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Margarite
Meine Brüder waren längst erwachsen und fortgegangen. In fremde Länder oder ins Jenseits.
Ich allein blieb und versuchte mit dem zu leben, was ebenfalls gegeblieben war. Das war die leblose atmende Hülle meiner Mutter und das genauso leblose, doch blühende Grab meiner Schwester.
Ich hatte rote Tulpen neben dem Grabstein gepflanzt. Die hatte sie so gern. Doch die wurden daraufhin gleich von irgendwem geklaut und ich begnügte mich mit Margatiten. Was auch seinen Reiz besass: Margariten für Margarite.
Margarite war im Frühjahr gestorben. Meine Mutter hatte sie schon immer mehr als mich geliebt. Sie war für sie, trotz meiner langjährigen Existenz, stets die einzige Tochter gewesen. Schliesslich hatte sie den Namen einer Blume bekommen, und ich wurde nach einem simplen Beatlessong benannt. Sie war zwölf, als sie starb und wusste sicherlich nicht, was sie tat. Ich war fünfzehn und stand daneben.
Ich kann mich noch an meine Gedanken erinnern, als ich sie still in den Fluss fallen sah. Ich dachte daran, wie gut die Farbe ihres Kleides zum Wasser passte. Ich hörte das Plätschern, trat zum Brückengelände und betrachtete das gelbe Kleid, das mit seiner Trägerin in der Tiefe verschwand.
Sie hatte nicht gelacht, als sie auf dem Geländer stand. Besonders traurig erschien sie auch nicht. Blickte kurz in meine Richtung und sprang. Fiel.
Ihre Mutter weinte viel. Besonders als sie Margarites Tagebücher las. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie eins führte.
Es wurde von mir verlangt schwarze Kleider zu tragen und zu weinen. Ich tat ihnen den Gefallen und empfand nichts. Gar nichts.
Margarite war als einzige von uns blond gewesen.
Ungefähr um die gleiche Zeit - in Frühling, Sommer, des Jahres, in dem mein Vater nach Europa zog, fing die Mutter meiner Schwester an zu sterben. Sie hörte auf sich zu bewegen. Wurde träge und passiv. Sprach nicht mehr. Ging nicht mehr aus dem Haus. Ich wusste, dass sie noch lebte, da ich ihr Gesicht, das dem einer Toten glich, manchmal am Fenster sah. Wenn ich wegging sah sie mir nach. Erschrocken und leer war ihr Blick. Ich verstand und blieb.
Ich pflegte Margarites Grab jeden Sonntagmorgen. Oft sass ich stundenlang unter der Birke, blickte auf den grauen trostlosen Grabstein herab und sprach mit ihm. Vielleicht sprach ich auch mit meiner Schwester.
Auf jeden Fall war ihr Geist genauso übeheblich und arogant, wie sie es im Leben gewesen ist, denn er erwiderte mir nichts.
Ich erzählte ihr unnütze Geschichten. Davon wie mein Leben werden würde, wenn ich erst einmal erwachsen wäre. Und von den Postkarten, die ich von meinen Brüdern bekam, mit amerikanischen Landschaften vorne drauf und Städten wie London oder Seattle.
Ich verschwieg ihr auch nicht, dass sie sich nie nach ihr erkundigten und nur meine Mutter grüssen liessen.
Dann lauschte ich dem Wind, der sich in den Bäumen verfangen hatte, und hoffte Enttäuschung daraus zu hoeren.
Doch der Wind war gleichgültig. Wie ich.
Ich bewahrte die besagten Postkarten in der untersten Schublade meiner Komode und las immer wieder die unregelmässigen Schriftzüge. Wobei ich ein Gefühl von Liebe und Verlust empfand.
Besonders meinen Bruder Kain habe ich geliebt. Er war ein Jahr älter als ich und hat mir kein einziges Mal geschrieben. Wir haben uns als Kinder geküsst. Danach sagte Kain, er wäre mir nun kein Bruder mehr. Ich sagte: Gut. Und von da an war er einfach nur Kain. Und wir küssten uns wieder, nicht nur ein Mal. Irgendwo weit weg ist er dann siebenundzwanzigjährig gestorben.
Ich berichtete Margarite auch davon. Und davon, wie Kain und ich uns geliebt hatten, kurz nach ihrem Tod. Ich sprach davon zu meiner kleinen Schwester, die Zeit ihres Lebens nie geliebt hatte. Und hörte keine Widerrede, was ich als schade empfand.
Mittlerweilen war ich zweiundsechzig Jahre alt. Es war Herbst und der Winter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Ich hatte meine Mutter schon Jahrzehnte nicht mehr am Fenster gesehen und es wunderte mich nicht. Ich wusste sie in ihrem Zimmer, das ich nie betreten hatte.
Die Brüder schrieben immer seltener und nur das Grab von Margarite schien nicht zu altern.
Ich wusste nicht, was mich eines Tages dazu brachte in das Zimmer unserer Mutter zu gehen. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich habe ihre Ruhe gestört.
Ich öffnete die Tür. Das Zimmer war ungelüftet und verstaubt, es roch nach Tod. Ich erkannte den Geruch nicht. Ich bemerkte die Photos an den Wänden. Deine Photos, Margarite. Kein einziges von einem meiner Brüder oder von mir.
Ich sah deine Tagebücher neben dem Bett liegen. Sie hatte sie immer wieder durchgelesen. Ohne zu verstehen, was drin stand. Sie verstand dich nicht, Margarite.
Erst viel später sah ich die Mutter. Zuerst sah ich ihr Kleid auf dem Bett liegen. Und dann sah ich, dass auch sie darin war. Ihre zarten Fingerknochen. Die Fussknochen in den alten Struempfen. Der hohle Brustkorb. Der Schädel, so ausdruckslos. Ungeziefer hatte sich in ihrem Fleisch eingenistet.
Ich trat näher zum Bett und wusste, dass sie voller Liebe zu dir gewesen war. Und empfand nichts. Nicht einmal Abscheu vor diesem verwesten, würmerzerfressenen Leichnahm in einem Raum voll alter Erinnerungen, mit denen ich nichts anfangen konnte.
Ich liess sie liegen, diese endgültig tote Frau und schleppte mich in den Garten. Das war nicht leicht, Margarite, schliesslich war ich nicht mehr die Jüngste. Aber was weisst du davon, du ewig Zwölfjährige... Wie ich dich um deinen Tod beneidete.
Ich weiss nicht, wie es dazu kam, dass ich dein totes Leben leben musste, und wie du, ein dummes Kind von zwölf Jahren, unsere Familie lebendig mit dir begraben konntest.
Es ist kurz vor Weihnachten, ich sitze im Garten. Siebzig Jahre alt und keine Nostalgie dieser Welt kann mich nun am Leben erhalten.
Mein kalter, toter Körper wird zugeweht von dem fallenden Schnee, der auch die letzten Blumen deines Grabes bedeckt.
2001/7