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Margarite

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26.09.2004
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Margarite

Meine Brüder waren längst erwachsen und fortgegangen. In fremde Länder oder ins Jenseits.
Ich allein blieb und versuchte mit dem zu leben, was ebenfalls gegeblieben war. Das war die leblose atmende Hülle meiner Mutter und das genauso leblose, doch blühende Grab meiner Schwester.
Ich hatte rote Tulpen neben dem Grabstein gepflanzt. Die hatte sie so gern. Doch die wurden daraufhin gleich von irgendwem geklaut und ich begnügte mich mit Margatiten. Was auch seinen Reiz besass: Margariten für Margarite.
Margarite war im Frühjahr gestorben. Meine Mutter hatte sie schon immer mehr als mich geliebt. Sie war für sie, trotz meiner langjährigen Existenz, stets die einzige Tochter gewesen. Schliesslich hatte sie den Namen einer Blume bekommen, und ich wurde nach einem simplen Beatlessong benannt. Sie war zwölf, als sie starb und wusste sicherlich nicht, was sie tat. Ich war fünfzehn und stand daneben.
Ich kann mich noch an meine Gedanken erinnern, als ich sie still in den Fluss fallen sah. Ich dachte daran, wie gut die Farbe ihres Kleides zum Wasser passte. Ich hörte das Plätschern, trat zum Brückengelände und betrachtete das gelbe Kleid, das mit seiner Trägerin in der Tiefe verschwand.
Sie hatte nicht gelacht, als sie auf dem Geländer stand. Besonders traurig erschien sie auch nicht. Blickte kurz in meine Richtung und sprang. Fiel.
Ihre Mutter weinte viel. Besonders als sie Margarites Tagebücher las. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie eins führte.
Es wurde von mir verlangt schwarze Kleider zu tragen und zu weinen. Ich tat ihnen den Gefallen und empfand nichts. Gar nichts.
Margarite war als einzige von uns blond gewesen.
Ungefähr um die gleiche Zeit - in Frühling, Sommer, des Jahres, in dem mein Vater nach Europa zog, fing die Mutter meiner Schwester an zu sterben. Sie hörte auf sich zu bewegen. Wurde träge und passiv. Sprach nicht mehr. Ging nicht mehr aus dem Haus. Ich wusste, dass sie noch lebte, da ich ihr Gesicht, das dem einer Toten glich, manchmal am Fenster sah. Wenn ich wegging sah sie mir nach. Erschrocken und leer war ihr Blick. Ich verstand und blieb.
Ich pflegte Margarites Grab jeden Sonntagmorgen. Oft sass ich stundenlang unter der Birke, blickte auf den grauen trostlosen Grabstein herab und sprach mit ihm. Vielleicht sprach ich auch mit meiner Schwester.
Auf jeden Fall war ihr Geist genauso übeheblich und arogant, wie sie es im Leben gewesen ist, denn er erwiderte mir nichts.
Ich erzählte ihr unnütze Geschichten. Davon wie mein Leben werden würde, wenn ich erst einmal erwachsen wäre. Und von den Postkarten, die ich von meinen Brüdern bekam, mit amerikanischen Landschaften vorne drauf und Städten wie London oder Seattle.
Ich verschwieg ihr auch nicht, dass sie sich nie nach ihr erkundigten und nur meine Mutter grüssen liessen.
Dann lauschte ich dem Wind, der sich in den Bäumen verfangen hatte, und hoffte Enttäuschung daraus zu hoeren.
Doch der Wind war gleichgültig. Wie ich.
Ich bewahrte die besagten Postkarten in der untersten Schublade meiner Komode und las immer wieder die unregelmässigen Schriftzüge. Wobei ich ein Gefühl von Liebe und Verlust empfand.
Besonders meinen Bruder Kain habe ich geliebt. Er war ein Jahr älter als ich und hat mir kein einziges Mal geschrieben. Wir haben uns als Kinder geküsst. Danach sagte Kain, er wäre mir nun kein Bruder mehr. Ich sagte: Gut. Und von da an war er einfach nur Kain. Und wir küssten uns wieder, nicht nur ein Mal. Irgendwo weit weg ist er dann siebenundzwanzigjährig gestorben.
Ich berichtete Margarite auch davon. Und davon, wie Kain und ich uns geliebt hatten, kurz nach ihrem Tod. Ich sprach davon zu meiner kleinen Schwester, die Zeit ihres Lebens nie geliebt hatte. Und hörte keine Widerrede, was ich als schade empfand.
Mittlerweilen war ich zweiundsechzig Jahre alt. Es war Herbst und der Winter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Ich hatte meine Mutter schon Jahrzehnte nicht mehr am Fenster gesehen und es wunderte mich nicht. Ich wusste sie in ihrem Zimmer, das ich nie betreten hatte.
Die Brüder schrieben immer seltener und nur das Grab von Margarite schien nicht zu altern.
Ich wusste nicht, was mich eines Tages dazu brachte in das Zimmer unserer Mutter zu gehen. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich habe ihre Ruhe gestört.
Ich öffnete die Tür. Das Zimmer war ungelüftet und verstaubt, es roch nach Tod. Ich erkannte den Geruch nicht. Ich bemerkte die Photos an den Wänden. Deine Photos, Margarite. Kein einziges von einem meiner Brüder oder von mir.
Ich sah deine Tagebücher neben dem Bett liegen. Sie hatte sie immer wieder durchgelesen. Ohne zu verstehen, was drin stand. Sie verstand dich nicht, Margarite.
Erst viel später sah ich die Mutter. Zuerst sah ich ihr Kleid auf dem Bett liegen. Und dann sah ich, dass auch sie darin war. Ihre zarten Fingerknochen. Die Fussknochen in den alten Struempfen. Der hohle Brustkorb. Der Schädel, so ausdruckslos. Ungeziefer hatte sich in ihrem Fleisch eingenistet.
Ich trat näher zum Bett und wusste, dass sie voller Liebe zu dir gewesen war. Und empfand nichts. Nicht einmal Abscheu vor diesem verwesten, würmerzerfressenen Leichnahm in einem Raum voll alter Erinnerungen, mit denen ich nichts anfangen konnte.
Ich liess sie liegen, diese endgültig tote Frau und schleppte mich in den Garten. Das war nicht leicht, Margarite, schliesslich war ich nicht mehr die Jüngste. Aber was weisst du davon, du ewig Zwölfjährige... Wie ich dich um deinen Tod beneidete.
Ich weiss nicht, wie es dazu kam, dass ich dein totes Leben leben musste, und wie du, ein dummes Kind von zwölf Jahren, unsere Familie lebendig mit dir begraben konntest.
Es ist kurz vor Weihnachten, ich sitze im Garten. Siebzig Jahre alt und keine Nostalgie dieser Welt kann mich nun am Leben erhalten.
Mein kalter, toter Körper wird zugeweht von dem fallenden Schnee, der auch die letzten Blumen deines Grabes bedeckt.

2001/7

 

Hallo Adore

Dein Prot in dieser Geschichte vergeudet in Lethargie und Nostalgie ihr Leben. Ich hoffe so schlimm ist es bei dir noch nicht. Irgendwie habe ich bei solch persönlich angehauchten Texten immer das Gefühl, als ob ein Stück Autobiografie mit reinschwingen würde.
Aber vielleicht täusche ich mich da auch :sealed:

Dein Text hat mir im großen und ganzen ganz gut gefallen(was auch nur gut, nichts mehr und nichts weniger bedeutet). Die Idee der Geschichte ist ja gar nicht mal so uninteressant. Aber letzendlich ist ein Prot, der ewig die Schuld für sein versautes Leben bei anderen sucht, eher langweilig und nervt nach einer gewissen Zeit sogar.
Nervig fand ich den Text ja nun nicht ;) aber ein gewisses Maß an Monotonie kann man ihm nicht absprechen.

Zum Glück gelingt es dir immer wieder diese Monotonie aufzubrechen durch Einstreuung interessanter Einzelheit aus dem leben deiner Prot (der Bruder, die tote Mutter). Das halte ich für sehr geschickt von dir gelöst.

Leider erschien mir dein Charakter im Endeffekt doch etwas zu kalt/gefühllos/leblos, um bei mir Emotionen zu wecken, was du vielleicht ja sogar so gewollt hast.
In dem Fall: Nicht schlecht gemacht! Ansonsten müsstest du daran noch feilen (aber frag mich ja nicht wie, Gefühle erzeugen kann ich auch nich so gut :) )

Hier zum Abschluss noch einige Passagen mit "unreine" Stellen oder einfachen Tippfehlern :


Ich hatte rote Tulpen neben dem Grabstein gepflanzt. Die hatte sie so gern. Doch die wurden daraufhin gleich von irgendwem geklaut und ich begnügte mich mit Margatiten.
Der ganz Abschnitt klingt schräg. Besser:
Ich hatte rote Tulpen neben dem Grabstein gepflanzt. Die mochte sie so gern. Kurz darauf wurden sie jedoch von irgendwem geklaut und ich begnügte mich ab da mit Margariten.


Meine Mutter liebte sie schon immer mehr als mich.
hatte..geliebt (weil tot)

Sie war zwölf als sie starb
zwölf, als

Sie hatte nicht gelacht, als sie auf dem Gelände gestanden ist.
Auch wenn du vielleicht aus Östereich kommst: Falsche Zeitform -> als sie auf dem Geländer stand

Ihre Mutter weinte viel
Meintest du nicht eher "Unsere Mutter" oder war das Absicht?

Es wurde von mir verlangt schwarze Kleider zu tragen und zu weinen
Kleider, zu tragen

das dem einer Toten gliech,
glich

Wenn ich wegging sah sie mir nach. Erschrocken und leer war ihr Blick. Ich verstand und blieb.
"weg ging" glaube ich, aber auf jeden Fall ein Komma danach

wie sie es im Leben gewesen ist
Tempusfehler! "wie sie es im Leben (gewesen) war."

amerikanischen Landschaften vorne drauf und Städten wie London oder Seattle
Amerika und London? Oder war das auch Absicht, um die Weltfremdheit deines Prots zu dokumentieren?

meine Mutter grüssen liessen
Ich glaube beide mit "ß"

hoffte Enttäuschung daraus zu hoeren.
hören

Besonders meinen Bruder Kain habe ich geliebt.
Ich glaube, da gehört "hatte" hin

Ohne zu verstehen was drin stand.
verstehen, was

Das war's erstmal von mir :D

Tschöhö
Hagen

 

Hallo, mein lieber Hagen!
Erst mal, Danke, dass du dir die Muehe gegeben hast, meine Geschichte zu kommentieren. Und mich auf meine Fehler hingewiesen hast. Ich selbst bemerke sie nie :shy:
Lethargie, Nostalgie, Monotonie - genau das, was ich in diesem Text ausdruecken wollte. Natuerlich ist er nicht autobiographisch, abgleich jeder zeitweise das Gefuehl haben kann in der Sinnlosigkeit seines Daseins zu ertrinken... Wahrscheinlich hatte ich damals ne depressive Phase ;)
Never mind.
Es hat mich sehr gefreut, dass du so vieles richtig verstanden hast, dass du ueberhaupt darueber nachgedacht hast.

Hagen schrieb:
Meintest du nicht eher "Unsere Mutter" oder war das Absicht?

Amerika und London? Oder war das auch Absicht, um die Weltfremdheit deines Prots zu dokumentieren?

Absicht! :)
Wuensch dir was!
A.

 

Hallo Adore,

die Stimmung Deines Textes ist durchgängig und ansprechend. Auch die Informationen über Personen und Ereignisse sind interessant, sie kommen so beiläufig daher, sind aber doch recht bedeutend, besonders das Auftauchen des Leichnams.
Beispiele:
Und hörte keine Widerrede, was ich als schade emfpand.

Die Brüder schrieben immer seltener und nur das Grab von Margarite schien nicht zu altern. (Gutes Bild! "Nur" passt aber nicht).

Ich sah deine Tagebücher neben dem Bett liegen. Sie hatte sie immer wieder durchgelesen. Ohne zu verstehen, was drin stand. Sie verstand dich nicht, Margarite


Trotzdem überzeugt der Text mich nicht, es ist mehr ein chronologischer Bericht als eine Geschichte, die einen Spannungsbogen aufbaut, eine Aussage auf einen Fokus hin verdichtet.

Änderungsvorschläge:

Margatiten - Margariten

Sie war für sie, trotz meiner langjährigen Existenz, stets die einzige Tochter gewesen. Schliesslich hatte sie den Namen einer Blume bekommen, und ich wurde nach einem simplen Beatlessong benannt. Sie war zwölf, als sie starb und - Häufung von „sie“ vermeiden (meine Schwester).

Und hörte keine Widerrede, was ich als schade emfpand. - empfand.

Tschüß... Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Deine Sprache wirkt ziemlich fest. Daran kann man nicht viel meckern.

Der Inhalt ist durchaus interessant, jedoch viel zu unrealistisch angelegt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass dieser Faktor einer bestimmten Aussage zum Opfer gefallen wäre, was dies legitimiert hätte.
D.h. für mich liest sich der Text wie eine Aneinanderreihung von Schnappschüssen eines ziemlich verkorksten Lebens. Diese Geradlinigkeit des Verfalls/des Sterbens wirkt aber auf mich ziemlich unrealistisch. Die Protagonistin wird ja wohl Möglichkeiten gehabt haben, diesem monotonen Sterben zu entrinnen. Wohlbemerkt Möglichkeiten! Ob sie diese genutzt hat/hätte, ist dabei nicht von Essenz. Und mir fehlen hauptsächlich diese Punkte, die zudem die von Woltochinon zurecht vermisste Spannung ins Spiel gebracht hätten. Wieso hat sie sich denn dem langsamen Tod so untergeordnet? Das wäre von Interesse und Belang gewesen und hätte dem Text den Charakter der oberflächlichen Schnappschüsse genommen und ihm Tiefe verliehen.

 

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