Marcallo
Marcallo stand unterhalb eines hochaufragenden Kliffs, auf einem kurzen Stück Strand schneeweißen feinen Sandes. Der Strand wurde von dem Kliff eingerahmt, wie eine Bühne, auf der Gaukler ihrem Handwerk nachgingen. Die Felsen ragten hoch über Marcallo auf und es hatte ihn einige Zeit gekostet, überhaupt den kleinen steinigen und steilen Pfad in dem Licht der aufgehenden Sonne zu finden, der hier herunter führte. Der Streifen begehbaren Strandes war gerade zehn Schritt breit und zwanzig in der Länge. Die Wellen rollten unablässig mit kleinen weißen Schaumkronen an den Strand und verliefen in kleinen Rinnsalen im Sand. Nahe beim Ufer standen kleine Felsen im Wasser, an denen sich Wellen brachen und Gischt in kleinen Wassertropfen durch die Luft schweben ließen, die nun Marcallos Gesicht benetzten und ihm Abkühlung brachten, denn die Sonne hatte die Erde schon in große Wärme getaucht, obwohl es noch früh am Tage war.
Marcallo stand am Strand, das Gesicht in dem Himmel gereckt, um die Sonne zu spüren, und genoss es, wie das Wasser auf seiner Haut sich verflüchtigte, nur um sogleich wieder durch einen neuen leichten Wasserfilm ersetzt zu werden.
Er schaute hinaus aufs Meer und konnte seine Weite förmlich spüren, die Sehnsucht in dem Wind, der ihn umstrich, riechen. Eines Tages würde er dieser Sehnsucht folgen, aber jetzt noch nicht.
Der kleine Strand konnte nur von der Meerseite eingesehen werden und auch dort nur von manchen Positionen, da die Felsformationen im Wasser die Sicht versperrten.
Hier würde ihn keiner stören, hier konnte er die vollkommene Ruhe finden, die er brauchen würde.
Marcallo drehte sich um und ging zum Ende des Pfades am Fuße des Kliffs. Dort angekommen zog er seine schweren Lederstiefel, die er immer trug und die dezent verziert waren mit Jagdszenen, aus. Er wollte den Sand zwischen seinen Zehen spüren, sie eingraben und mit dem Boden verwurzeln können.
Dann schnallte er seinen Waffengurt ab, an dem sein Dolch und sein Schwert hingen, die beide unverziert waren und in eben solch schlichten Scheiden steckten. Sie waren einfach gehalten, rein für ihren eigentlichen Zweck geschaffen und den erfüllten sie auch gut.
Danach entledigte sich Marcallo ebenso auch noch seines Hemdes, denn er wollte auch auf seinem Oberkörper fühlen, wie die Gischt ihm Linderung von der Hitze der Sonne brachte, wenn sie erst vollkommen aufgegangen war.
Anschließend griff er zu seinem Schwert und zog es aus seiner Scheide. Die Spitze der Klinge reflektierte das Licht der aufgehenden Sonne in alle Richtungen, so dass es aussah, als ob eine zweite kleine Sonne am Strand aufgegangen war. Sie leuchtete förmlich und man konnte die innere Kraft, die ihr vom Schmied gegeben worden war, erahnen.
Marcallo ließ die Scheide in den feinen Sand fallen und ging mit dem Schwert in der Hand Richtung Meer, gerade so nahe, dass seine Füße eben nicht von den an den Strand laufenden Wellen berührt wurden. Dort steckte er sein Schwert senkrecht in den Sand, ging zuerst auf das linke Knie und dann auf das rechte. Er setzte sich aufrecht hin und legte die Hände mit den Handflächen nach oben verschränkt in seinen Schoß.
So blieb er für eine lange Zeit und begann seinen Geist von allem zu befreien und zu reinigen, was ihn ablenken konnte oder beschäftigte, Dinge, die nicht der Mühe wert waren, über sie nachzudenken und die kleine Ärgernisse waren, verschwanden augenblicklich.
Mit der Zeit gelang es ihm, auch die größeren Probleme, die seinen Geist und seine Seele beschäftigten, aus seinen Gedanken zu verbannen, sein Kopf war jetzt vollkommen leer.
Es gab nichts mehr außer ihm, das Kliff, die Sonne und die Gischt auf seiner Haut, den weißen Strand unter seinen Füßen und das offene Meer, dessen Wellen von Sehnsucht und fernen Ländern und Abenteuern sangen.
Nachdem er den Zustand für einige Sekunden gehalten hatte, begann er.
In einer einzigen anmutigen Bewegung stand er auf und ergriff mit seiner rechten Hand sein Schwert. Er begann mit langsamen Bewegungen, führte das Schwert in verschiedene Richtungen, drehte seinen Körper um seine eigene Achse, ließ sich fallen und stand wieder auf. Die Namen der Bewegungen kamen in sein Bewusstsein, füllten sich mit Leben und gingen vorbei.
Er führte beide Arme jeweils zur Seite und überkreuzte seine Beine, dabei brachte er seinen Körper parallel zum Boden.
Der Adler breitet seine Schwingen aus.
Er spürte wie der Wind unter seine Flügel griff und ihn weit hinaus aufs Meer trug, das nun tief unter ihm lag: Klar, blau und unendlich bis zum Horizont und weiter. Der Wind strich über seine Federn, verfing sich in ihnen, spielte mit ihnen und gab sie dann wieder frei. Seine Augen gaben ihm eine Sicht wie noch nie zuvor, tief unter sich sah er den kleinen Strand eingeschlossen von dem Kliff, auf dem Büsche und Sträucher in großer Zahl wuchsen und in allen Farben des Regenbogens blühten. Es war eine Farbenpracht, die ihm sonst entging, nur von hier oben konnte er das Farbenspiel zwischen den Blüten sehen.
Er wollte höher steigen und ließ sich von dem warmen Aufwind, der von der Küste kam, immer höher tragen, hinauf zur Sonne, die jetzt erreichbar erschien. Fast erreichte er sie, da wurde es zu warm und er ließ sich Richtung Meer fallen, um im Wasser Abkühlung zu finden.
Marcallo setze den linken Fuß vor seinem rechten auf dem Fußballen auf und ließ seine Schwertspitze aus einer hohen Position heraus Richtung Boden fallen.
Der Eisvogel taucht ins Wasser.
Er tauchte ins Wasser ein und spürte sofort die belebende Wirkung des Wasser, seine Federn wurden nass, aber es war eine angenehme Nässe, die Linderung von der Wärme der Sonne brachte, die so hoch oben über den Meer geherrscht hatte.
Er folgte den Lichtstrahlen der Sonne in die Tiefe des Meeres, soweit wie er konnte. Wie ein Pfeil, anmutig und schnell tauchte er, dann vollzog er eine Drehung und stieg hinauf zu dem Lichtkranz, der sich in einzelne Lichtstrahlen zerfaserte und das ganze Meer in unwirkliches schönes Licht tauchte. Immer schneller stieg er hinauf und durchbrach schließlich die Oberfläche des Wassers.
Marcallo führte sein Schwert im Kreis hoch über seinen Kopf, die Spitze leicht nach unten geneigt und beide Hände hoch erhoben, die linke berührte die rechte, das linke Bein angehoben.
Der Delphin springt über die Sonne.
Er tauchte wieder ins Wasser hinab. Sobald seine Schnauze das Wasser durchbrochen und auch seine Schwanzflosse wieder in seinen heimatlichen Gefilden war, begann er mit kräftigen Stößen seiner Flosse immer schneller zu werden. Er verfolgte eine gerade Linie, bis er das offene Meer erreicht hatte. Dort umkreiste er spielerisch einen Fischerkahn. Die Menschen an Bord applaudierten ihm, wenn er einen Salto machte oder sich um seine Achse drehte. Er bordete über vor schierer Lebenslust.
Aus Spaß jagte er einen kleinen Schwarm Fische vor sich her und ließ dann von ihnen ab, wand sich um zur Küste, zu den Wellen, die sich an den Felsen im Wasser brachen. Er holte Anlauf, begann noch einmal all seine Kraft in seine Flosse zu legen und schoss dann aus einer der Wellen, direkt aus ihrer Schaumkrone, hervor.
Marcallo machte mehrere schnelle Schritte, sprang dann ab drehte sich in der Luft und landete in einer tiefen Stellung.
Der Tiger springt über den Fluss.
Seine Pranken gruben sich bei der Landung tief in den weichen Untergrund. Die Vorderbeine, auf diese Weise fest verankert im Boden, ließ er stehen und bewegte den Rest seines Körpers um sie als Drehachse herum und ging sofort in eine lauernde Stellung über.
Er beobachtete.
Er wartete auf ein unachtsames Tier, was sich dem Meer nähern würde, in der Hoffnung, es reißen zu können. Dann sah er eine Möwe am Strand sitzen, zu klein, um seinen Hunger zu stillen, aber zur Unterhaltung gerade geeignet. Langsam, vorsichtig schlich er sich an, er konnte spüren, wie sich seine Muskeln unter seinem Fell bewegten, ihren Wechsel zwischen Spannung und Entspannung. Er fühlte die Kraft in ihnen und genoss dieses Gefühl. Kurz bevor er die Möwe erreichte, bemerkte sie ihn und er sprang, doch sie war schneller und er sprang ins Leere. Ohne sich anmerken zu lassen, dass er nicht schnell genug gewesen war, eilte er einfach weiter. Er fand Gefallen daran zu spüren, wie die Muskeln seiner vier Beine so perfekt zusammen arbeiteten. Er lief jetzt genau an der Grenze zwischen Meer und Land entlang, wo die Wellen endeten und seine Pranken Kühle fanden, die so nötig war, denn mittlerweile war der Sand des Strandes sehr warm geworden. Er lief immer weiter in der Hoffnung, dass der Strand kein Ende nähme, dass er von ihm in die Ferne geführt werde. Er lief und lief und doch bewog ihn eine innere Kraft sich herumzuwerfen.
Marcallo verlagerte sein Gewicht vom rechten auf das linke Bein und führte sein Schwert in einem geraden Stoß nach vorne.
Der Drache speit sein Feuer.
Er hatte tief Luft geholt, weniger zum Atmen, er brauchte sie zum Feuerspeien, dann ließ er seinen Feueratem los.
Es wurde mit einem Mal noch viel wärmer, trotzdem hörte er nicht auf, bis er wieder atmen musste. Als dies geschah, stieg er mit einem gewaltigen Schlag seiner ledrigen Flügel in die Mittagssonne hinauf. Er flog landeinwärts und ließ schon bald das Kliff hinter sich zurück in der Ferne.
Er flog über die Wälder, die bis an das Meer heranreichten und darüber hinaus, über die weite, große Ebene, die dahinter lag. Er flog über die weite, offene Fläche der Felder, die die Menschen hier angelegt hatten und die nun in vollem Korn standen und goldgelb erstrahlten.
Dann kehrte er wieder zum Meer zurück und strich dabei so tief über die Landschaft, dass sich die Ähren des Korns und die Wipfel der Bäume in dem Wind, den er erzeugte, wiegten.
Bei seiner Rückkehr ans Meer stieg er steil nach oben, so weit wie er konnte, und blieb mit gleichmäßigen Schlägen seiner Flügel in der Luft stehen. Seine ganze Haltung wirkte majestätisch, gebieterisch, wenn man ihn so sah, wusste man, dass man ein uraltes und weises Wesen beobachtete.
Er holte noch einmal tief Luft und spie sein Feuer, als Herausforderung an die Sonne, um ihr zu zeigen, dass seine Flammen heißer brannten als alles, was sie aufbieten konnte.
Dann ließ er sich langsam zu Boden sinken. Er landete in der Nähe des Strandes im Meer, rollte sich zusammen und ließ die Wellen über sich hinwegziehen.
Sie benetzten seine Haut und brachten ihm etwas, was er selbst nicht erzeugen konnte. Ein angenehmes Gefühl der Kälte.
Marcallo kniete im Meer, so dass die Wellen seinen Oberkörper mit ihrem Wasser benetzten. Sein Schwert steckte vier Schritt hinter ihm im Sand.
Er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig und gleichmäßig.
Nicht nur sein Atmen war ruhig, auch er selbst ruhte nun vollkommen in sich selbst.
Er öffnete die Augen.
Er war jetzt bereit.
Bereit für die anstehenden Kämpfe des Tages.
Marcallo ging zurück zum Ende des Pfades, ergriff auf dem Weg sein Schwert und begann, sich dort wieder anzukleiden. Nachdem dies geschehen war, nahm er ein Tuch aus einer Tasche seines Gürtels und säuberte die Klinge seines Schwertes, bevor er es in seiner Scheide verstaute und den Aufstieg begann.
Oben angekommen schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes, das geduldig gewartet hatte.
Marcallo warf vom Rücken seines Pferdes noch einen Blick auf das Meer, das sich vor ihm ausbreitete, mit einem Ausdruck tiefster Sehnsucht in den Augen.
Dann ließ er sein Pferd eine Kehrtwendung machen und ritt davon.
Er würde an diesen Ort zurückkehren.
Eines Tages.