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Marek
Der Raum lag im Halbdunkel, nur die winzigen LEDs der Kontrollsensoren rundum tauchten ihn in grünes Licht. Marek hielt still. Wann immer er sich bewegte, wechselten die Dioden zu Gelb, und das Panel direkt über ihm flammte auf. Das Display seiner Armmanschette zeigte eine erhöhte Herzfrequenz und den Abfall seiner Körpertemperatur um 0,6 Grad unter den Durchschnitt. 4:49 Uhr. Marek biss einen Hautfetzen vom Nagel seines linken Daumens. Er drehte ihn zwischen Unterlippe und Schneidezahn und spuckte ihn aus.
Als er sich aufrichtete und zum Esstisch ging, erhellten die Flächenlichter der Rasterdecke den Raum auf exakt sechstausend Lumen. Marek zog einen der Stühle zu sich und legte ihn auf die Seite. Auf dem Display an seinem Arm erloschen alle Parameter, stattdessen blinkte ein einzelnes Wort: Sperrstunde.
Marek stieg mit dem Fuß auf eines der Edelstahlbeine, und die Verankerung an der Unterseite der Sitzfläche brach. Im Uhrzeigersinn drehte er das Metallrohr bis es sich vollständig ablöste. Die Dioden um Marek flackerten zwischen Gelb und Orange, und sprangen auf Rot, als er sich am Fenster zu schaffen machte.
Auf dem Gehsteig vor dem Haus trat Marek einen der zahlreichen Bodenreinigungsdroiden beiseite, von der gegenüberliegenden Straßenseite her beobachtete ihn eine junge Frau.
Das war das vierte Mal diesen Monat, dass er das nächtliche Ausgangsverbot missachtete. Das und die Sachbeschädigungen werden ihm weitere negative Credits einbringen. Marek grinste, drückte sich die In-Ears in die Ohren und aktivierte die Playlist. Is this the real life? Is this just fantasy?
Er lief die Straße hinunter, an der Ecke angekommen balancierte er eine ansteigende Mauer hinauf. Neben ihm flirrten Reklameboards bläulich im Standbymodus. Marek ließ die Finger der rechten Hand über das kühle Glas gleiten und hinterließ breite Schlieren. Augenblicklich rauschten augapfelgroße Dornen heran und machten sich über die Talgreste her.
Am Ende der Mauer schwang er sich über das letzte Display der Reihe und setzte seinen Weg auf dem dahinterliegenden Stahlgerüst fort. Eine Ratte saß zwei Schritte vor ihm auf dem hölzernen Belagboden und starrte ihn an. „Verzieh dich!“, knurrte Marek und stampfte mit dem Fuß auf. Das Tier wurde in die Luft gehoben und stob davon, als es wieder Boden unter den Füßen hatte.
Zwei Gerüstfelder weiter gelangte er zu einem offenstehenden Durchstieg, der nach unten führte. Marek kletterte die Leiter hinunter und wandte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Am Ende des Stahlkonstrukts war der angrenzende Erdwall eingebrochen, Dreck und größere Steine hatten sich über die letzten, mit dicken Schaumstoffplatten ausgelegten Gerüstbohlen geschoben. Marek blieb stehen und sah nach oben. Freddy und die anderen hauchten irgendetwas von wegen gedrehtem Wind, und die Welt da draußen erwachte zum Leben.
Die Nacht wurde Schlag fünf zum Tag. Die Stille machte einem synthetischen Vogelgezwitscher Platz, durchzogen von säuselnden Stimmen, die für wenige Credits das Blaue vom Neonhimmel versprachen. Marek steckte die In-Ears in die Jackentasche und lehnte sich gegen die Gerüststangen hinter ihm.
Der Boden unter seinen Füßen begann zu vibrieren. Marek schluckte, richtete sich auf und vergewisserte sich, dass er exakt in der Mitte des Gerüstbodens stand. Die Beine schulterbreit gespreizt beugte er leicht die Knie. Die Vibration nahm zu, Geröll umschloss seine Knöchel. Mit einem Rauschen sackte er knapp zwei Meter tiefer. Der abrupte Fall wurde abgefedert, nicht annähernd genug. Marek rappelte sich auf, diesmal war er nach vorne gestürzt. Er rieb sich die Stirn und hob die Hand vor die Augen. Kein Blut.
Marek atmete tief durch die Nase ein und stieß die Luft geräuschvoll durch den Mund aus. Leicht humpelnd betrat er den unbeleuchteten Gang vor ihm und sang: Nothing really matters to me.
Am Ende des Ganges konnte er kaum mehr die Hand vor Augen erkennen. Marek stieß die Tür auf, die ihm den Weg versperrte, und schloss für zwei, drei Sekunden die Augen. Er blinzelte und trat in den hell erleuchteten Raum, in dem ein gewaltiger Android mit abgerissenem Kopf vor einer weiteren Tür stand. Der Kabelbaum, der aus seinem Hals ragte, war mit dem demolierten Display an der Wand neben ihm verbunden.
Der grüne Leuchtstreifen wanderte bereits über Mareks Schienbeine, beleuchtete die Schuhe und erlosch, sobald er den Boden erreichte. Marek verzog das Gesicht und sah zum Display. Ein Smiley tauchte auf, das Emoticon wurde von einem mehrfarbigen Totpixelstreifen in zwei Hälften zerschnitten. Der kopflose Roboter trat zur Seite und schob die Tür auf.
„Wieviel?“, fragte ein Typ mit lädiertem Gesicht am Eingang.
Marek streckte ihm seine Armmanschette entgegen. „Nimm fünfzig“, sagte er und sah sich im Raum um. Der Typ fingerte an dem Scanner in seiner Hand und meinte: „Du hast keine fünfzig.“ Seine Nase zuckte, das Tape darüber begann sich auf einer Seite abzulösen.
„Nimm, was da ist“, sagte Marek und schob sich an ihm vorbei.
In einer der Ecken flackerte die Projektion einer Jukebox, Miles Davis' So What löste eben einen abrupt endenden Reggae-Beat ab.
Die Trompete begleitete ihn an der mit Edelstahlblechen ausgeschlagenen Bar entlang, die an ein Schlachthaus erinnerte. Baaahbam! Marek ließ sich auf den Rhythmus ein, passte seine Schritte an.
Heute war mehr los als die Tage zuvor. Eine Menge Cyborgs, wie der Barmann, der mehr aus Ersatzteilen als aus Fleisch und Blut bestand. Am Ende der Bar war etwas Platz. Marek vermied es, das Metall zu berühren, obgleich es einen sauberen Eindruck machte. Der Barmann hatte ihn gesehen, machte jedoch keine Anstalten ihn zu bedienen. Marek hob die Hand, aber auch das ignorierte der Kerl.
„Scott!“ Eine Hand schob sich an Marek vorbei, winkte den Barmann heran. Marek wandte sich zu der Person um, die ihn an den Tresen drängte. „Ayla!“, sagte er und lächelte.
„Marek!“ Ayla lächelte ebenfalls und prallte gegen ihn, weil der Kerl neben ihr sie anrempelte. „Pass doch auf, Mann!“, blaffte sie und stieß dem Mann in die Seite. Der Typ fuhr herum und ergriff ihren Arm. Ayla wollte sich losreißen, und der Mann stieß einen Hocker um.
„Lasst den Scheiß!“, mischte sich der Barmann ein und sah die beiden abwechselnd an. Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotionen, wirkte wie eingefroren. In seinem kahlen Schädel steckte die Nadel eines Blech-Buttons mit einem stilisierten Mittelfinger darauf.
Der Mann ließ Ayla los und hob die Hände. „Alles gut“, sagte er und wandte sich ab. Ayla fixierte ihn einen Augenblick, dann drehte sie sich zu Marek: „Was willst du trinken?“
„Gin Tonic.“
„Mach zwei!“, sagte Ayla an Scott gewandt.
Marek trat einen Schritt von der Bar weg, wischte mit den Händen über die Jacke. Das Gewimmer des Saxophons ging ihm auf die Nerven. „Willst du woanders hin?“, fragte er Ayla.
„Wegen dem?“ Mit dem Daumen zeigte sie über die Schulter auf den Kerl von vorhin. „Sicher nicht!“
„Okay.“
Scott stellte ihnen die Drinks hin.
„Auf Miles!“, sagte Ayla und hob ihr Glas.
„Was?“ Marek hatte bereits von dem Gin gekostet.
„Na, ich hab dich gesehen“, sagte Ayla und grinste.
„Wann?“
„Eben“, sie nahm einen Schluck, „wie du getänzelt hast.“
„Ach das.“ Er hob sein Glas. „Auf Miles!“
„Da wird ein Tisch frei“, sagte Ayla und deutete mit dem Glas in den Raum. Ohne auf Antwort zu warten ging sie los.
Marek folgte ihr mit wiegenden Schritten. Nur der Kontrabass und die gebürstete Snare waren zu hören.
Der freie Tisch stand in einer der Nischen. Das Paar, das sich eben davonmachte, kicherte beim Weggehen.
„Gehts noch!“, schnauzte Ayla; am Rand der Resopalplatte klebte etwas zähflüssiges, auf dem Kunstleder der Sitzbank lagen mehrere zusammengeknüllte Taschentücher. „Habt ihr kein Zuhause?“, rief sie den beiden nach.
„Was ist los?“, fragte Marek, als er hinzukam.
„Die hat dem Penner einen runtergeholt!“
„Was?“
„Schau dir das an!“ Ayla rollte mit den Augen. „Tageslicht!“, befahl sie, und das Schummerlicht in der Nische verschwand.
„Ist ja widerlich!“, sagte Marek und drehte sich zu den beiden um, die sich einen Platz an der Bar suchten.
„Mach das sauber!“, blaffte Ayla einen weiteren Befehl, und eine synthetische Stimme antwortete: „Kein Reinigungsdroid verfügbar.“ Ayla nahm einen Schluck Gin, sah zur Bar hinüber und hob die Hand. Marek beobachtete, wie Scott eine Flasche hochhielt und mit dem Finger darauf zeigte. Ayla schüttelte den Kopf, machte eine kreisende Handbewegung und deutete auf den Tisch. Scott hob die Schultern und schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Drecksladen!“, schimpfte sie und trank das Glas aus.
„Lass uns woanders hingehen“, schlug Marek vor, aber Ayla ging nicht darauf ein. Auf dem Tisch stand eine Schirmlampe aus den 1940ern ohne Glühbirne. Das Kabel reichte gerade so über die Resopalplatte, der Stecker fehlte. Ayla hob die Lampe an und griff sich das Deckchen darunter. Sie wischte über die Tischkante und warf das bestickte Stück Stoff auf den Boden vor der Nische. „Setz dich“, meinte sie und nahm auf der gegenüberliegenden Seite Platz. Marek verzog das Gesicht und folgte ihrer Aufforderung.
„Bist du irre?“, prustete Ayla. „Komm, setz dich zu mir!“
„Mann!“, stieß Marek aus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Ayla rückte nach hinten, und Marek setzte sich zu ihr.
„Soll ich dir einen runterholen?“
„Haha.“
Ayla lachte und zog ihre Jacke aus. „Wie viel hast du denen gegeben?“, fragte sie und deutete mit dem Kinn zum Eingang.
„Keine Ahnung.“
„Wie keine Ahnung?“
„Weiß ich nicht. Ich hab dem …, pff, ist doch egal, ist für ’ne gute Sache!“
„’Ne gute Sache?“
„Ja, du weißt schon.“
„Nein, weiß ich nicht. Was haben die dir gesagt?“ Ayla drehte sich zu ihm.
„Na, du weißt schon …“ Marek lachte bemüht, kratzte sich am Kinn. Ayla sah ihm in die Augen, sagte nichts.
„Na, was ihr hier so macht.“ Mareks Lachen verschwand, er verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. „Damit es wieder besser wird!“
„Damit es besser wird“, wiederholte sie seine Worte und lächelte. „Du hast tatsächlich keine Ahnung!“
Marek nahm einen Schluck und stellte seinen Drink auf den Tisch. Er drehte das Glas zwischen Daumen und Mittelfinger und klopfte mit den Fingernägeln der anderen Hand auf die Tischplatte.
„Was glaubst du, was die mit deinen Credits anfangen?“
Marek nahm das Glas auf und trank es aus. „Was willst du denn jetzt von mir hören?“, fragte er und stellte das Glas geräuschvoll zurück auf die Platte.
„Nichts!“ Ayla griff nach ihrer Jacke und schob sich in seine Richtung. „Kann ich?“
„Was is los?“ Marek rückte von ihr ab und sah sie an.
„Ich muss mal! Darf ich?“ Sie schaute an ihm vorbei in den Raum. Marek stand auf und trat beiseite.
Er sah ihr nach und setzte sich zurück auf die Bank. Eine schrille Rückkopplung ließ Marek zusammenfahren. Er presste sich die Mittelfinger in die Ohren und öffnete und schloss mehrfach den Mund. Bis eben lief ein erbärmliches Cover von Franks May Way, nun wummerte ein psychedelischer Bass durch den Raum. Marek sah Ayla durch die Toilettentür verschwinden, erstaunlich viele Gäste folgten ihr. Dann kam Scott auf ihn zu. „Rutsch rüber!“, befahl er, sobald er in die Nische trat. Marek machte ihm Platz und Scott setzte sich neben ihn.
„Geht es dir gut?“, wollte er von Marek wissen.
„Äh, ja. Wieso?“
An der Bar fiel ein Mann um. Und dann eine Frau.
„Was ist hier los?“, fragte Marek. Er beugte sich über den Tisch, um besser sehen zu können.
„Dir geht es also gut?“, erkundigte sich der Barmann erneut.
„Ja, verdammt! Was ist mit den beiden?“
„Mit denen ist alles in Ordnung. Die sind tot.“
„Was?“ Marek wollte aufspringen, aber Scott packte ihn am Arm und drückte ihn zurück auf die Bank.
„Was soll der Scheiß? Lass mich los!“
„Nur warum bist du nicht tot?“
Marek sah Scott an, sein Blick flackerte. Die Pupillen weiteten und verengten sich in hektischem Wechsel.
„Ich sag's dir“, antwortete Scott für ihn, „weil du nie gelebt hast!“
Marek machte den Mund auf: „T t tak k k b“
Es pfiff und das Wummern verklang.
Als Ayla zurück an den Tisch kam, starrte Marek mit leerem Blick geradeaus. „Ich habs dir gesagt, Ayla“, meinte Scott, dann riss er Marek die Manschette vom Arm. Er packte den reglosen Körper am Kragen der Jacke und schleifte ihn aus der Nische.
„Hat er noch was gesagt?“, wollte Ayla wissen.
„Nein, die haben ihn sofort runtergefahren.“ Scott blickte zu ihr auf. „Ayla, die werden immer besser. Du darfst dir das –“
„Ich weiß“, unterbrach sie ihn.
Ayla schluckte, als Scott damit anfing, Marek die Kleider vom Leib zu reißen. „Geh mit den andern schon hoch“, sagte er über die Schulter, „ich mach hier noch fertig. Nehmt mit, was ihr tragen könnt, wir treffen uns dann bei mir.“