besitzt nicht genug Mut dazu. Er ist zu feige. Ich hatte mich vor ihn gestellt und gesagt: „Dann tu es endlich, erzähl nicht nur andauernd, dass Du es machen willst, sondern tu’s!“
Danach hat er nie wieder ein Wort darüber verloren, das ist schon über vier Jahre her, er weilt immer noch unter uns.
Mein Vater hat immer allen vorgehalten, dass sie ihn ausnehmen, dass meine Mutter ihn um seine Lebensversicherung gebracht hätte, weil er die für das Haus aufgebracht hätte und er dann nichts zurückbekommen hätte. Etwas Ähnliches hat er auch über den Stefan behauptet, der hätte ihn um 32.000 DM betrogen, hätte das vom gemeinsamen Konto abgehoben und sich dann nicht mehr gemeldet. Geld war für meinen Vater immer das zentrale Thema, daher habe ich es wohl auch, dass ich sehr griesgrämig werde, wenn auf meinem Konto mal wieder Ebbe herrscht.
Es war eine harte Schule, sie hat einige Narben auf meinem Wesen zurückgelassen, aber ich kann mit Narben umgehen, sie verheilen gut und verblassen auch immer mehr. Ich möchte nur eines, dass ich nicht so werde wie mein Vater, dass ich meine Kinder und meinen Mann lieben werde, und auch Verständnis für sie haben werde. Mit mir selber bin ich im reinen, ich mag mich selber so, wie ich bin. Will an meinem Wesen und an meinem Körper nichts Wesentliches geändert haben. Ich liebe das Leben im Allgemeinen und mein Leben im Besonderen. Ich bin glücklich. Endlich.