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Mari und der Amokläufer

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08.12.2007
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Mari und der Amokläufer

„... es war das Mädchen seiner Träume. Aus seinen Wünschen und Sehnsüchten konstruiert, wurde es schließlich zur Realität. Ihr Name war Mari.“

In einer alten, maroden Küche. Samy schält gelangweilt Kartoffeln am Tisch. Er ist ein sechzehnjähriger Junge mit einer ausgeprägt androgynen Gestalt. Seine Brille rutscht ihm beim Schälen ständig von der Nase.
Sein Blick fällt auf eine Schrotflinte in der Glasvitrine neben ihm. Davon abgelenkt, schneidet er sich mit dem Kartoffelmesser in den Finger.
Er betrachtet die Schnittwunde. Zieht sie langsam auseinander, bis das Blut heraus quellt und auf den Boden tropft.
„Was ist hier los?“, sagt plötzlich eine Stimme hinter ihm. Erschrocken schaut Samy auf. Sein Opa kommt mit strenger Miene auf ihn zugehumpelt. Schnell verhüllt er die Wunde mit einem Papiertuch.
„Sind die Kartoffeln geschält?“, fragt der alte Mann fordernd. „Ich habe Hunger!“
“Ja, gleich“, erwidert Samy monoton.
“Und nimm den Müll heute endlich mit raus. Bevor er mir noch die ganze Bude voll stinkt.“
“Hier stinkt’s doch sowieso“, flüstert Samy sich selbst zu.
“Was hast du gesagt?“, raunt der Opa mit augerissenen Augen.
“Nichts…“, erwidert Samy erschrocken. Im gleichen Moment bekommt er eine Backpfeife vom dem alten Mann verpasst.
“Setz’ die Dinger jetzt endlich auf!“

Samy verlässt mit seiner Schultasche und einer Mülltüte das heruntergekommene Hochhausgebäude. Er schmeißt die Tüte wütend in eine der nahe stehenden Mülltonnen, setzt die Kopfhörer seines Players auf und dreht die Musik voll auf.
Er erreicht eine Straßebahnhaltestelle. Beim Einsteigen in die Bahn stolpert er und verliert dabei die Kopfhörer. Zwei kleine Jungen, die bereits in der Bahn sitzen beobachten das und lachen ihn aus. Er setzt die Hörer wieder auf und sucht sich mutlos einen Platz außerhalb des Sichtfeldes der Jungs. Ein Sicherheitsbeamter läuft den Gang entlang. Samy wirft einen Blick auf die Waffe am Gürtel des Mannes.

Samys Mutter steht in ihrer Küche und bügelt eilig einen Arbeitskittel. Sie ist Ende dreißig und adrett gekleidet. Samy kommt in die Wohnung und stürmt direkt in sein Zimmer. Dort schmeißt er die Schultasche in die Ecke und betrachtet seine Wange im Spiegel. Er erblickt die Konsole hinter sich und setzt sich davor. Er legt ein Ballerspiel ein und beginnt es mit laut aufgedrehtem Ton zu spielen.
Die Mutter kommt ins Zimmer und zieht den Arbeitskittel über.
“Warst du schon bei Opa?“, sie versucht vergebens gegen den Lärm anzuschreien. “Samuel?! Herr Gott!“, hastig schaltet sie die Konsole ab.
“Ey…!“, ruft Samy genervt.
“Ich habe dir dieses dumme Spiel doch verboten. Warst du bei Opa?“
“Ja.“
“Gut. Danke dir.“, sie rückt sich den Kragen zurecht. „Ich muss jetzt zur Arbeit. Mach deine Hausaufgaben. Ich kontrolliere sie dann später“, sie küsst ihn routinemäßig auf die Wange. “Mittagessen steht im Kühlschrank. Schlaf gut“, ruft sie ihm noch auf dem Weg zur Wohnungstür zu und verlässt schließlich eilig die Wohnung.
Samy legt sich aufs Bett. Er nimmt ein Kartenspiel mit Manga-Motiven vom Nachttisch und betrachtet die Karten eine nach der anderen. Er stoppt bei einer, auf der eine Gothic Lolita abgebildet ist und streicht mit dem Finger über das Gesicht des Mädchens.


Irgendwo in einem Wald. Zwei schmutzige Hände durchsuchen hastig einen Blätterhaufen.

“Es war einmal ein Junge, der suchte verzweifelt die Sache, die sein Wesen ausmachte.“

Die Hände suchen zwischen den Wurzeln eines Baumes, durchstöbern ein Beet von sauber aneinander gereihten Kleeblättern und drehen jeden Stein in einem Bach um.

„Die Shinigami – die Todesgeister – hatten es ihm aus Neid auf seine Lebendigkeit gestohlen und versteckt. Er suchte und suchte. Aber er fand sie einfach nicht.“

Die Hände durchsuchen eine kleine Höhle. Plötzlich springt ein Fuchs heraus und knurrt. Die Person, zu der die Hände gehören, fällt auf ihren Hintern.

„Kurz davor, sich dem aufgedrängten Schicksal zu ergeben, erinnerte er sich an die Fee, von der seine Oma ihm vor ihrem Tod erzählt hatte. Würde er nur fest genug an sie denken - so sagte sie ihm einst liebevoll - würde die Fee erscheinen.“

Die Melodie einer Spieluhr ertönt und ein Mädchen erscheint wie von Geisterhand im Kleeblattbeet. Sie ist zirka sechzehn Jahre alt und trägt die Kleidung einer traditionellen Gothic Lolita: ein mit weißen Spitzen verziertes schwarzes Kleid, schwarze Platoschuhe und weiße Kniestrümpfe, die am Saum ebenfalls mit Spitzen verziert sind.

„Und tatsächlich! Dank seiner Vorstellungskraft schaffte der Junge es, die Fee erscheinen zu lassen.“

Das Mädchen greift nach den Händen und zieht sie mit sich.

„Die wunderschöne Fee führte den Jungen mit sich zu einem versteckten Schacht am Waldrand.“

Das Mädchen entriegelt die Türen des Schachts und öffnet ihn.

„Erzählst du ihm schon wieder diese schnöde Geschichte, Mama?“, sagt Samys Mutter und unterbricht damit das Märchen, das die Oma dem Samy gerade erzählt hatte.
“Schnöde? Als Kind hast du diese Geschichte geliebt.“, wendet die Oma fast beleidigt ein. Sie ist vierundfünfzig Jahre alt und ihre Kleidung lässt ihre Hippie-Vergangenheit unschwer erkennen.
“Ja, als Kind.“, erwidert die Mutter und deutet auf den fünfjährigen Samy, der auf dem Schoß der Oma sitzt. „Samy kommt aber bald in die Schule. Dort lernt er die harte Realität kennen. Und da kann er deine Geschichten dann wirklich nicht gebrauchen.“
“Ach, Kind. Du bist wie dein Vater.“
„Und du bist seine Frau.“
“Ja, ja. Schon gut.“, die Oma winkt verzweifelt ab.
„Ich muss jetzt zur Nachtschicht.“, die Mutter zieht ihren Arbeitskittel über. „Heute erfahre ich vielleicht, ob ich Abteilungsleiterin werde“, sie nimmt den kleinen Samy hoch. „Und du schlaf jetzt besser. Gute Nacht“, sie drückt ihn und legt ihn ins Bett.
“Nacht.“, erwidert der kleine Samy brav.
Die Mutter verlässt die Wohnung. Die Oma setzt sich zu Samy aufs Bett.
“Warum mag Mama deine Geschichten nicht mehr?“, fragt der Kleine.
„Sie mag mich nicht mehr.“
„Aber du bist doch voll lieb.“
„Nicht immer, weißt du. Ich habe deine Mutter oft alleine gelassen, als sie noch ein Kind war.“
„Warum?“
„Hm… ich war dumm. Ich musste unbedingt die Revoluzzerin spielen.“
„Hm… Erzählst du mir noch eine Geschichte?“
„Na klar, mein Schatz.“


Das übliche Klassenzimmer eines Gymnasiums, kurz vor Unterrichtsbeginn. Die meisten Schüler sind schon anwesend. Hassan, Johan und Jens checken die Mädchen ab.
“Boah, Alter!“, Johan deutet auf ein Mädchen. „Lara ist echt scharf geworden!“
“Ne, immer noch viel zu fett!“, erwidert Jens mit verzogenem Gesicht.
“Aber 'nen geiler Arsch, ey!“, wendet Hassan ein.
Julia und Sybille - zwei modisch gekleidete Durchschnittsschönheiten – sitzen ein Stück entfernt auf ihren Plätzen und tratschen.
“Julia, was geht mit Nils?“, ruft Johan durchs Klassenzimmer.
“Kommt später“, sie hält ihr Handy hoch. „Hat er mir eben gesimst.“
“Scheiße, bin ich müde.“, sagt Sybille zu Julia und gähnt. „Hast’ eigentlich gestern Superstars gesehen?“
“Nur nebenbei“, antwortet Julia.
Samy betritt das Klassenzimmer und steuert auf seinen Platz zu. Sofort gerät er ins Visier der Jungs.
“Jo, Schwuli!“, ruft Johan ihm zu.
“Na, Fotze?! Heut’ schon gefickt worden?“, ergänzt Hassan und grinst.
Samy ignoriert sie. Er setzt sich auf seinen Platz und holt Bücher aus seiner Schultasche.
“Hast’ diesen einen Trottel gesehen?“, fragt Sybille Julia.
“Du meinst den mit der Brille? Der wie so’n kleiner Junge gesungen hat?“
“Ja, genau den!“, die beiden Mädchen kichern gehässig. “Der sah doch voll aus wie Samy, ne?“
“Ey, stimmt! Aber voll!“, Sybille steht auf und zieht Julia mit zu Samy herüber.
“Hey, Samy! Willst’ nicht bei Superstars mitmachen?“
Samy antwortet nicht.
“Hey, sag’ doch mal!“, drängt Sybille.
“Nein, will ich nicht“, erwidert Samy genervt.
“Aber du wärst bestimmt voll gut!“
“Ja, bestimmt!“, bestätigt Julia und kann sich ihr fieses Grinsen kaum verkneifen.
Samy vergräbt sich hinter seinem Buch. Ein junger Lehrer betritt den Klassenraum. „Setzen bitte!“
Die beiden Mädchen stürmen zu ihren Plätzen zurück.
„Okay.“, der Lehrer wartet bis Ruhe im Klassenzimmer eingekehrt ist. „Heute möchte ich den Stoff der letzten Wochen noch einmal durchgehen.“
Er schreibt Fragen an die Tafel, ruft abwechselnd Schüler auf und lässt sie die Antworten darunter schreiben. Samy meldet sich bei jeder Frage und wird mehrmals vom Lehrer aufgerufen. Jedes Mal wenn Samy nach vorne an die Tafel geht, wird er von Johan und Hassan mit voll gesaberten Papierkügelchen beworfen.
“So.“, sagt der Lehrer als alle Fragen beantwortet sind. „Ich brauche dann jemanden, der alles ordentlich von der Tafel abschreibt und für jeden bis morgen eine Kopie davon macht. Die nächste Klausur ist schon in einer Woche fällig, wie ihr wisst.“, stöhnen geht durch den Raum. Ja, ich weiß… Also, wer macht es freiwillig?“, er schaut in die Runde. Samy meldet sich als einziger. “Samuel? In Ordnung.“
“War ja klar!“, ruft Johan laut durch die Klasse. “Unsere Streberschwuchtel wieder.“
Plötzlich beginnen er, Hassan und Jens lauthals im Duett zu grölen:
Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!

„Schluss jetzt!“, schreit der Lehrer ihnen entgegen. „Hassan! Jens! Nicht solche Ausrücke hier, bitte!“
Die Jungs verstummen.
“Im Übrigen ist Homosexualität etwas ganz normales.“, fährt der Lehrer fort. „Es gibt nichts wofür sich Samuel schämen müsste.“
Die Jungs versuchen sich das Lachen mit aller Kraft zu verkneifen.
“Ich bin aber nicht schwul, verdammt…!“, sagt Samy leise zu sich.
Plötzlich platzt Nils abgehetzt in die Stunde. Er ist ein gut aussehender Junge mit charismatischem Auftreten. Sofort beginnen die beiden Jungs wieder zu grölen:
Nils!
Nils!
Nils!

Nils macht daraufhin eine Siegerpose.
„Hey!“, schreit der Lehrer den Jungs erneut entgegen und wendet sich dann Nils zu: „Wieder mal zu spät, Nils?“
“Wie Sie sehen.“, erwidert dieser selbstbewusst.
“Setz’ dich schon auf deinen Platz“, befiehlt der Lehrer verzweifelt und fährt mit dem Unterricht fort. Nils tauscht mit den drei Jungs Handschläge aus, setzt sich auf den Platz neben Julia und begrüßt sie mit einem Zungenkuss.

Nach der Stunde strömen die Schüler aus dem Klassenraum. Samy bleibt auf seinem Platz und schreibt weiter von der Tafel ab. Nils bleibt mit den drei Jungs an der Tür stehen.
“Wo warst'e eben, Alter?“, fragt Johan ihn.
“Ach“, Nils winkt ab. „Meine Mutter, die Fotze… die ist wieder voll ausgetickt.
“Ey, lasst uns runter gehen“, unterbricht Jens ihn.“
“Ich komme gleich nach“, sagt Nils und geht zu Samy an den Platz, nachdem seine Freunde den Raum verlassen haben.
“Hey, Samy.“, er zwinkert ihm zu. „Kannst du mir deine Notizen von heute leihen?“
“Es soll morgen jeder eine Kopie davon bekommen“, erklärt Samy misstrauisch. „Hat Herr Schmidt gesagt.“
“Ah, dann ist ja gut“, erwidert Nils lächelnd und sagt zärtlich: „Danke dir trotzdem, Sammyboy!“
Plötzlich sagt hinter ihm jemand: „Kommst du, Alter?“
Nils erschrickt und dreht sich um. Johan steht an der Tür.
“Ja… okay“, erwidert er und geht mit Johan raus.
“Was redest du mit der Schwuchtel?“
“Ach, die Fotze sollte mir nur ihre Notizen geben.“

Samy packt seine Schultasche und geht hinunter zum Musikraum. Dort studiert ein Chor gerade ein Lied ein. Er wartet bis sie fertig mit dem Singen sind.
“Na, das klang doch schon sehr ordentlich“, sagt der Lehrer fröhlich zu den Sänger und Sängerinnen. „Bis zum Schulfestival habt ihr es sicherlich perfekt drauf. Wir sehen uns Morgen wieder!“
Die Chormitglieder strömen aus dem Musikraum heraus.
„Tamara, warte mal.“, der Lehrer wendet sich eine der Sängerinnen zu. „ Hast du inzwischen genügend Bands für das Festival engagieren können?“
“Ich warte noch auf eine Zusage“, erwidert das Mädchen. „Dann habe ich genügend zusammen für ein zweistündiges Programm.“
“Super, dann kann ja nichts mehr schief gehen.“
“Ja, ich hoffe es.“, Tamara bemerkt Samy an der Tür stehen. „Oh“, sie holt eine Mappe aus ihrer Schultasche und geht damit zu Samy herüber. „Hey.“
„Hi“, begrüßt Samy sie knapp.
“Also…“, fährt Tamara verunsichert fort und deutet auf die Mappe. „Ich habe mir deine Songs angesehen… und einige Melodien sind echt toll!“
“Ja?“, fragt Samy hoffnungsvoll.
“Ja. Nur… wie soll ich sagen?“, sie überlegt. „Die Texte sind alle so… seltsam irgendwie. Kein bisschen… na ja… fröhlich halt… und einfach nicht mein Fall, verstehst du?“
“Oh“, Samy ist sichtlich enttäuscht.
“Ja…“, sie schaut ihn mitleidig an und reicht ihm die Mappe.. „Deshalb solltest du dir besser eine andere Sängerin suchen.“
“Okay…“, Samy nimmt die Mappe und geht ohne sich zu verabschieden davon.
“Tut mir echt leid“, ruft Tamara ihm verunsichert hinterher.

Samy kehrt nach Schulschluss in sein Zimmer zurück. Er holt ein Keyboard aus dem Wandschrank und stellt es auf den Schreibtisch. Er spielt die Melodie von einen der Songs aus der Mappe an und verspielt sich dabei mehrmals. Wütend knallt er die Mappe in die Ecke und ruft sich die Demütigungen des Tages ins Gedächtnis:

Na, Fotze?

Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!

Die Texte sind alle so… seltsam irgendwie.

Sybille und Julia lachen gehässig.

Homosexualität ist etwas ganz normales.

Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!
Streberschwuchtel!

Der Opa verpasst Samy eine Ohrfeige.


Er nimmt eine Rasierklinge und ritzt sich die Arme damit auf. Die Mutter kommt zur gleichen Zeit nach Hause.
„Samuel?“, sie kommt zu Samy ins Zimmer und erschrickt, als sie seine blutenden Arme erblickt. „Oh, nicht doch! Nicht schon wieder.“ Sie richtet ihren Sohn auf und tupft die Wunden mit Taschentüchern ab.“ Warum machst du nur so was?“
Samy zuckt mit den Schultern.
„Wurdest du in der Schule wieder geärgert?“
Samy bleibt stumm.
„Du musst das einfach an dir abprallen lassen. Das sind alles Verlierer. Wenn du später erfolgreich im Leben stehst, werden die immer noch Verlierer sein“, sie streichelt seine Hand. „Hm?“
Samy zuckt erneut mit den Schultern.
„Ich hole Verbandszeug.“

Samy und seine Mutter haben eine psychotherapeutische Praxis aufgesucht und sitzen der Therapeutin gegenüber. Samy starrt auf seine bandagierten Arme.
Die Therapeutin nickt verständnisvoll. „Nun“, sagt sie zu der Mutter. „Nachdem was Sie mir gerade erzählt haben, würde ich von einer Einweisung erst einmal absehen“, sie wendet sich Samy zu: „Außer natürlich du möchtest das, Samuel.“
Samy schüttelt den Kopf.
„Und was ist mit Medikamenten?“, fragt die Mutter. „Man hat bei ihm mal Hyperaktivität festgestellt. Das war kurz nachdem Tod meiner Mutter – also seiner Oma. Und das haben wir mit Retalin ganz gut in den Griff bekommen.“
„Hm hm“, erwidert die Therapeutin professionell interessiert. „Ich würde vorschlagen, Samy kommt vorerst zwei Mal die Woche zu mir zum Gespräch. Dann kann ich mir auch ein genaueres Bild machen. Und dann können wir gemeinsam entscheiden, ob eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein könnte oder nicht.“
„Wenn Sie meinen“, die Mutter ist sichtlich enttäuscht.
Die Therapeutin schaut in ihren Terminkalender.
Nach dem Arzttermin verlassen Samy und seine Mutter Praxis und gehen zum Auto.
„Komm, ich fahr dich schnell nach Hause“, sagt die Mutter nachdem sie auf die Uhr geschaut hat. Ich komme sowieso nicht mehr pünktlich zur Arbeit.“
„Nein, schon gut“, Samy geht schnell über die Strasse. „Ich nehme die Bahn.“
„Bist du sicher?“, ruft sie ihm verunsichert nach.
„Ja.“
„Mach aber nicht wieder so einen Mist, hörst du?
„Ja.“, erwidert Samy genervt und verschwindet.

Bei der nächsten U-Bahn-Station angekommen, steigt er in eine Bahn ein und stellt sich in den Gang. Plötzlich sagt hinter ihm jemand:
„Hallo, Samy.“
Er dreht sich um und erschrickt. Hinter ihm sitzt eine Gothic Lolita. Sie lächelt ihn an. Er kann es kaum fassen. Optisch gleicht sie genau der Vorstellung, die er immer von der Fee aus dem Märchen seiner Oma hatte. Sprachlos starrt er sie an.
Währenddessen hält die Bahn an der nächsten Station.
„Ich muss hier umsteigen“, sagt das Mädchen und drängt sich mit ihrer Einkaufstüte an ihm vorbei.
“Mach’s gut“, sagt sie lieb und steigt aus. Zwei junge Modepüppchen kommen ihr entgegen und mustern sie argwöhnisch.
“Wie läuft die denn rum?“, fragt die eine die andere und kichert. Samy kommt derweil wieder zur Besinnung.
„Warte!“, ruft er dem sonderbaren Mädchen nach und kann sich gerade noch durch die sich schließende Tür drängen. Er folgt dem Mädchen zum gegenüberliegenden Bahnsteig, wo sie sich eine Weile anschweigen.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragt Samy schließlich und bricht damit das Schweigen.
„Weiß nicht“, das Mädchen zuckt mit den Schultern. „Ich kannte ihn einfach. Ich bin Mari. Hi.“
„Hi.“
Sie schweigen sich erneut an.
„Wo… fährst du jetzt hin?“, fragt Samy.
„Nach Hause“, sie deutet auf ihre Einkaufstüte. „Hab Saiten für meine Gitarre besorgt. Ich bin inner Band.“
„Cool“, erwidert Samy und bemüht sich interessiert zu wirken.
„Wir proben morgen. Kommst du hin?“
„Hm, o-okay“, antwortet Samy überrascht.
„Wirklich?“
„Ja.“
“Super“, Mari lächelt zufrieden. Eine Bahn fährt ein. Sie deutet auf sie. „Dann fahr morgen mit dieser Linie zur Endstation. Ich warte da auf dich“. Sie steigt in die Bahn ein und während sich die Türen schließen, ruft sie: „Und bring dein Keyboard mit… und deine Songs.“
„Woher…?“, ruft Samy ihr überrascht nach, doch die Bahn hat sich bereits in Gang gesetzt.

Am nächsten Tag steigt Samy mit einem großen Instrumentenkoffer an der Endstation aus. Mari wartet dort bereits auf ihn.
„Hey.“
„Hey. Komm mit.“
Samy folgt ihr. Mari bemerkt, dass er sich mit dem schweren Koffer abmüht und packt mit an. Dabei berühren sich ihre Hände und ihre Blicke treffen sich. Mari lächelt. Samy schaut schüchtern zu Boden.
Nach einer Weile erreichen sie ein Reihenhaus und gehen die Treppe zum Kellereingang hinunter. Mari schließt die Tür auf. Sie betreten eine ehemalige Kneipe, die zu einer Wohnung umfunktioniert wurde. Der Sitzbereich dient als Essecke, die Theke als Küche. Auf der Bühne befinden sich Schlagzeug, Bass, Mikrofon und zwei E-Gitarren. Gegenüber der Bühne steht ein Sofa. Davor ein Fernsehapparat, auf dem gerade ein Anime (ein japanischer Zeichentrick) läuft.
Ein Mädchen – zehn Jahre alt - schaut von dem Sofa auf.
„Hi, Mari.“
„Hi.“
„Du bist Samy, stimmt's?“, fragt die Kleine Samy interessiert.
„Ja.“
„Ich bin Maya. Hi.“
„Hi.“
„Ist da dein Keyboard drin?“, sie deutet auf den Koffer.
„Ja.“
„He he“, sie nimmt ihm den Koffer ab und schleppt ihn zur Bühne.
Ein zirka dreißigjähriger Asiat, kommt durch die Tür, die zum hinteren Bereich führt. Er trägt feminine Kleidung und hat - auch für einen Asiaten - ungewöhnlich weiche Gesichtszüge.
„Hey, Shin. Samy ist da“, ruft Maya ihm zu.
„Hallo“, Shin mustert Samy ausführlich. „Du wirst also unsere Texte schreiben?“
Samy schaut Mari fragend an.
„Ach ja, das wollte ich ja noch fragen“, erklärt Mari verlegen. „Wäre echt toll, wenn du das machen würdest.“
„Weiß nicht. Ich bin nicht besonders gut darin.“
„Doch, bist du. Ich weiß es“, sie blickt ihn lieb an. „Bitte.“
„Ja, bitte“, bestärkt Maya.
Samy zuckt mit den Schultern. „Ich kann’s ja versuchen.“
„Yeah“, Maya macht eine Siegerfaust.
Samy holt einige Notenblätter aus seinem Koffer.
„Deine Songs? Zeig mal“, Maya nimmt ihm die Blätter ab und begutachtet sie gemeinsam mit Mari und Shin.
„Der hier gefällt mir“, Mari deutet auf eins der Songtexte.
Mari nimmt ihre Gitarre zur Hand und spielt die Melodie des ausgewählten Stückes an. Samy betrachtet sie dabei und schaut erneut schüchtern weg, als sie seine Blicke bemerkt und mit einem Lächeln honoriert.
Ein Mann – Ende dreißig - betritt in Lederkluft die Kneipe. Maya zeigt ihm den Liedtext.
„Hi, Michael! Sieh mal.“
Samy baut sein Keyboard auf. Maya setzt sich ans Schlagzeug. Shin nimmt den Bass zur Hand, Michael die Rhythmusgitarre und Mari stellt sich mit ihrer E-Gitarre ans Mikrofon. Sie üben den Song ein. Nach einer Weile sagt Michael:
„Ich glaube, jetzt haben wir’s. Noch mal von vorne.“
Mari beginnt zu singen:
„Auf Drogen gesetzt, konnte ich nicht sein was ich war.
Das Kind wurde schlafen gelegt, Widerstand war undenkbar.
Einst mal vertraut, wurde es zu einem Fremden, einem Feind.
Der Versuch es wecken, wäre verzogen, brächte Leid.
Und so steh ich hier, fürs Schuften programmiert.
Das Herz bestochen und mit Lügen verwirrt.
Die Todessehnsucht in jede Zelle injiziert,
habe ich mich in ein Zombiedasein verirrt.
Zombie.“

Es ist spät geworden. Maya gähnt.
“Lasst uns für heute Schluss machen“, schlägt Shin vor.
Sie legen die Instrumente zur Seite. Maya schaltet den Fernseher ein und legt sich aufs Sofa. Samy beobachtet, wie ihr die Augen langsam zufallen.
„Um wie viel Uhr muss sie immer zu Bett gehen?“
„Das entscheidet sie selbst“, erwidert Shin.
„Ich will jetzt. Trägst du mich?“, fragt Maya Samy und streckt ihm ihre Arme entgegen.
„Okay“, er nimmt sie auf den Arm.
„Brüderchen, he he.“, sie kuschelt sich an ihn heran.
„Komm“, sagt Mari. „Ich zeig dir, wo sie schläft.“
Mari führt Samy in den hinteren Wohnbereich. Der hintere Bereich besteht aus drei Schlafräumen und einem Badezimmer. Mari führt Samy in ihr und Mayas gemeinsames Schlafzimmer. Dort legt er Maya ins Bett. Mari zieht ihr die Schuhe aus und Samy deckt sie zu. Er schaut auf die Uhr.
„Ich muss los. Die letzte Bahn fährt gleich.“
„Schlaf doch hier“, erwidert Mari lieb.
„Wirklich?“
„Klar. Das hintere Zimmer ist noch frei.“
„Okay. Ich sag nur gerade zuhause bescheid.“
„Ja.“
Samy geht zurück in die Kneipe und ruft seine Mutter über sein Handy aus an. Als er in den hinteren Bereich zurückkehrt, macht Mari gerade das Bett im hintersten Zimmer.
Sie lächelt: „Erst gestern frisch bezogen.“
„Danke. Wie lange lebt ihr hier schon so?“
„Weiß nicht“, sie hält inne. „Mir kommt’s vor, als wären wir schon immer hier. Im Bad ist ne Zahnbürste für dich. Schlaf gut.“
„Du auch.“
Mari lächelt ihm noch einmal zu und verlässt das Zimmer. Samy legt sich schlafen.

Am nächsten Mittag decken Mari, Shin und Michael den Frühstückstisch. Samy kommt verschlafen aus dem hinteren Bereich. Maya wendet sich ihm zu.
„Hallo, Brüderchen. Wir haben Brötchen geholt.“
„Hey“, begrüßt Mari ihn.
„Hey“, Samy nimmt sich ein Brötchen und belegt es. Maya zeichnet nebenher an einem Mangabild.
„Heute ist sehr schönes Wetter“, merkt Shin an.
„Stimmt“, erwidert Mari und fragt Samy: „Sollen wir gleich etwas raus gehen?“
Samy nickt.
„Oh, ich komme mit“, sagt Maya selbstbewußt. Sie zeigt Samy die Zeichnung an der sie gerade arbeitet.
„Schau mal.“, die Zeichnung wirkt wie von einem Profi gezeichnet.
„Krass“, erwidert Samy. „Das sind wir, ne?“
„Hehe, genau.“

Nils und seine Freundin Julia stehen vor einem Hauseingang und knutschen.
„Lass uns reingehen“, bittet Julia zitternd. „Mir ist kalt“.
„Ne, hab’ keinen Bock auf deine Alte“, winkt Nils schroff ab.
Er versucht sie erneut zu küssen. Julia will ihn necken und dreht jedes Mal den Kopf weg, wenn Nils versucht ihr die Zunge in den Mund zu stecken.
„Was soll der Scheiß?“ Nils ist genervt.
Julia lacht amüsiert. Nils packt ihren Kopf und stopft ihr ruppig die Zunge in den Mund. Julia kitzelt ihn daraufhin an der Seite. Nils zuckt zusammen und schuppst sie zurück.
„Du Schlampe!“
Mari, Maya und Samy sind indessen auf ihrem Spaziergang und kommen auf ihrem Weg an Nils und Julia vorbei. Nils grüßt Samy beiläufig. Samy grüßt unsicher zurück.
„Was macht denn die Tusse da bei ihm?“, fragt Nils leise - mehr sich selbst als seine Freundin. „Der ist doch schwul.“
„Keine Ahnung, ey“, erwidert Julia gleichgültig. „Ist vielleicht seine Schwester.“
„Der hat doch gar keine Geschwister.“
„Ist doch scheiß egal!“, keift Julia und wird ärgerlich. „Warum grüßt du den überhaupt? Bist jetzt auch zu so ’nem Homo geworden, oder was?“
Nils schlägt ihr augenblicklich mit der Faust ins Gesicht. „Sag das noch einmal und ich bringe dich um, du Fotze! Ist das klar?“ Er packt sie am Kragen. „Ob das klar ist?“
„Ja“, antwortet Julia entsetzt und kleinlaut.
Er lässt von ihr ab und sie sackt weinend zu Boden.

Samy und die beiden Mädchen haben von all dem nichts mitbekommen und spazieren weiter durch das Wohngebiet.
Maya deutet auf etwas.
„Ey, ein Eichhörnchen!“ Sie pirscht sich an das Tier heran.
Mari wendet sich währenddessen Samy zu. „Der Song gefällt mir total gut. Ich wusste, dass du das kannst.“
„Danke“, erwidert er schüchtern.
„Du hast viel durchgemacht, oder?“ Er zuckt mit den Schultern. Sie nimmt seine Hand.
Maya deutet auf einen Kinderspielplatz und signalisiert, dass sie dort hin geht. Mari und Samy folgen ihr und machen es sich auf den Schaukeln bequem, während sich Maya auf dem Klettergerüst amüsiert.
„Hast du immer noch Todessehnsucht?“, fragt Mari nach einer Weile vorsichtig.
„Manchmal“, erwidert Samy und blickt auf den Boden. „Aber eigentlich will ich nur weg von allem. Irgendwie neu anfangen. Herauszufinden, was für mich gut ist und so.“
Er beginnt mit dem Fuß im Sand unter ihm zu graben. „Ich weiß nur nicht wie. Bisher habe ich immer nur das getan, was mir gesagt wurde.“
Als er wieder hoch schaut, steht Mari vor ihm. Sie beugt sich zu ihm hinunter und sagt mit vertrauensvoller Stimme: „Wir helfen dir dabei“. Schließlich küsst sie ihn zärtlich auf den Mund.
Maya, die das vom Gerüst aus beobachtet hat, kichert. Sie rennt zu den beiden hinüber und umarmt sie.
„Proben wir jetzt weiter?“
Am nächsten frühen Morgen in der Kneipe. Samy steht vor den anderen auf. Im nächsten Zimmer liegt Maya zwischen Shin und Michael im Bett. Ein Zimmer weiter schläft Mari. Er betrachtet sie eine Weile und geht schließlich nach vorne in die Kneipe. Dort setzt er sich mit Papier und Bleistift aufs Sofa und beginnt einen neuen Song zu schreiben.
Kurz darauf wird auch Mari wach und setzt sich zu ihm aufs Sofa. Sie liest, was er bisher geschrieben hat und gibt ihm einen Kuss. Samy erwidert den Kuss. Sie setzt sich auf seinen Schoß und liebkost ihn zärtlich. Schließlich gehen sie in ihr Zimmer und schlafen miteinander.

Im Bett liegend nimmt Mari eine Hand von Samy und streicht über die Fingernägel. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“
„Hm…“, er überlegt. „Dunkelblau.“
“Okay“, sie steht auf und zieht Samy aus dem Bett. „Komm mit.“
Kurz darauf färben Mari und Maya Samy’s Haare dunkelblau. Shin lackiert Samys Fingernägel währenddessen ebenfalls in einem ähnlichen Blauton.
Am Nachmittag geht die Band gemeinsam ins nahe gelegende Einkaufszentrum. Dort lässt sich Samy beim Piercer ein Ohrpiercing stechen und beim Optiker Kontaktlinsen anpassen. Schließlich klappern sie die Klamottenläden ab und verpassen Samy einen typischen Visual Kei Look.
Nachdem Samys Verwandlung abgeschlossen ist, posiert die Band zusammen bei einem Fotografen und lässt Promotions-Fotos von sich schießen.

Am nächsten Tag in der Schule. Samy betritt in seinem neuen Look das Schulgebäude. Er ist nervös. Sofort wird er von verschiedenen Leuten angegafft. Zwei Mädchen kichern. Ein Lehrer runzelt die Stirn. Ein Punk grüßt ihn. „Krasse Haarfarbe!“
Zwei weitere Mädchen tuscheln und lächeln ihn an.
Er erreicht schließlich das Klassenzimmer. Als er Nils und seine Kumpels erblickt, ballt er schnell seine Hände zu Fäusten, um seine lackierten Fingernägel zu verbergen. Hassan entdeckt ihn und bricht lachend zusammen. „Ey, Alter! Zu krass!“
Nun lachen auch Johan und Jens. Nur Nils hält sich zurück.
„Ey, hast du den Ohrring von deinem Lover, oder was?“, prustet Hassan laut durchs Klassenzimmer.
„Hat er ihm bestimmt zur Verlobung geschenkt“, ergänzt Johan. Der Lehrer kommt in Begleitung von Tamara ins Klassenzimmer. „Ruhe bitte!“
„Es hat noch nicht geklingelt“, beschwert sich Johan.
„Ich weiß“, entgegnet der Lehrer in einem sanften Ton. „Ich bitte euch trotzdem. Eure Schülersprecherin möchte euch etwas sagen.“
„Ähm, hallo“, Tamara wartet bis Ruhe eingekehrt ist. „Ihr wisst ja, nächsten Monat ist unser Sommerfestival.“
Einige Schüler jubeln, einige stöhnen.
„Wir suchen noch eine Band, die dort auftreten möchte.“
„Tamara-Baby, zieh’ dich aus!“, unterbricht Hassan sie. Die Schüler lachen. Der Lehrer blickt böse in die Runde.
„Ha ha…“, Tamara wird verlegen. „Also, wer Interesse hat, kann sich ja bei mir melden“, sie lässt ihren Blick unsicher durch den Raum schweifen. „Ja… das war’s auch schon. Danke.“
„Schade, doch kein Strip“, sagt Hassan leise zu Johan.

Nach der Stunde geht Samy hinunter zur Schülervertretung und erzählt Tamara von seiner Band. Tamaras Vertreterin Tanja sitzt hinter ihnen an einem Pult und belauscht sie.
„Oh, es freut mich, dass du doch noch eine Sängerin gefunden hast“, sagt Tamara und versucht erfreut zu wirken. „Ähm… ist eure Band denn schon gut genug für einen Auftritt?“
„Auf jeden Fall“, erwidert er – dabei bemüht seine Unsicherheit zu verbergen.
„Aber…“, sie versucht die richtigen Worte zu finden. „Werdet ihr etwa diese Texte von dir singen?“
“Ja, schon“, antwortet er und rechnet im selben Moment schon fest mit einer Absage.
„Hm, ich weiß nicht“, Tamara schaut skeptisch und überlegt einen Augenblick. „Machen wir es so. Meldet sich bis nächste Woche keine andere Band mehr, seit ihr dabei, okay?“
„Okay“, erwidert Samy mit einem schizophrenem Gefühl aus Hoffnung und Enttäuschung und verabschiedet sich.
„Ich sage dir dann bescheid“, ruft sie ihm nach als er den Raum verlässt.
Nachdem sie sich vergewissert hat, dass Samy außer hörweite ist, beginnt Tanja zu gackern. „Hast du seine Fingernägel gesehen?“
„Allerdings!“, Tamara beginnt ebenfalls zu gackern.
„Du willst den doch nicht wirklich auftreten lassen, oder?“
„Ich glaube, mir wird nichts anderes übrig bleiben. Das Programm ist schon so mager. Und so eine Karaoke-Show wie letztes Jahr ist mir einfach zu peinlich.“
„Na, hoffentlich wird’s mit dem nicht noch peinlicher.“
„Das hoffe ich auch nicht“, Tamara spielt sie würde weinen.
„Oh, du Armes!“, Tanja tröstet sie theatralisch. „Mit was für Freaks du dich immer rumschlagen musst.“
„Ja! Warum tue ich mir das nur immer wieder an?“
„Na ja. Hast du es erstmal zur Bildungsministerin gebracht, kannst du es ihnen allen heimzahlen.“
„Ja! Als erstes werde ich dann an allen Schulen ein Nagellackverbot für Jungs durchsetzen.“
Das Gelächter der beiden hallt durch die ganze Schule.

Am Nachmittag kommt Shin zurück in die Kneipe. Der Rest der Band ist bereits dort und wirkt aufgeregt. Maya stürmt auf ihn zu.
„Ey, Shin! Weißt du was?“, sie ringt nach Luft. „Wir haben nächsten Monat einen Auftritt.“
„Nur vielleicht.“, betont Samy.
„Aber ich wette es wird klappen.“, erwidert sie siegessicher.
„Ich auch.“, stimmt Mari zu. „Am Besten wir fangen gleich damit an, noch ein paar Songs einzustudieren.“
„Ja, genau. He he.“
„Und wir sollten unsere Homepage endlich einrichten.“, sagt Michael „Samy, du wolltest doch deinen Laptop mitbringen?“
„Stimmt.“, erwidert Samy. „Ich hole ihn am Besten jetzt gleich. Muss mich eh mal wieder zuhause sehen lassen.“

Als Samy zusammen mit Mari bei sich zu Hause eintrifft, kommt sein Opa kommt gerade aus dem Badezimmer.
„Guten Tag, Samuel.“
„Hallo.“, erwidert Samy knapp.
Der Opa mustert Mari: „Guten Tag.“
Mari erwidert mit einem zaghaften Nicken.
„Guten Tag!“, wiederholt der Opa diesmal lauter und fordernder.
„Guten Tag.“, sagt Mari schließlich gezwungen und folgt Samy schnell in dessen Zimmer. Der Opa geht kopfschüttelnd in die Küche, in der sich auch Samys Mutter aufhält und meckert vor sich hin: „Nicht zu glauben.“
„Was denn?“, fragt die Mutter sich angesprochen fühlend.
In seinem Zimmer angekommen, holt Samy den Laptop aus dem Schrank und packt ihn in eine Tasche. Mari entdeckt die Hülle von dem Ballerspiel und betrachtet sie.
„Magst du solche Spiele?“
„Manchmal.“, erwidert er während er das Zubehör zusammensucht und mit in die Tasche packt.
„Ich find die so brutal.“
„Hilft mir halt Aggressionen abzubauen.“
„Bist du oft wütend?“, fragt sie mit ernster Miene. Samy zieht sie daraufhin in seine Arme und küsst sie zärtlich.
„Nicht mehr seit ich dich kenne.“
„Gut.“, erwidert sie und kichert als Samy eines ihrer Ohrläppchen liebkost. Dann nimmt er ihr die Hülle ab und verstaut sie demonstrativ in der hintersten Ecke des Schrankes.
„He he.“, sie küsst ihn auf den Mund und umarmt ihn.
Doch dann ruft die Mutter ihn aus der Küche zu sich. Genervt löst er sich von Mari und geht hinüber.
„Lange nicht gesehen.“, sagt sie vorwurfsvoll. „Wie läuft’s in der Schule?“
„Wie immer.“, antwortet Samy knapp.
„Aber was ist damit passiert?“, sie deutet auf seine dunkelblauen Haare.
„Getönt halt.“, antwortet er und füllt zwei Gläser mit Orangensaft auf.
„Du siehst aus wie ein Paradiesvogel.“, spottet der Opa.
Die Mutter lacht plötzlich laut auf. Der gehässige Ton in ihrem Gelächter trifft Samy tief ins Herz. Er verliert für eine Sekunde die Orientierung, stützt sich an der Arbeitsplatte ab und verschüttet dabei etwas von dem Saft.
„Dass du ihm das erlaubst.“, sagt der Opa vorwurfsvoll.
„Na ja“, die Mutter geht in Defensivstellung. „Es ist wahrscheinlich gerade in Mode sich die Haare zu färben.“
„Ach, Trend“, der Opa winkt ab. „Als ich mich noch um seine Erziehung gekümmert habe, hatte er nie solche Flausen im Kopf.“
Samy wischt hastig den verschütteten Saft auf. Er will nur schnell weg von dort.
„Die Psychologin riet mir ihm mehr Freiheiten zu lassen“, verteidigt sich die Mutter weiter. „Das ist doch nur eine Phase, die sich bald wieder geben wird.“
„Na, hoffentlich.“, erwidert der Opa. „Sonst wären ja alle meine Bemühungen umsonst gewesen“, er klingt wie ein Politiker, der der Opposition die Schuld an der Fehlentwicklung seiner Reformen gibt. „Hast du dieses seltsame Mädchen bei ihm gesehen?“
Die Mutter schüttelt geschlagen den Kopf.
„Ist auch so’n Paradiesvogel.“
Samy nimmt die Gläser und eilt aus der Küche.
„Nimm dir lieber wieder deine Mutter zum Vorbild, hörst du?“, ruft der Opa ihm nach, als er bereits in seinem Zimmer angekommen ist.
„Was ist los?“, fragt Mari, als sie Samys gestressten Gesichtsausdruck bemerkt.
„Ach, die gehen mir auf die Nerven.“, er stellt die Gläser ab und geht zum Schrank. „Ich brauche das Spiel doch noch mal.“, sagt er scherzend und tut so als wolle er an den Schrank.
Mari stürmt zu ihm hinüber und hält grinsend die Schranktür zu. „Nein, nicht! Küss mich lieber.“ Sie albern herum und küssen sich.
„Lass uns schnell wieder von hier verschwinden.“, bittet Samy.
“Ja, gehen wir nach Hause.“, erwidert Mari.

Das Schulfestival ist im vollen Gange. Mitten auf dem tristen Schulhof ist eine Bühne aufgebaut, auf dem der Chor gerade eines seiner Lieder performt. Hinter ihm sind bereits die Instrumente der Band aufgebaut. Samy und der Rest der Band warten hinter der Bühne.
„Wie lange singen die denn noch?“, fragt Maya nervös.
Mari schaut in ein Programmheft. „Ich glaube, das ist ihr letztes Lied. Dann sind wir dran.“
Als der Chor sein Lied beendet hat kommt ein Ansager auf die Bühne.
„Und nun folgt ein wenig Visual Kei, eine aus Japan adaptierte Jugendkultur. Hier ist die Band Mari-tachi.“
Von spärlichem Applaus und Buhrufen begleitet, betritt die Band die Bühne und setzt sich an die Instrumente.
„Oh nein, ey!“, Johan steht mit Hassan und Nils mitten in der Zuschauermenge. „Seht mal wer da ist.“
„Ach du Scheiße, Alter!“, Hassan prustet los. Nur Nils wirkt sichtlich interessiert.
Die Band beginnt ihren ersten Song zu spielen:

“Schon die, die mich als Kind behüten sollten.
Zwangen mir auf was immer sie wollten.
Ich selbst zu sein wurde mir stets verboten.
Sie definierten mich nach Alter, Größe und per Noten.“

Während er am Keyboard steht und seine Noten spielt, schaut Samy zwischendurch in die Zuschauermenge und beobachtet enttäuscht die Reaktionen aus dem Publikum. Viele der Schüler verziehen die Gesichter, viele andere lachen.

„Und so hatten sie mich an den Rand der Verzweiflung getrieben.
Fantasien alle wegzuballern, waren mir nur noch geblieben.“

Ein Lehrer blickt spöttisch zu ihnen rauf.

„Doch dann erwachte ich aus diesem Alptraum des Selbstbetrugs.
Und erkannte, dass ich den harten Weg zur Freiheit in mir Trug.
Freiheit.“

Als die Band nach ungefähr 20 Minuten mit ihren Songs durch ist und die Bühne wieder verlässt, klatschen einige Zuschauer verhalten. Unter ihnen auch Nils. Dafür erntet er von Hassan einen verwunderten Blick und erhält einen Schubser von ihm.
Die Band verteilt vor der Bühne die Flyer an die Zuschauer. Samy reicht den Flyer einer Schülerin. Doch diese lehnt demonstrativ ab: „Was soll ich damit?“
Auch der nächste Schüler lehnt ab und schlägt Samy den Flyer aus der Hand: „Behalt den Scheiß!“
Genervt drückt Samy Mari seine restlichen Flyer in die Hand.
„Hier, ich muss mal!“ Er geht zu den Toiletten.
Nils hebt von den anderen unbemerkt den Flyer vom Boden auf und steckt ihn ein.

Samy steht vor einem Pissoir und verrichtet sein Geschäft. Außer ihm ist niemand dort. Doch dann steht Nils plötzlich hinter ihm. „Hey, Sammyboy.“
Samy erschrickt und zieht schnell seinen Hosenschlitz zu.
„Keine Angst, ich habe l e i d e r nichts gesehen.“, spottet er und grinst. „Krasse Mucke eben.“, fährt er mit nun ernsterem Ton fort. „Besonders der Text. Ist der von der Kleinen?“
„Von mir.“, erwidert Samy undeutlich.
„Echt?“, Nils Begeisterung scheint ehrlich zu sein. „Geil!“
Doch als ein weiterer Schüler in die Toilettenräume kommt, schreckt Nils auf und schließt sich schnell in eine der Kabinen ein.
Am nächsten Tag geht Mari mit Samy einen neuen Song durch. Maya sitzt währenddessen am Schlagzeug und übt.
„Wie wäre es hier mit einer Subdominanten?“ fragt Mari ihn.
„Was?“, Samy ist in Gedanken und wirkt lustlos. „Ach so, weiß nicht.“
„Was ist los? Keine Lust?“
Samy zuckt mit den Schultern. Michael und Shin kommen mit mehreren Mikrofonen in die Kneipe.
„Wofür sind die?“, fragt Maya verwundert.
„Mit denen können wir unsere Songs aufnehmen.“, antwortet Shin.
„Ich dachte, es wird Zeit ein Demotape zu machen.“, ergänzt Michael.
„Woah, super Idee!“, Maya hüpft herum.
„Ja, echt!“, stimmt Mari ihr zu.
„Außerdem können wir dann auch ein paar Songs ins Netz stellen.“, fährt Michael fort. „Vielleicht schaffen wir's ja sogar in die Charts auf my-musica.de“
„Gut, was?“ Mari strahlt Samy an. Doch dieser wirkt nicht sehr begeistert. Sie streichelt daraufhin seine Hand und schaut ihn fragend an.
„Für deine Gitarre.“, Shin reicht Mari eines der Mikrofone. Sie nimmt es und hält es Samy hin. „Hilfst du mir es anzuschließen?“. Sie setzt einen sehr süßen, bettelnden Blick auf, der Samys schlechte Stimmung sofort umschlagen lässt.
„Okay.“, erwidert er und macht sich daran, den anderen dabei zu helfen, alles für die bevorstehende Aufnahmesession vorzubereiten.
Nachdem die Aufnahmen aller Songs zu aller Zufriedenheit gelungen ist, beginnt Samy sie auf CD zu brennen.
„Wie viele Kopien brauchen wir?“
„Ich habe ne Liste gemacht.“, erwidert Michael und holt einen Zettel hervor. „Mit allen Labels, die in Frage kommen.“
„Die hier sind alle okay.“, sagt Mari, nachdem sie die Liste genaustens studiert hat. „ Aber Miram-Records? Die sind doch gar nicht mehr wirklich Independent, seit die von diesem Majorlabel geschluckt wurden.“
„Versuchen können wir’s ja trotzdem bei denen.“
“Wenn du meinst.“, gibt sie nach und wendet sich an Samy. „Dann brauchen wir insgesamt sieben Kopien.“
Einige Tage später. Schulschluss. Samy macht sich auf den Weg nach Hause. Nils folgt ihm.
„Warte mal.“, ruft er ihm leise hinterher und zieht ihn in die nächste Seitenstrasse. „Besser es sieht mich keiner mit dir. Hab’ keinen Bock auf die Sprüche.“, er schaut sich um und vergewissert sich, dass sie keiner gesehen hat. „Ich habe eure anderen Songs im Internet gehört. Die sind einfach zu geil!“
„Danke.“, erwidert Samy und weiß nicht so recht was er davon halten soll.
„Du hast es echt drauf, was die Texte angeht.“, lobt Nils ihn, während sie ihren Weg fortsetzen. „Sprechen mir echt aus der Seele!“
Nach einer Weile des Schweigens, deutet er auf Samys Fingernägel. „Nur deinen Look finde ich seltsam. Aber auch mutig irgendwie.“ Er fühlt sich sichtlich unwohl bei diesem Geständnis. „Ist die Sängerin eigentlich deine Schwester, oder wer?“, lenkt er schnell ab.
„Meine Freundin.“, antwortet Samy.
„Freundin.“, Nils betont das Wort besonders. „Aber nicht Geliebte, oder?“
„Doch.“
„Will…“, er korrigiert sich. „… äh… kann ich irgendwie nicht glauben.“
„Ist aber so.“
„Hm.“, Nils wirkt plötzlich leicht verärgert. „Bist wohl doch nicht so mutig, wie ich dachte.“
„Was meinst du?“, Samy kapiert nichts.
„Schon gut, Sammyboy.“, er nimmt wieder seine typische, souveräne Haltung ein. „Ich versteh’ das nur zu gut.“
Nach einigen Metern erreichen sie einen Basketballplatz auf dem gerade einige Jungs spielen. Als Nils diese Jungs erblickt, serviert er Samy hastig ab. „Verpiss dich jetzt lieber.“
Er lässt Samy stehen und geht zu den Jungs herüber.
Samy sitzt im Arbeitszimmer seiner Mutter und surft im Internet. Er schaut sich die Charts auf my-musica.de an. Ihr Song „Zombie“ ist um 10 Plätze auf Platz 599 gefallen. Enttäuscht klickt er die Seite weg und pfeffert die Maus zur Seite. Im gleichen Moment kommt seine Mutter ins Zimmer.
„Was machst du hier?“
„Surfen. Mein Laptop ist noch bei Mari.“
„Deswegen musst du meinen PC aber nicht beschädigen.“, erwidert die Mutter verärgert. „Übrigens, als ich letztens mit der Psychologin sprach, sagte sie mir, du seiest zu keiner einzigen Sitzung bei ihr erschienen. Was ist los?“
„Nichts. Ich habe nur keinen Bock darauf.“
„Warum nicht?“
„Ich weiß nicht was ich da soll.“
„Ich halte ja auch nicht viel von der.“, erwidert sie leicht resigniert. „Sie wollte dir ja nicht mal was verschreiben. Aber ich weiß sonst nicht wie ich dir helfen soll.“
„Das musst du ja auch nicht.“, Samys Laune sinkt durch dieses Gespräch noch weiter in den Keller.
„Ich kann dir nur immer wieder raten, konzentrier’ dich auf deine berufliche Karriere.“, fährt die Mutter fort. „Mich zumindest hat das von allen Problemen abgelenkt damals.“
„Ja, Mama! Ich weiß.“, zu seiner Erleichterung klingelt das Telefon und er nimmt den Hörer ab. „Ja?“
„Samy?“, fragt Mari aufgeregt durchs Telefon. Auch Maya ist zu hören: „Lass mich erzählen! Du Samy, es ist was ganz tolles passiert!“
Die Band sitzt an einem Konferenztisch. Sie ist bei einem Vorstellungsgespräch beim Label Miram-Records. Ihnen gegenüber sitzt der A&R-Manager mit einigen Kollegen.
„Es freut uns sehr, dass ihr gekommen seid.“, begrüßt sie der Manager. „Also, zu allererst muss ich sagen, eure Spieltechnik ist phänomenal!“
„Danke.“, sagt Mari.
Der Manager schaut zu der kleinen Maya herüber. „Ich kann kaum glauben, dass eure Schlagzeugerin erst zehn Jahre alt sein soll.“
„Doch, das bin ich wirklich.“, sagt Maya bekräftigend.
„Ja. Das sollte auch überhaupt kein Hindernis sein, mein Schatz.“, fährt er fort. „Was allerdings ein Hindernis werden könnte, sind die Texte. An denen müsst ihr noch was machen.“
„Wie bitte?“, Mari ist verblüfft.
„Versteht mich nicht falsch, sie sind gut geschrieben. Sie sind inhaltlich nur zu – wie soll ich sagen“, er sucht nach dem richtigen Wort. „Na ja, zu speziell halt.“
“Wir sind uns sehr sicher, dass sich gerade mit diesen Texten eine große Fangemeinde finden lassen wird.“, wendet Michael ein.
„Nun, vielleicht.“, erwidert der Manager in stereotypischer Kaufmannspose. „Vielleicht aber auch nicht. Wir sind zwar ein Independentlabel und haben uns auch dem traditionellen Weg verschrieben, eine Band erstmal von klein auf zu begleiten und aufzubauen. Aber auch wir müssen dabei immer auf den Markt achten. Und da wäre dann schon eine gewisse Kompromissbereitschaft eurerseits von Nöten. Neben der Bereitschaft hart zu arbeiten ist das eine der Grundvorrausetzungen. Besonders in diesen Zeiten.“
„Die Texte sind aber die Seele unserer Musik.“, wendet Mari ein.
„Das mag ja sein. Sie machen das Risiko für uns aber einfach unkalkulierbar.“
“Also dann…“, Mari holt verbittert nach Luft „… dann können wir nicht ins Geschäft kommen.“
Bis auf Samy, stimmen ihr alle anderen aus der Band zu. Sie stehen vom Tisch auf.
„Seid ihr euch wirklich sicher? Ihr verpasst hier eine einzigartige Gelegenheit“, sagt der Manager.
„Ja, wir sind uns sicher.“, erwidert Michael.
„Schade. Wirklich sehr schade.“, der Manager drückt ihm eine Visitenkarte in die Hand. „Falls ihr es euch noch anders überlegt, ruft uns an.“
Frustriert verlässt die Band den Konferenzraum. „Ich wusste es doch.“, flüstert Mari Michael beim rausgehen zu.

Samy läuft durch den Märchenwald. Er erreicht einen Sarg, der in dem Kleeblattbeet aufgebart ist. Dieser ist geschlossen. Er hört hinter sich jemanden schluchzen und dreht sich um. Seine Mutter steht dort in Schwarz gekleidet und weint. Er wendet sich wieder dem Sarg zu und klappt den Deckel langsam hoch.
„Oma?“, kommt es aus ihm heraus.
„Nein, ich bin hier.“, hört er jemanden hinter sich sagen. Als er sich erneut umdreht, erblickt er seine Oma. Auch sie weint. Die Mutter hat sich in ein kleines Mädchen verwandelt und ist an der Hand der Oma.
Samy dreht sich aufgeregt zum Sarg um und schaut hinein. Dort liegt Mari. Sie ist tot. Er erwacht.

Samy findet sich im Bett neben Mari wieder. Sie schläft. Er steht auf und geht in die Kneipe. Auf dem Tisch liegt eine Zeichnung von Maya. Sie zeigt ein Mädchen in einem Sarg. Samy packt seine Sachen zusammen.
Mari erwacht ebenfalls und kommt zu ihm in die Kneipe.
„Was hast du vor?“, fragt sie.
„Ich verschwinde.“, erwidert er. „Ich steh’ euch nur im Weg.“
„Das stimmt doch nicht. Du bist ein Teil von uns.“
„Ja. Der Teil, der euch daran hindert erfolgreich zu sein.“
„Darauf kommt es doch nicht an. Außerdem gibt es noch andere Labels.“
„Die werden das gleiche sagen.“, er geht zur Wohnungstür.
„Samy.“, sie will ihm nachgehen.
„Bitte folg’ mir nicht. Ich will jetzt alleine sein.“
Er lässt Mari stehen und verlässt die Kneipe.

Samy steht vorm Spiegel in seinem Zimmer und schneidet sich selbst die Haare mit einer gewöhnlichen Haushaltschere kurz. Er entfernt den Nagellack von den Fingernägeln, wechselt die Klamotten gegen schlichtere und ersetzt das Piercing durch einen Ohrring mit Totenkopfmotiv. Schließlich nimmt er seinen MP3-Player und verlässt die Wohnung.
Ziellos streift er durch die Nachbarschaft. Die Musik dröhnt aus seinen Kopfhörern. Er ist wütend und verzweifelt.
Nach einer Weile erreicht er den Sportplatz. Dort wirft Nils gerade Körbe. Er ist allein.
„Jo, Sammyboy!“, er mustert Samy erstaunt. „Siehst ja echt männlich aus in diesen Klamotten. Richtig vorzeigbar, Alter!“
Er wirft Samy den Ball zu.
„Versuch an mir vorbeizukommen.“
Samy dribbelt den Ball Richtung Korb. Nils lässt ihn ohne Abwehr vorbeiziehen und läuft ihm nach. Als Samy den Korb erreicht und zum Sprung ansetzt, fasst Nils ihn an den Hintern und drückt zu. Samy verliert die Orientierung und verfehlt den Korb.
„Das war die Arschfickabwehr!“, sagt Nils lachend.
Samy wird noch wütender als er eh schon ist. Er holt sich den Ball wieder und schleudert ihn mit voller Wucht auf Nils. Dieser kann den Ball gerade noch mit dem Arm abwehren.
„Alter, was geht?“, ruft Nils teils überrascht, teils belustigt. „Du sahst eben schon so angepisst aus. Als wolltest du alle wegballern.“
„Würde ich am Liebsten auch!“, erwidert Samy aggressiv.
„Dann komm’ mit zu mir.“, schlägt Nils in einem fast zärtlichen Ton vor. „Ich habe Egoshooters 3“ Er legt seinen Arm um Samys Schulter. “Na komm, Alter. Es tut mir Leid, okay?“

Nils und Samy betreten eine mittelgroße Villa. Eine Frau mit Perlenkette und typischer High-Society-Uniform kommt ihnen entgegen. Es handelt sich um Nils Mutter.
„Da bist du ja.“, ruft sie ihrem Sohn genervt zu. „Komm mal kurz mit, bitte. Dein Freund soll solange warten.“
Nils folgt ihr in das Arbeitzimmer seines Vaters.
„Der kam heute von deiner Schule.“, zischt sie und hält ihm einen Brief entgegen. „Darin steht, dass du permanent zu spät zum Unterricht kommst. Was hast du dazu zu sagen?“
Nils zuckt mit den Schultern. „Ich liebe den dramatischen Auftritt.“
„Werd’ jetzt ja nicht frech, klar!“, erwidert die Mutter so aggressiv, dass Nils erschrocken zurück weicht. „Ich will jetzt einen Grund von dir hören!“
„Na ja.“, Nils wird kleinlaut. „Letzte Woche zum Beispiel, da hast du mich nicht eher gehen lassen, bis ich die Cornflakes, die ich verschüttet habe, aufgewischt hatte.“
„Ach so, jetzt bin ich auch noch Schuld, oder was?! Du spinnst wohl!“, die Mutter steigert sich immer weiter in ihre Wut hinein. „Als hätte ich nicht schon genug Stress am Hals. Und wie soll ich deinem Vater diesen Brief bitte erklären?“, in den wütenden Klang ihrer Stimme mischt sich Verzweiflung. „Der hat doch schon genug damit zu tun, unser Land zu regieren. Der hält mich doch für total bekloppt, wenn ich es ohne seine Hilfe nicht mal schaffe unser Zuhause ordentlich zu führen.“
Nils, der einen Kopf größer als seine Mutter ist, steht stumm und gebeugt vor ihr. „Verzieh dich auf dein Zimmer! Und sag Papa ja nichts von dem Brief.“
Nils verlässt das Arbeitszimmer.
„Ich hasse alle Weiber!“, flüstert er Samy zu und flieht mit ihm auf sein Zimmer im ersten Stock.

Dort legt er ein Ballerspiel in seine Spielekonsole ein und startet das Gerät. Er hebt eine Pflanze aus dem Übertopf neben dem Fernseher und nimmt einen darin versteckten Flachmann heraus.
Gemeinsam setzen sich vor den Bildschirm. Nils nimmt einen großen Schluck aus der Flasche und reicht sie Samy. Dieser nippt nur einmal daran.
„Lass uns Leute abknallen.“, sagt Nils und schnappt sich ein Joypad. Er drückt Samy ein zweites Joypad in die Hand. Doch schon in den ersten Sekunden wird er im Spiel getötet.
„Scheiße!“
Er schmeißt das Joypad in die Ecke, nimmt mehrere Schlücke aus der Flasche und schaut Samy währenddessen beim Weiterspielen zu.
„Du bist echt gut darin, Sammyboy.“
Bereits leicht beschwipst rückt er näher an Samy heran, legt die Hand auf dessen Oberschenkel und schiebt sie langsam zwischen dessen Beine. Samy schreckt zurück. Nils lässt von ihm ab, nimmt sein Joypad wieder zur Hand und spielt weiter.
„Ich sag’ dir, ohne dieses geile Spiel wäre ich schon längst Amok gelaufen.“ Er wird erneut tödlich getroffen. „So ein Dreck, ey! Ich würde ja schon gerne wissen, wie sich so eine Waffe in echt anfühlt.“
“Mein Opa hat ne Schrotflinte.“, erwähnt Samy, während er sich weiter auf das Spiel konzentriert.
„Echt?“, fragt Nils begeistert. „Und wie fühlt die sich an?“
„Ich durfte sie nie anrühren.“, erwidert Samy schulterzuckend.
Nils Augen beginnen zu glänzen: „Zeig sie mir!“
„Was?“, Samys Blick fällt auf Nils und sofort wieder auf den Bildschirm zurück. „Nein. Mein Opa würde mich erschlagen.“
„Ach, mit dem alten Sack werden wir doch fertig. Komm schon!“
„Lieber nicht.“
„Na los! Der pennt doch sicher schon.“
Samy wird im Spiel tödlich getroffen und schaut auf die Uhr.

Der Opa liegt schlafend in seinem Bett. Die Wohnungstür öffnet sich und zwei Gestalten dringen in die dunkle Wohnung ein. Es sind Samy und Nils. Samy lugt ins Schlafzimmer und vergewissert sich, dass der Opa schon schläft. Er geht mit Nils in die Küche, schließt die Tür und macht das Licht an. Nils steuert direkt auf die Glasvitrine mit der Schrotflinte zu und versucht sie zu öffnen. Doch sie ist verschlossen.
„Fuck, hast du 'nen Draht oder so.“, fragt Nils.
„Brauchen wir nicht.“, erwidert Samy.
Samy nimmt den hintersten Kochtopf aus dem Küchenschrank, nimmt den Deckel ab und holt einen Schlüssel heraus.
„Yeah!“, Nils strahlt.
„Lass mich.“, sagt Nils aufgeregt nachdem Samy den Schrank auf gelossen hat. Er drängt ihn zur Seite und nimmt die Schrotflinte heraus. Fasziniert hält er sie in den Händen. Er umfasst den Lauf mit der Hand, macht damit Wichsbewegungen und grinst Samy dabei an. „Ist die geladen?“
„Die Patronen sind da in der Schachtel.“, er deutet auf eine verrostete alte Metalbox, die mit einem Hakenkreuz verziert ist. Nils entnimmt die Patronen und lädt die Waffe damit. Doch dabei rutscht ihm plötzlich eine der Patronen aus der Hand und sie fällt mit viel Krach zu Boden.
Im Schlafzimmer reißt der Opa erschrocken die Augen auf. Er nimmt ein schnurloses Telefon vom Nachttisch und schleicht zur Küche. Er öffnet vorsichtig die Tür und erblickt Samy.
„Was ist denn hier los?“
Die beiden Jungs erschrecken. Der Opa sieht nun die Flinte in Nils Händen. „Was machst du da mit meiner Waffe?“, fragt er in einem schroffen Ton und wendet sich Samy zu. „Samuel, wer ist das?“
„Das ist Nils.“, erwidert Samy mit zitternder Stimme. „Er wollte nur mal das Gewehr sehen.“
„Nur mal das Gewehr sehen?“, der Opa reißt zornig die Augen auf. „Ich verpass dir gleich eine!“
Er stampft zu Nils herüber und streckt eine Hand aus. „Gib es mir!“ In der anderen Hand hält er das Telefon und wählt.
„Ich rufe deine Mutter an! Jetzt bist du zu weit gegangen…! Ja, hallo Flora! Komm mal sofort hier her! Dein Sohn und sein Komplize sind in meine Wohnung eingebrochen und wollen mich bestehlen.“
Nils zielt mit der Waffe plötzlich auf den Opa und grinst hämisch. „Soll ich den Alten wegballern?“
Der Opa lässt vor Schreck das Telefon fallen. Totenstille. Samy bemerkt die Todesangst des Opas.
„Was ist jetzt? Soll ich dich nun von ihm befreien oder nicht?“
Samy starrt fasziniert in das verängstigte Gesicht des Opas. So klein und hilflos hatte er diesen brutalen, herrischen Mann noch nie zuvor gesehen. Zum ersten Mal nahm er ihn genau so wahr, wie andere alte und hilflose Klappergestelle, die in diesen Dokus über schlechte Altenpflege gezeigt wurden.
„Samy…“, sagt der Opa jammernd. Mit jeder Sekunde spürt er, wie ein Gefühl der Überlegenheit und Rache das Fünkchen Mitleid in ihm immer weiter in den Hintergrund drängt.
Doch plötzlich hört er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und erschreckt. Er nimmt Nils hastig die Waffe ab und legt sie zur Seite. Im gleichen Moment stürmt die Mutter in die Küche.
„Ist alles in Ordnung hier?“
„Du glaubst nicht, was passiert ist!“, sagt der Opa fast schreiend vor Entsetzen. „Die haben mich mit der Waffe bedroht. Ich werde sie anzeigen!“
„Ganz ruhig. Atme erstmal tief durch.“, versucht die Mutter zu beruhigen und wendet sich den beiden Einbrechern zu: „Ihr beiden verschwindet hier. Samy, du wartest unten im Wagen auf mich!“

Nils stürmt johlend vom Treppenhaus auf die Strasse raus.
„Das war zu krass, ey!“, sagt er dem nachtrottendem Samy. „Der Alte hätte sich vor Angst fasst in die Hose geschissen.“ Er imitiert den verschreckten Gesichtsaudruck des Opas und lacht hämisch. „Ich hau jetzt ab. Bis bald!“
Einige Minuten später sitzen Samy und seine Mutter im Auto. Die Mutter ist aufgebracht.
„Sag mal, hast du den Verstand verloren!? Wie kommst du dazu den Opa mit der Waffe zu bedrohen?“
„Hab’ ich doch gar nicht.“, verteidigt sich Samy.
„Ich weiß ja, dass Opa nicht immer leicht ist.“, fährt sie fort als hätte sie ihn nicht gehört. „Er hat mich aufgezogen. Niemand weiß besser als ich wie fordernd er sein kann.“, sie steigert sich immer weiter hinein. „Auch ich habe mir mehr als einmal gewünscht, er würde verschwinden. Aber ich hätte es doch niemals gewagt ihn zu bedrohen! Ich mein, er tat das doch alles aus Liebe und…“
„Mama!“, unterbricht Samy sie energisch. „Ich habe ihn nicht bedroht. Nils hatte die Waffe.“
„Wirklich? Ist das auch wahr?“
„Ja.“
„Der Opa hat von euch beiden geredet. Ich hatte mich schon gewundert. So etwas sieht dir nämlich gar nicht ähnlich.“
Sie startet den Motor und fährt los.
„Es ist besser du triffst diesen Nils nicht mehr. Und morgen wirst du zu Opa gehen und dich entschuldigen. Es hat mich sehr viel Mühe gekostet ihn davon abzubringen euch anzuzeigen. So ein Stress hatte mir gerade noch gefehlt. Wo wir doch gerade erst wieder zwei Verpackerinnen kündigen mussten und deshalb mit dem Hals in Arbeit stecken.“
Während sich die Mutter ihrem Wortschwall hingibt, schaut Samy aus dem Fenster und holt sich das verängstigte Gesicht des Opas ins Gedächtnis. Er schmunzelt ungewollt.

Währenddessen wird Mari von Maya aus dem Schlaf gerissen. Die Kleine steht verschwitzt und zitternd an ihrem Bett.
„Was ist, Maya?“
„Ich kann nicht schlafen. Ich fühle mich krank.“
Mari fühlt ihre Stirn. „Du scheinst Fieber zu haben. Komm.“ Sie schlägt ihre Bettdecke zurück und Maya legt sich zu ihr.
„Ich vermisse Samy.“, sagt Maya nachdem sie sich eingekuschelt hat.
„Ich weiß. Ich auch.“

Am nächsten Tag auf dem Sportplatz. Nils spielt mit Hassan und Johan Basketball. Samy stößt nach einer Weile zu ihnen.
„Was willst du denn hier, Schwuchtel?“, greift Hassan ihn reflexsartig an.
„Lass ihn.“, fällt Nils ihn ins Wort. „Ich habe gesagt, dass er kommen kann.“
„Ist das dein ernst?“, fragt Johan ungläubig.
„Er ist cool. Außerdem brauchen wir einen vierten Mann.“
„Ja, einen Mann und keine Tunte!“, sagt Hassan und tauscht High-Five mit Johan aus.
„Ey, halt jetzt das Maul!“, faucht Nils ihn an und wirft Samy den Ball zu. „Samy und ich gegen euch beide.“
Widerwillig lassen sich Hassan und Johan auf das Spiel ein. Samy dribbelt den Ball ein Stück, spielt ihn dann Nils zu und läuft zum Korb. Nils spielt Johan aus und wirft einen Pass zurück an Samy. Dieser zielt auf den Korb, doch noch bevor er dazu kommt zu werfen, wird er von Hassan brutal gefoult. Samy stürzt zu Boden und scheuert sich das Knie auf.
„Ey, hast du den Arsch offen oder was?!“, schreit Nils und schlägt Hassan mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.
„Ey, bleib mal locker, Alter! Das war doch nichts.“, verteidigt Hassan sich.
„Er blutet, Mann.“, Nils hilft Samy aufzustehen und deutet auf dessen Knie.
„Ey, was kann ich dafür wenn ihn sein Vater nicht hart genug gemacht hat.“, Hassan wendet sich Samy zu. „Was ist mit deinem Vater? Ist der so früh gestorben oder warum konnte er keinen Mann mehr aus dir machen, hä?“
„Der Wixer ist abgehauen bevor ich geboren war.“, erwidert Samy voller Verachtung.
„Boah, Alter!“, Hassan macht ein Gesicht, als hätte Samy sein Allerheiligstes besudelt. „So kannst du doch nicht über deinen Vater reden!“
„Warum nicht?“, mischt sich Nils ein. „Wenn der doch 'nen Wixer war?“
„Ey, egal was der auch gemacht hat, vor seinem Vater muss man immer Respekt haben!“, erwidert Hassan erfürchtig. „Mein Vater, ne? Der beleidigt mich voll oft, nennt mich dumm und so. Aber ich habe trotzdem immer Respekt vor dem. Das ist ein heiliges Gesetz, verstehst du?“
„Nein, tue ich nicht.“
„Das ist aber gar nicht gut, Alter!“
„Ach…!“, winkt Nils ab. „Los, weiter spielen!“
Bis zur Abenddämmerung gehen die Jungs einem fairen Spiel nach. Doch dann verliert Nils die Lust.
„Lasst uns was anderes machen.“
„Wir können ja wieder zu dir gehen, Egoshooters zocken.“, schlägt Nils vor.
„Ne, mein Alter ist zu Hause.“
„Oder wieder in den Tierpark?“
„Ja!“ sagt Hassan begeistert. „Lasst uns wieder diese dummen Waschigel verarschen.“
„WaschBÄREN, du Vollidiot!“, faucht Nils ihn an. „Kommst du mit zum Tierpark, Sammyboy?“
Samy zuckt mit den Schultern.

Eine Stunde später. Es ist bereits dunkle Nacht. Die vier Jungs fahren in Nils Wagen einen Schleichweg entlang und stoppen vor einem Drahtzaun. Sie kneifen den Zaun mit Hilfe einer Zange auf und schlüpfen hindurch. Sie streifen durch den menschenleeren Zoo und kommen an einem Gehege mit Paradiesvögeln vorbei.
„Ey, der sieht ja voll aus wie du, Samy!“, spottet Hassan und deutet auf einen blau gefiederten Vogel. Er liest das Schild vor dem Gehege: „Pa-ra-dies-vö-gel.“
Schließlich erreichen sie das Gehege mit den Waschbären. Hassan holt eine Packung Kekse hervor und hält einen davon an das Käfiggitter. Sofort stürmt einer der Waschbären zu ihm hin. Doch bevor der Bär danach greifen kann, zieht Hassan den Keks wieder weg und schlägt gegen das Gitter. Der Bär erschrickt. „Bist zu lahm, Alter.“
Nils und Johan nehmen sich jeder ebenfalls einige von den Keksen und spielen das gleiche Spiel mit den übrigen Waschbären.
Auch Hassan startet einen neuen Versuch. „Na komm, dummes Bärchen.“ Das Tier versucht erneut nach dem Keks zu greifen. Doch Hassan zieht ihn erneut vorher weg und schlägt gegen das Gitter. Der Waschbär wird aggressiv. Hassan deutet mit dem Finger auf das Tier und schaut zu Samy herüber. „Der ist total dumm, ne?“ In dieser Sekunde stürmt der Waschbär auf Hassan zu und rammt ihm eine seiner Krallen in den zeigenden Finger. Hassan schreit laut auf.
„Boah, scheiße! Was hast du gemacht, du verfickte Missgeburt?“
„Oh, fuck!“, ruft Johan und holt ein paar Taschentücher hervor, mit denen er die Wunde seines Kumpels sogleich hastig verbindet.
„Ich bring dich um, ich schwör’s!“, faucht Hassan, während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Finger hält. Wie in einem Wahn sucht er nach einer Möglichkeit in den Käfig einzudringen. „Wo… wo… wo…?“
Schließlich findet er eine Tür mit Vorhängeschloss. „Gib mir die Zange!“, befiehlt er Nils.
„Was hast du vor, ey?“, fragt dieser und reicht ihm eine Zange aus seiner Jacke. Hassan schlägt mit dem Griff der Zange auf das Vorhängeschloss ein und schimpft vor sich hin:
„Boah… ich ficke dich… scheiß Viech… ich schwör's… du wirst verrecken!“
Endlich zerspringt das Schloss. Hassan reißt die Tür auf, zieht sein Oberteil aus und stürmt auf den Waschbären zu. Er wirft das Oberteil über das Tier und hält es fest.
„Los, helft mir!“
Nils und Johan folgen ihm in den Käfig.
„Haltet den Scheißer fest.“
Die beiden gehorchen.
Hassan zieht ein Messer.
„Du bist tot, du dummes kleines Nichts!“
Er sticht mehrmals auf das Vieh ein. Es jault.
Johan bekommt Blutspritzer ins Gesicht. Er gerät in Panik.
„Ey, scheiße! Ich hau’ hier ab!“
„Lass jetzt ja nicht los, Spinner!“, knurrt Nils ihn an.
„Aber…“
„Komm her!“, befiehlt Nils Samy. „Übernimm für ihn.“
„Was?!“, Samy zögert.
„Los jetzt!“
Samy geht zu ihnen in den Käfig und löst Johan ab. Dieser rennt sofort raus und sucht das Weite.
„Jetzt du!“
Samy wird von Hassan abgelöst und bekommt das Messer in die Hand gedrückt. Er zögert.
„Na los! Zeig uns, dass du ein Mann bist.“
„Ja, das wird dich frei machen, Sammyboy!“
Samy holt mit dem Messer aus. Doch er zögert wieder.
„Ey, ich wusste es, du Schwuchtel! Bist halt doch nur ein kleiner dummer PARADIESVOGEL“
Hassan und Nils lachen gehässig. Samy kommt sofort das Gelächter seiner Mutter in den Sinn.
Erneut fühlt er diesen Stich im Herzen.
Die Wut überkommt ihn.
Er sticht zu.
Und noch mal.
Und noch mal.
Mit voller Kraft.
Das Tier ist mausetot.
Samy durchströmt ein Gefühl von Erhabenheit.

Maya schreckt aus einem Alptraum hoch. Sie ist schweißgebadet und zittert am ganzen Körper. Mari greift besorgt nach dem Telefon.
„Ich rufe einen Arzt!“

Am nächsten Tag. Samy ist in seinem Zimmer und zieht sich an.
„Wo gehst du hin?“, fragt seine Mutter.
„Zu Freunden.“
„Doch nicht zu diesem Nils, oder? Ich hatte dir den Umgang mit ihm verboten.“
„Nein, zu Mari.“
„Ach so, die. Na ja. Geh aber vorher noch bei Opa vorbei. Ich habe heute Morgen eine Ladung Wäsche in die Maschine gepackt. Die muss noch aufgehängt werden.“
„Okay, mache ich.“
„Danke. Und entschuldige dich endlich bei ihm.“
Es klingelt an der Tür. „Ich gehe schon.“
Sie geht zur Tür. Samy stylt sich währenddessen die Haare mit Gel.
„Du hast Besuch.“, ruft die Mutter vom Flur aus. Mari kommt zu ihm ins Zimmer.
„Hey.”
„Hey.”
„Wie geht’s dir? Du warst solange nicht mehr bei uns.“
„Alles in Ordnung.“
„Bei uns nicht. Maya ist krank.“
„Wieso das? Was hat sie?“
„Der Arzt sagte, es sei eine einfache Grippe. Aber ich glaube da steckt mehr hinter.“, Mari wirkt besorgt.
„Der Arzt wird schon Recht haben.“
„Vielleicht. Trotzdem wär’s gut, wenn du sie besuchen kommen würdest. Sie vermisst dich.“
„Heute kann ich nicht. Sag ihr, ich komme morgen.“
„Okay. Aber komm’ auch wirklich, ja?“
„Ja. Aber jetzt muss ich los.“, erwidert er leicht genervt.
Er schiebt sie zur Tür und sie verlassen zusammen die Wohnung.
An der U-Bahnstation gibt Samy Mari einen Abschiedskuss auf die Wange und verschwindet. Mari schaut ihm besorgt nach.

Samy ist bei seinem Opa. Als er gerade mit einem vollen Wäschekorb aus der Küche kommt, versperrt ihm der Opa den Weg.
„Ich glaube, du hast mir etwas zu sagen.“
„Ja… es tut mir leid.“, erwidert Samy monton.
„Das klingt aber nicht sehr ehrlich.“
„Ist es aber.“, Samy versucht sich vorbeizudrängen. Doch der Opa packt ihn am Handgelenk.
„Wir sind noch nicht fertig.“
Samy fixiert die Hand des Opas an seinem Handgelenk.
Zehn Jahre zuvor. Der Opa hält den kleinen Samy am Handgelenk fest.
„Ich habe gesagt, du sollst zur Schule gehen.“
„Ich habe aber keine Lust.“, erwidert der Junge jammernd.
„Das tut überhaupt nichts zur Sache. Deine Oma hat so etwas vielleicht durchgehen lassen, aber bei mir läuft das nicht.“
“Ich wünschte du wärst gestorben und nicht Oma.“
„Was war das?“, der Opa reißt die Augen auf und verpasst Samy eine Backpfeiffe.
Gegenwart. Samy reißt sich vom Opa los und schmeißt den Wäschekorb auf den Boden.
„Fass mich nicht an!“, faucht er.
„Na hör mal, rede gefälligst nicht so mit mir!“, der Opa packt ihn erneut am Arm.
„Ich sagte, nicht anfassen!“, wiederholt Samy und reißt sich wieder los.
Er schubst den Opa vor sich her.
„Nie wieder! Nie wieder lasse ich mich von dir anfassen, anmeckern oder belehren!“
Er drückt den Opa an die Wand und würgt ihn.
„Und schlagen wirst du mich erst Recht nie wieder! Sonst bringe ich dich um! Hast du das kapiert?“
Der Opa nickt verängstigt.
Samy lässt von ihm ab.
„Und jetzt lass mich deine scheiß Wäsche aufhängen.“

Die Villa von Nils Eltern ist gefüllt mit Gästen. Auf einem in der Eingangshalle gespanntes Banner steht „Alles Gute zum Geburtstag, Nils!“. Darunter befindet sich eine Bar mit Barkeeper. Vor der Bar ist eine abgesteckte Tanzfläche, auf der schon einige der Gäste zur Musik abgehen. Nils Mutter ist voll mit der Verpflegung der Partygäste beschäftigt und deshalb gestresst.
„Von dem Bier ist nur noch eine Kiste da.“, ruft sie einer der Kellnerinnen zu. „Haben Sie den Lieferservice schon angerufen?“
Die Kellnerin schüttelt den Kopf.
„Dann kümmere ich mich jetzt darum.“, schimpft die Mutter. „Alles muss man hier selbst machen, Himmel, Arsch und Zwirn! Kümmern Sie sich jetzt wenigstens um die Geburtstagstorte.“
Zornig greift sie nach dem Telefon.
Währenddessen steht Nils mit seinen Kumpels Hassan, Johan und Jens, so wie seiner Freundin Julia und dessen Freundin Sybille zusammen. Johan überreicht ihm einen mit einer Schleife versehenden Basketball. Sie stoßen auf ihn an.
„Auf dein Wohl, Nils!“
„Alles Gute, mein Schatz!“, haucht Julia ihn ins Ohr und gibt ihm einen Zungenkuss.
Samy kommt zur Tür rein und steuert auf die Gruppe zu. Auf dem Weg dorthin glotzen ihn viele der Gäste blöd an. Sie tuscheln und verziehen die Gesichter.
„Hey.“, ruft Nils ihm zu. „Cool, dass du gekommen bist.“
„Was macht der denn hier?“, flüstert Sybille Julia zu. Diese antwortet nicht. Eifersüchtig beobachtet sie wie Nils und Samy sich begrüßen.
„Alles Gute.“, sagt Samy schüchtern und reicht Nils die Hand.
„Jo, schon gut. Was zu trinken?“
Samy nickt.
„Dann komm mit.“, er legt seinen Arm um Samys Schultern und geht mit ihm Richtung Bar.
„Sieht fast so aus, als hätte Julia Konkurrenz bekommen.“, sagt Jens zu Sybille und sie lachen.
„Schnauze!“, faucht Julia sie daraufhin an.
Nils hat das ganze hinter seinem Rücken mitbekommen. Sofort nimmt er den Arm wieder von Samys Schultern und deutet auf die Bar.
„Bestell dir was. Ich muss aufs Klo.“, er lässt Samy einfach stehen und eilt zum Badezimmer. Seine Mutter kommt zeitgleich aus dem Arbeitszimmer und fängt ihn ab.
„Nils, dein Vater ist am Telefon.“
„Ich muss jetzt pissen.“, erwidert er bockig.
„Aber er will dir doch gerade nur gratulieren.“
„Kann er machen, wenn er zurück ist.“, er geht ins Badezimmer und schließt die Tür.
„Nils!“, schreit die Mutter ihm nach. „Was soll ich ihm denn jetzt sagen…? Scheiße, verdammte!“
Sie stampft zurück ins Arbeitszimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Samy geht währenddessen mit seinem Getränk zurück zu der Gruppe.
„Wo ist Nils?“, fragt Johan ihn distanziert.
„Auf Toilette.“, erwidert Samy und versucht etwas Schmalltalk. „Ist der Basketball von dir?“
„Hm? Ja.“, erwidert Johan kurz angebunden.
„Was der ihm wohl schenkt?“, fragt Sybille die anderen. Nils kommt währenddesen zurück.
„Er trägt es bestimmt gerade drunter.“, antwortet Jens und alle in der Gruppe verfallen in Gelächter. Hassan und Jens tauschen High-Five aus. Als sie Nils bemerkt, verstummen alle.
Nils zieht Julia daraufhin hastig auf die Tanzfläche. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen. Während er mit seiner Freundin tanzt, haut er ihr mehrmals demonstrativ auf den Hintern, gibt ihr Zungenküsse und begrabscht ihre Brüste. Es darf niemals ein Zweifel an seiner Heterosexualität aufkommen. Daher vergewissert er sich permanent, dass ihm seine Freunde auch bei seinem Machoding zusehen. Zwischendurch fällt sein Blick auch ungewollt auf Samy.
Dieser trinkt währenddessen einsam sein Glas leer und verschwindet schließlich auf die Toilette. Nils schleudert Julia beim Tanzen immer heftiger herum. Plötzlich rutscht ihm ihre Hand ab und sie stößt mit voller Wucht gegen eine Skulptur. Die Skulptur fällt zu Boden und zerbricht.
Kurz darauf stürmt die Mutter aus dem Arbeitszimmer und schreit wütend durch die ganze Halle:
„Spinnt ihr jetzt total?!“
Sämtliche Gäste schauen zu ihr herüber. Nils hastet zu ihr hin und nimmt sie zur Seite. „Schrei doch nicht so.“
„Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragt die Mutter ebenso verzweifelt wie wütend.
„Eine neue kaufen halt.“, erwidert Nils salopp.
„Neu kaufen? Geht’s dir noch gut? Dein Vater hat die aus Russland. Davon gibt es insgesamt nur fünf Stück. Die kann man nicht einfach so neu kaufen.“
„Ach, Papa braucht doch nur seine Kollegen von der Russenmafia darum bitten. Die beschaffen ihm sicherlich noch eine davon.“
„Wie war das?“, die Mutter rastet aus. Sie schlägt ihn mehrmals auf den Hinterkopf.
“Dein Vater ist ein ehrenwerter Politiker! Was gibt dir das Recht, seinen guten Ruf so zu beschmutzen? Hm? Sag schon! Das ist doch wirklich das letzte!“
Samy kommt währenddessen aus dem Badezimmer. Als die Mutter ihn bemerkt, verschwindet sie ins Arbeitszimmer.
„Undankbarer Bengel!“, hört man sie noch fauchen, bevor sie die Tür zuknallt.
„Komm mit.“, befiehlt Nils und zieht Samy mit sich.
„Wohin?“, fragt Samy überrascht. Unbemerkt von den Gästen, wird er von Nils auf dessen Zimmer geschleift. Dieser schließt die Tür ab, setzt sich aufs Bett und schlägt die Hände über den Kopf. Samy steht verunsichert vor ihm und legt behutsam eine Hand auf Nils Schulter, um ihn zu beruhigen.
Plötzlich umfasst Nils Samys Unterleib, liebkost ihn wollüstig und öffnet ihm den Hosenschlitz. Samy versucht sich loszureißen.
„Oh, Samy! Fick mit mir.“, haucht Nils flehend. „Bitte erlöse mich! Ich brauche das jetzt. Es bleibt auch unser Geheimnis. Versprochen.“
Samy gelingt es sich loszureißen. „Es tut mir leid.“ Er schließt seinen Hosenschlitz und verlässt das Zimmer.
„Bitte erzähl’ keinem was davon.“, ruft Nils ihm verzweifelt nach. Doch dann wird ihm schlagartig bewusst, was gerade passiert ist. Er gerät in Panik.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
Er stürmt aus dem Zimmer und läuft hastig zu der Gruppe. Er deutet auf Samy, der gerade auf dem Weg zum Ausgang ist.
„Leute, die Schwuchtel wollte mir gerade an den Schwanz fassen!“
Als hätten sie nur auf so eine Gelegenheit gewartet, stürmen Hassan, Johan und Jens hinter Samy her.
Sie packen ihn, schlagen ihn zu Boden und treten wie wild auf ihn ein.
„Schwuchtel!“
„Tunte!“
„Fotze!“
Auch einige umstehende Gäste nutzen die Gelegenheit und treten zu.
„Los, gebt’s ihm!“, grölt Sybille.
„Ja, fester!“, triumphiert Julia.

Als sie genug haben, werfen sie Samy aus der Tür. Er ist blutüberströmt. Nur mühsam kann er sich wieder aufrichten und schleppt sich zur nächsten U-Bahn-Station. Dort sucht er die Toilettenräume auf und betrachtet sich im Spiegel. Er feuchtet etwas Toilettenpapier unter dem Wasserhahn an und wischt sich das Blut aus dem Gesicht. Wütend schlägt er gegen den Spiegel.

Kurz darauf betritt er die Wohnung seines Opas und geht direkt in die Küche. Er nimmt das Schrotgewehr aus der Vitrine und lädt es. Schließlich geht er mit Gewehr und Patronenkiste ins Schlafzimmer und macht das Licht an. Dort liegt der Opa im Bett. Als dieser seinen Enkel mit dem Gewehr erblickt stellt er sich schlafend. Samy holt einen alten schwarzen Trenchcoat aus dem Kleiderschrank heraus und zieht ihn über. Er stopft die Taschen mit Patronen voll und verschwindet mit dem Gewehr wieder aus der Wohnung.

Maya wälzt sich immer noch krank im Bett hin und her. Sie atmet schwer und Tränen laufen ihr übers Gesicht.
„Nein, Samy! Nicht… hör auf!“, redet sie im Delirium.
„Ich… ich muss jetzt sofort was unternehmen!“, stammelt Mari und stürmt aus der Kneipe raus.
Samy positioniert sich vor der nur angelehnten Eingangstür der Villa. Er knöpft den Mantel auf und macht das Gewehr scharf. Schließlich tritt er die Tür auf und geht mit aufgerichteter Waffe in die Villa hinein.
Die Partygäste erschrecken bei seinem Anblick. Sie schreien, erstarren oder laufen weg. Samy steuert direkt auf Nils zu und richtet den Lauf der Waffe auf ihn.
„Ey, Alter, was…?“, stammelt Nils und nimmt instiktiv die Hände hoch.
Samy legt den Finger auf den Abzug. Teile seines Lebens laufen noch einmal vor seinem geistigen Auge ab.
Die Schläge.
Das Gelächter.
Die Demütigungen.
Der Opa.
Die Mutter.
Die Mitschüler und Lehrer.
Er spannt den Finger an.
Er ist bereit abzudrücken.
„Samy, hör auf damit!“, hört er plötzlich jemanden hinter sich sagen. Die Stimme ist im vertraut. Er nimmt den Finger vom Abzug und dreht sich herum. Mari steht hinter ihm.
„Mari? Was machst du denn hier?“,
„Das frage ich dich.“
„Geh wieder. Ich will das hier durchziehen.“
„Was denn? Erst sie umbringen und dann dich?“
„Ich will Rache! Verstehst du das nicht? Egal wie sehr ich mich auch anstrenge, ich werde immer nur gedemütigt. Ich ertrage das nicht mehr. Und deshalb werde ich das hier und jetzt beenden. Und zwar für immer!“
„Ich verstehe dich ja. Aber wenn du das machst, löschst du auch uns aus.“
„Hä?“, Samy ist verwirrt.
„Versteh doch.“, erwidert Mari und fängt an zu weinen. „Maya ist wegen dir so krank. Sie wird sterben, wenn du das hier zu Ende führst. Und ich und die anderen genau so.“
„Wovon redest du da?“
„Mir ist das auch erst eben klar geworden. Aber wir sind ein Teil von dir, Samy. Du hast uns erschaffen!“, sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Und zwar als du dich dafür entschieden hast, nur noch deinen eigenen Vorstellungen zu folgen und nicht mehr den Erwartungen der anderen gerecht zu werden. Deswegen kannte ich auch deinen Namen und wusste immer wo du gerade bist. Verstehst du? Aber wenn du das hier jetzt durchziehst, machst du alles wieder zu Nichte.“
Samy senkt den Lauf des Schrotgewehrs langsam.
„Gib mir die Waffe.“, bittet Mari. Nach kurzem Zögern reicht er ihr sie. Sie umarmt ihn. „Komm nach Hause.“
Er wischt ihr die neuen Tränen aus dem Gesicht und verlässt mit ihr die Villa.

Kurz darauf kehren Samy und Mari in die Kneipe zurück und eilen zu den hinteren Räumen um nach Maya zu sehen. Das kleine Mädchen ist inzwischen wieder bei Bewusstsein. Sie streckt sofort die Arme nach Samy aus und lässt sich von ihm in die Arme nehmen. Erleichtert umschließt sie sein Gesicht mit ihren Händen.
„Brüderchen.“

Zwei Jahre später werden in einem Fernsehbericht verschiedene Szenen mit der Band Mari-tachi bei Konzerten, Interviews, Fotoshootings und aus Musikvideos werden gezeigt. Ein Sprecher kommentiert:

„Heute bei Tracks: Sie sind die Shootingstars des vergangenen Jahres. Trotz oder vermutlich gerade wegen ihrer schonungslos intimen Texte, haben es die vier Mitglieder der Band Mari-tachi innerhalb kürzester Zeit an die Spitzen der Charts geschafft. Obwohl sie eine konsequente Zurückhaltung gegenüber den Medien üben, ist es uns gelungen, ein Interview mit ihnen zu bekommen. Darin erzählen sie unter anderem, wie sie zu ihren Texten kommen, welche heftigen Reaktionen sie von Eltern mancher Fans ertragen müssen und wie sie von Politikern und Lobbyisten angefeindet werden, denen ihre zum Teil systemkritischen Texte ein Dorn im Auge sind. Gleich mehr dazu. Bleibt also dran!“

ENDE.

 

Hallo Kippei!

Da hast du uns ja nen Epos präsentiert. Zunächst mal das Positive: Es ist im Allgemeinen echt sauber geschrieben. Und es macht den Eindruck, dass dir das Schreiben Spaß gemacht hat.

Soweit, so gut. Allerdings ist viel zu viel Zeug drin. Der Text wirkt so überladen, es passiert soviel, dass man dem Strang nicht folgen kann. Man weiß nie, ob etwas nu wichtig ist, oder ob es nur Blabla ist, Füllzeug, das nett klingt, aber nicht notwendig ist.

So hab ich echt ein paar Anläufe gebraucht, bis ichs zum Ende geschafft habe. Ganz einfach deshalb, weils langweilig geworden war. Das plätschert dahin, sie machen Musik, kaufen ein, machen dies und jenes, und ich frag mich, was willst du mir damit sagen?

In dem Text könnte man so viel straffen. Das Ende kommt dann reichlich pathetisch daher, von wegen, er folgt nun nicht mehr den anderen Leuten, sondern sich selbst. Die ganzen Klischees nerven ebenfalls. Das ist platt und hat keine Tiefe.

Und bei so Sachen wie "Gothic Lolita" musste ich lachen. Das scheint wohl wirklich irgend ein Teenytraum zu sein, der hier verarbeitet wird. :)

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Yours!

Danke für deinen Kommentar und dass du trotz der Anfangsschwierigkeiten bis zum Ende mit dem Lesen durchgehalten hast :)

Wichtig ist eigentlich alles, überflüssiges blabla mag ich auch nicht. Viele Szenen dienen aber (nur) als Anspielungen auf die Familienverhältnisse, die den psyschologischen Hintergrund der Hauptfigur erläutern sollen.
Reines Füllmaterial gibt es auch nicht. Allerdings dient einiges als "Fanservice". Die Geschichte soll u.a. die Visual-Kei-Szene ansprechen und daher die ganzen Szenen mit der Band. Die Geschichte war ursprünglich ein Drehbuch und ich wollte ausprobieren, ob sie auch als Kurzgeschichte taugt (hauptsächlich um sie anderen in irgendeiner Form zugänglich machen zu können).
Vielleicht hätte ich z.B. die Szene in der sie einkaufen gehen kürzen oder weglassen sollen. Im möglichen Film sollte sie halt (evtl. mit Musik unterlegt) schnell abgespult werden. Denn du hast recht, wenn man es so liest, zieht es sich in die Länge und lenkt den Leser vielleicht zu schnell vom Handlungsstrang ab, so dass sich zumindest der Nicht-Fan beginnt zu langweilen.
Das gleiche gilt wohl auch für die ganzen Anspielungen. Ich mag es, wenn in Filmen solche Anspielungen, die der Geschichte/den Figuren Tiefe verleihen, gemacht werden, ohne dass groß darauf rumritten wird. Aber in Kurzgeschichten und Romanen funktioniert das vielleicht nicht (?) Oder mir ist es einfach nicht gelungen.

Welche Klischees nerven dich genau? Es sind viele darin - ich weiß - aber meine Absicht war teilweise, sie neu zu interpretieren.

Ebenfalls schöne Grüße,

Jan

 

Hey Jan,

mir kommt es so vor, als würdest du zuviel in eine Geschichte packen wollen. Die Visual Kei Anspielungen, Gothic Lolitas etc -, wenn es nur Hintergrund bleiben würde, nur die Kulisse bilden würde, dann wäre es vielleich okay. Aber dafür ist es zu wichtig, zu präsent, wird aber nicht zum tragenden Thema. Denn eigentlich gehts darum ja nicht, es könnte genauso jede andere Jugend-Popkultur sein, in der die Handlung stattfindet.

Für Ein Drehbuch, ja. Da kann es Kulisse bleiben. Da kann man vieles schneller abarbeiten, weil man nicht Bilder beschreiben muss - man sieht sie ja. In einer Geschichte ist es im Allgemeinen jedoch vorteilhaft, sich auf das Wesentliche zu beschränken und eine klare Linie zu haben, der man folgen kann. Es kann gut und gerne mehrere solcher Linien geben, mehrere Handlungsstränge, und je länger die Geschichte wird, desto sinnvoller wird das. Aber man sollte als Leser trotzdem das Gefühl haben, der Autor erzählt eine Geschichte, in der es um ein bestimmtes Thema geht. Alle Elemente in einer Geschichte sollten dann dem Thema dienlich sein.

Wenn man liest, weiß man ja manchmal nicht, ob etwas für später nun wichtig ist, oder nicht. Und gerade bei langen Geschichten kann man sich nicht jedes Detail merken. Gibt es keine Orientierung, merkt man sich unweigerlich auch die falschen Dinge und ist verwirrt, wenn am Ende eine Auflösung kommt, in der nicht alles verwertet wird.

Zu den Klischees. Ja, Sammy beschreibst du gleich am Anfang als "androgyn". Da denk ich an "schwul". Klar, dass er auf unschuldig dreinblickende Gothic Lolitas steht. Klar, dass sein Opa nicht lieb zu ihm ist. Klar, dass seine Mutter ihm das Spielen von grausamen Spielen verbietet. Das überrascht mich alles nicht, das haben schon ganz viele ganz genauso geschrieben. Überrascht hat mich, dass er ritzt. Das hätte ich so jemandem nicht zugetraut, dafür hast du ihn davor zu "lieb" dargestellt. Da hätte man noch nachlegen können und beschreiben, warum er das macht. Die einfache Nennung der Demütigungen reicht nicht aus, finde ich, um das nachvollziehbar zu machen.

Und dann kommt die "liebe" Mama rein und was sagt sie? "Warum machst du denn das?", sagt sie. Ich mein, das ist platt in dem Sinn, dass es nicht nachvollziehbar ist. Mag sein, dass es Mütter gibt, die nach einem Selbstmord des Sohnes nur sagen: "So ne Sauerei, und ich darfs aufwischen", aber das ist dann schon etwas makaber.

Über solche Dinge gehst du mit der gleichen Geschwindigkeit drüber, wie über das Shopping oder über den neuen Style von dem Typen.

Vielleicht würde es auch nicht schaden, die drehbuchartigen Einleitungen an den Anfängen der Absätze etwas mehr an den Stil der restlichen Erzählung anzupassen.

Schöne Grüße und ein frohes neues Jahr. :)

yours

 

Dir ebenfalls ein frohes neues Jahr, yours!

Du hast mit all dem Recht. Ich finde zwar schon, dass all die Elemente der Geschichte dienen, aber für eine geschriebene Geschichte sind es vermutlich zu viele. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum ich vom Kurzgeschichtenschreiben zum Drehbuchschreiben gewechselt bin. Ich lege sehr viel wert auf Hintergründe, Atmosphäre und Nuancen. Selbst bei Filmen, bei denen auf soetwas weitgehend verzichtet wird, langweilige ich mich sehr schnell. Beim dem gegenteiligem Extrem allerdings auch. Eine gute Mischung findet man leider nur selten. Immer ist es entweder nur Kommerz oder nur "Kultur".

Einige der Dinge, die du als Klischees aufgezählt hast, haben mich allerdings etwas überrascht. Ich kenne bisher keine (Film)Geschichte, die das alles so beschrieben hat. Kannst du mir konkret eine nennen? Würde mich wirklich interessieren.
Dass ein androgyner Typ für schwul gehalten und von Familienmitgliedern und Klassenkameraden unterdrückt wird, ist tatsächlich ein Klischee (allerdings auch sehr realistisch in einem Umfeld, in dem Männlichkeit noch einen hohen Stellenwert hat). Aber warum ist es klar, dass ein androgyner Typ auf unschuldige Gothic Lolitas steht? Den Klischees nach, würde ich bei so jemanden eher vermuten, dass er auf Dominas steht. :D

Gerade weil er zu lieb ist, ritzt er sich. Menschen die weniger "lieb" sind, lassen ihre Aggressionen einfach an anderen Leuten aus. Da er aber zu lieb dafür ist, kann er sie nur an sich selbst auslassen. Wie kommst du darauf, dass Menschen die zu lieb sind, sich nicht ritzen würden?

Was die Mutter betrifft - ich wollte zeigen, dass sich die emotionale Vernachläßigung, die sie als Kind erfuhr, in Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Sohn ausdrückt. Sie hat Muttergefühle, klar. Aber sie ist unfähig nach ihnen zu handeln. Sie kümmert sich nicht groß um ihn bzw. denkt zu erziehen bedeute sich zu kümmern.
Genau das war mir wichtig zu zeigen, da es nämlich einer der zentralen Gründe ist, warum Samy sich zum Amokläufer entwickelt. Üblicherweise wird ja immer behauptet, das Mobbing oder Ballerspiele schuld sind. Nimmt man dann doch mal die Eltern als mögliche Ursache ins Visier, geht man gleich von extremer Mißhandlung aus oder man verklärt ihre Schuld ("andere Kinder werden auch mal vernachläßigt, aber laufen nicht gleich Amok").
Nur wie soll ich all diese wichtigen Punkte (wie auch die Zuwendung der Oma - aus der Mari "entsprang") einflechten und ausführlich darlegen, ohne zu sehr von der Haupthandlung abzulenken? Meine Lösung war diese Dinge einfach zwischendurch einzustreuen.

Schöne Grüße,

Jan

 

Hallo Jan,

nein, ich kann dir leider keinen solchen Film nennen. Vielleicht ist "Klischee" auch der falsche Begriff, "vorhersehbar" und "abgedroschen" würden vielleicht besser passen.

Er ritzt sich, weil er lieb ist. Ja. Aber du schilderst das so emotionslos, dass es nicht nachvollziehbar ist, WARUM er das tut. Daher meine Erwähnung von "lieb". Denn er ist ja so. Er tut ja alles. Weißt du, auch wenn Menschen lieb sind, dann fressen sie Frust eben in sich rein. Der geht ja nicht weg. Die sind eben nach außen hin lieb, aber nach innen hin nicht. Die hassen sich dann selbst. Und diese Gefühlswelt schilderst du nicht.

Man ritzt sich ja, weil man einem Druck nachgeben muss. Und es wäre eben gut, wenn gezeigt werden würde, dass sich dieser Druck aufbaut und wie es dem Jungen damit geht.

Das mit der Mutter mag schon so hinkommen, aber in der Geschichte ists zu platt. Da fehlt Hintergrund. Es reicht eben nicht, einfach nur ein paar Dinge anzuschneiden und dann zu hoffen, der Leser würde sich den Rest schon zusammenreimen.

Nur wie soll ich all diese wichtigen Punkte (wie auch die Zuwendung der Oma - aus der Mari "entsprang") einflechten und ausführlich darlegen, ohne zu sehr von der Haupthandlung abzulenken? Meine Lösung war diese Dinge einfach zwischendurch einzustreuen.

Irgendwo muss eben schluss sein mit Einstreuen. Es ist einfach nicht alles wichtig für die Handlung, und auch nicht für das Verständnis. Nicht jeder Roman oder jede Geschichte beginnt bei Adam und Eva. :)

yours

 

Hallo Kippei!

Kann mich im Großen und Ganzen yours anschließen, er hat schon sehr viel gesagt, vor allem, dass da zu viel steht, was die Geschichte unnötig belastet und sie keines weg vorantreibt.
Wenn du mit psychologischen Hintergrund sowas meinst, wie, dass Nils' Mutter wegen dem erfolgreichen Vater unter Druck steht und die Erziehung so gut wie möglich machen möchte und dadurch alles an ihren Sohn auslässt, weswegen dieser Frauen hasst, deshalb die Freundin verprügelt und schwul wird, dann muss ich dir sagen, dass das Pseudo-Psychologie ist. Homosexualität ist eben nicht das Resultat eines Traumas. Und wie Frauenhasser ticken kann ich dir auch nicht sagen, aber dass die Mutter sie ein bisschen unter Druck setzt, kann ja wohl nicht alle sein. Das ist also kein psychologischer Hintergrund, der Nils' Verhalten erklärt, das ist Eindimensionalität, was den Charakter eben wie ein Klischee erscheinen lässt.

Das könnte man jetzt bei jedem Charakter gemacht, du hast eben zu viel gewollt bei dieser Geschichte. Jeder Charakter hat seine eigene Geschichte, aber das belastet die Hauptgeschichte. Die Idee, dass Sammy sich aus der Realität flüchtet und so seine Visual Kei Band (alter Schweder, ich fühle mich bei jeder neuen Jugendströmungen total alt.) gründet, das ist eine interessante Idee, die man verarbeiten kann - meinetwegen auch mit dem Amoklauf am Ende, aber der Nazi-Opa, die Hippi-Oma, die ihre Tochter vernachlässigt hat, die karrierebewusste, alleinerziehende Mutter, den brutalen, sadistischen Ausländer, für den "Vater" ein Heiligtum ist, den schwulen Politikersohn, der seine Freundin verprügelt, den Lehrer, der wegsieht, dieser Gruppenzwang, das ist mir alles zu viel, du erwartest da eben ein bisschen zu viel von dem Leser und du hast dir da einfach zu viel vorgenommen für eine Kurzgeschichte, das ist der Stoff für einen Roman. Es wäre eben besser gewesen, du hättest dich auf ein Thema konzentriert.

Und natürlich gibt es Autoaggressionen, gerade bei "lieben" Menschen, aber wenn man sich weh tut, dann ist man sauer auf sich selbst, worauf das Wörtchen "auto" schon deutet, aber da nirgends kann ich die Wut, die Sammy gegen sich hat, spüren.
Das ist tatsächlich wie ein Drehbuch geschrieben, auch die Absatzanfänge deuten daraufhin.

Ich hab mir leider keine Notizen gemacht und kann dir nicht genau sagen, was ich ändern würde, aber ich würde eh das meiste von der Geschichte streichen. Angefangen mit der Anfangsszene und dann weiter alles aufräumen, die ganzen Charaktere streichen, und nur die Gothic Lolita und die End-Szene lassen.

Vielleicht hätte ich z.B. die Szene in der sie einkaufen gehen kürzen oder weglassen sollen. Im möglichen Film sollte sie halt (evtl. mit Musik unterlegt) schnell abgespult werden.
Na, das ist doch auch nix Kreatives, das gibt es auch in jedem Film, wenn aus dem hässlichen Entlein der Schwan werden soll - gähn.
Denn du hast recht, wenn man es so liest, zieht es sich in die Länge und lenkt den Leser vielleicht zu schnell vom Handlungsstrang ab, so dass sich zumindest der Nicht-Fan beginnt zu langweilen.
Ich glaube, auch Fans würden sich hier langweilen. Das ist so, als würde man über Fussball schreiben, ob ein Fan es liest oder ein Nicht-Fan, für beide ist es langweilig, bei manchen Dingen ist es einfach so, dass man dabei sein muss oder wenigstens sehen muss.
Ich lege sehr viel wert auf Hintergründe, Atmosphäre und Nuancen.
Kannst du ja machen, aber dann doch nicht bei jedem Charakter. ;) Wenn du den Leser wirklich plausibel erklärst, wie Sammy geworden ist, wie er geworden ist, dann wird er sich auch ausmalen können, wie seine Umgebung ist. Dann brauchst du sie alle auch nicht zub eschreiben.
Selbst bei Filmen, bei denen auf soetwas weitgehend verzichtet wird, langweilige ich mich sehr schnell. Beim dem gegenteiligem Extrem allerdings auch. Eine gute Mischung findet man leider nur selten. Immer ist es entweder nur Kommerz oder nur "Kultur".
Schau dir mal "Elephant" an, falls du den noch nicht gesehen hast. Die haben da eine gute Mischung gefunden.
Aber warum ist es klar, dass ein androgyner Typ auf unschuldige Gothic Lolitas steht? Den Klischees nach, würde ich bei so jemanden eher vermuten, dass er auf Dominas steht.
Na diese ganze Emo-Typen sind doch so, oder vermische ich da etwas?
Ach ja, deine Gothic Lolita - die ist nur "lieb" und "süß" - was anderes kann und ist sie nicht.
Was die Mutter betrifft - ich wollte zeigen, dass sich die emotionale Vernachläßigung, die sie als Kind erfuhr, in Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Sohn ausdrückt. Sie hat Muttergefühle, klar. Aber sie ist unfähig nach ihnen zu handeln. Sie kümmert sich nicht groß um ihn bzw. denkt zu erziehen bedeute sich zu kümmern.
Und inwiefern äußert sich der Nazi-Opa in ihrer Erziehung?
Nur wie soll ich all diese wichtigen Punkte (wie auch die Zuwendung der Oma - aus der Mari "entsprang") einflechten und ausführlich darlegen, ohne zu sehr von der Haupthandlung abzulenken?
Das musst du nicht, da musst du dem Leser vertrauen, der wird sich schon denken, dass es dem Jungen nicht gut geht, wenn er sich da Phantasiefreunde erschafft.

Ich denke, das Talent zum Schreiben hast du. Das muss jetzt nur noch gelenkt werden. Titel ist zwar schlicht, aber ganz toll (um hier uach mal was Positives loszuwerden)

Willkommen auf kg.de und viel Spaß hier!

JoBlack

achja, das hier:

Dort liegt der Opa im Bett. Als dieser seinen Enkel mit dem Gewehr erblickt stellt er sich schlafend.
:rotfl:
Da gibts noch mehr unfreiwillig komisches Zeug.

 
Zuletzt bearbeitet:

Auch dir vielen Dank für deinen Kommentar und die Mühe den ganzen Text zu lesen, JoBlack!

Das mit der Homosexualität ist ein Missverständnis. Die Szene soll nicht Aussagen, dass er wegen der Mutter schwul wurde. Die Homosexualität ist ein natürlicher Teil von ihm, den er aber unterdrückt,weil er in einem Umfeld lebt und aufwuchs, das ihm derartige Authentzität verbietet.
Dass er aber Frauen hasst, weil seine Mutter ihn so scheiße behandelt, finde ich schon plausibel. In den Szenen wird natürlich nur ein Bruchteil davon gezeigt - ein Junge wie er hat im Laufe seiner Kindheit viele Kränkungen durch die Mutter ertragen müssen - aber ich denke sie zeigen schon genug, dass sich der Leser einen Reim daraus machen kann.
Die Mutter behandelt ihn auch nicht so, weil der Vater sie unter Druck setzt. Der Grund wäre ebenfalls in ihrer Kindheit zu suchen (ebenso wie der Grund dafür, dass sie sich einen Partner gewählt hat, der sie so unter Druck setzt). Das habe ich weggelassen, weil es dann wirklich zu weit ausgeholt gewesen wäre.

Dennoch finde ich diese Andeutungen weiterhin unentbehrlich für die Geschichte. Deren wichtigster Zweck ist für mich nämlich zu zeigen, dass die Gründe für die unterschiedlichen Probleme und Neurosen der Charaktere Kindheitstraumen sind (in ihren verschiedenen Formen). Ich reite darauf sozusagen bewußt herum. Ich will u.a. andeuten, dass sich der soziale Hintergrund der gutbürgerlichen deutschen Jungs gar nicht besonders von dem des arabischen Ausländers unterscheidet (so groß die kulturellen Unterschiede auch sein mögen). Dazu brauche ich die Geschichten der anderen Figuren, denn Samys Geschichte ist nur ein Einzelschicksal und würde vom Leser auch so aufgefasst, würde sie so für sich alleine stehen.

Klischees eignen sich gut dazu das ganze abzukürzen, eben weil sie jeder kennt. Ursprünglich wollte ich Hassan nicht so dumm daherreden lassen - er ist ja immerhin auf dem Gymnasium - aber dann war es mir doch wichtiger eine Erklärung/Ursache für die Entwicklung von Menschen, die diesem Klischee entsprechen zu geben, als es zu widerlegen. Ich hatte viel mit Ausländern zu tun und weiß dass sie grundverschieden sind, aber ich weiß daher auch, dass es nicht wenige gibt die dem Klischee mehr oder weniger entsprechen.

Was das Ritzen angeht, habe ich hier diesmal einfach angenommen, der Leser könne nachempfinden oder "sich ausmalen" (wie du es ausgedrückt hast), wie sich Samy wegen der erfahrenen Demütigungen fühlt.

Zum Thema Langeweile: ich habe es einfach so geschrieben, wie ich es persönlich als Zuschauer für interessant gehalten hätte. Wie gesagt, die "Endlein-Schwan-Szene" kann ich auch rausnehmen. Ich hatte bei der geschriebenen Version hier bereits ähnliche Szenen rausgenommen und vielleicht hätte das der Regisseur bei einer Umsetzung des Drehbuchs auch getan. Aber da es in der Geschichte auch um Musik geht, dachte ich, es sei ganz gut zwischendurch Szenen zu haben, die man mit Musik unterlegen kann. Bei Filmen braucht der Zuschauer zwischendurch ja auch Pausen in denen er die Informationen verarbeiten kann. Der Leser braucht diese Pausen natürlich nicht (bzw. bestimmt sie selber).

Danke für den Filmtip, werde ich mir auf jeden Fall ansehen!
Vor kurzem hatte ja ein Film über einen Amokläufer irgend so einen Kulturfilmpreis gewonnen. Der Film hieß "Ihr könnt euch niemals sicher sein!". Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit ihn zu schauen. Aber als ich von der Jury hörte, dass der Film den Preis gewonnen habe, weil er so gut Verständnis für alle Seiten (Amokläufer, Eltern und Lehrer) wecken würde, wurde ich schon skeptisch. Was ich an solchen Kulturfilmen nicht mag, ist diese typisch rein soziologische Betrachtungsweise und der damit verbundenen Ansicht "niemand ist verantwortlich, alle sind nur Opfer der aktuellen Umstände". Eltern und Lehrer sind erwachsen und könnten handeln (so schwer es auch oft sein mag), aber die meisten sind einfach zu ignorant und festgefahren und wollen sich schlicht nicht ändern.
Ich will Geschichten sehen/lesen in denen Partei für das Kind ergriffen wird. Und ich will selbst solche Geschichten schreiben und damit Betroffene den Rücken stärken.

Du sagst, der Zuschauer würde es sich schon denken, warum es Samy nicht gut geht. Das stimmt auch, aber es ist doch immer noch ein Tabu diese Gründe - die Mißachtungen und Mißhandlungen durch die Eltern - offen auszusprechen und zu diskutieren. Denn das würde es ganz real machen und bei jedem einen Schwall von Gefühlen an die Oberfläche spülen, vor dem die meisten große Angst haben. Außerdem will kaum jemand den Eltern - besonders nicht den eigenen - vor den Kopf stoßen. Genau das wäre aber nötig - es reicht nicht es sich nur zu denken und die Wahrheit unausgesprochen im Raum schweben zu lassen.

@unfreiwillig komisches Zeug:
:Pfeif: Zugegeben, die literarische Umsetzung ist mir nicht sonderlich gelungen. Prosa liegt mir einfach nicht, das stelle ich jedes mal aufs neue fest, wenn ich Versuche wie diesen hier starte. Ich empfinde die deutsche Sprache als sehr umständlich und vorallem unlogisch. Und Schönheit an Sprache konnte ich noch nie erkennen, sie ist für mich ausschließlich ein wichtiges Mittel zur Kommunikation. Aber allein mit ihr kann man Gefühle meiner Meinung nach oft nicht authentisch genug wiedergeben/erklären. Wenn ich solche Beschreibungen in Prosatexten lese, habe ich meist sehr seltsame, entfremdende Bilder im Kopf.

Meine Welt ist der Film (momentan sind es fast nur noch Serien). Dort erklärt sich vieles in Bruchteilen von Sekunden durch Mimik, Gesten, Bilder etc. Beschreibungen dazu in Textform zu lesen, dauert mir immer viel zu lange und läßt mich schnell das Interesse verlieren. In diesem Zusammenhang verstehe ich auch warum ein Buchliebhaber die Geschichten lieber aufs wesentliche reduziert haben will. Bei Filmen - wo das auch oft verlangt wird - verstehe ich so einen Wunsch allerdings nicht.
Jedenfalls werde ich mit diesen Vorraussetzungen wohl kaum jemals einen zufriedenstellenden Roman zustande bekommen, in dem ich alle Hintergründe ausführlich erläutern könnte. Für mich gehören die übrigens alle zu ein und dem selben Thema!

Puh, jetzt habe ich hier doch so ne Art Roman verfasst. Ich hoffe du fasst meine Gegenargumentation nicht als die Reaktion eines uneinsichtigen Möchtegernkünstlers auf. Mir hilft so eine Diskussion immer sehr, mich meinen Intentionen beim Schreiben klarer zu werden und zu sehen, wie es auf andere wirkt.

Noch kurz zu den anderen Punkten:
1. Dem Nazi-Opa hat sie den Leistungs- und Erfolgsdruck zu verdanken.
2. Ich weiß nicht, Emo-Typen sind doch eher selbst "lieb" und "süß".
3. Mari (bzw. die ganze Band) ist ja auch eigentlich keine Person, sondern der Teil von Samy, der nach innerer Autonomie strebt. "Eingepflanzt" durch die Zuwendung der Oma.

 

Hey Kippei!

Die Mutter behandelt ihn auch nicht so, weil der Vater sie unter Druck setzt. Der Grund wäre ebenfalls in ihrer Kindheit zu suchen (ebenso wie der Grund dafür, dass sie sich einen Partner gewählt hat, der sie so unter Druck setzt). Das habe ich weggelassen, weil es dann wirklich zu weit ausgeholt gewesen wäre.

Das finde ich aber wirklich jetzt weit her geholt. Wenn sie versucht ihren Sohn da umzukrempeln, dann redet sie immer von dem Vater und was für ein toller Politiker er ist und dass sie das nicht so toll hinbekommt.

Deren wichtigster Zweck ist für mich nämlich zu zeigen, dass die Gründe für die unterschiedlichen Probleme und Neurosen der Charaktere Kindheitstraumen sind (in ihren verschiedenen Formen). Ich reite darauf sozusagen bewußt herum. Ich will u.a. andeuten, dass sich der soziale Hintergrund der gutbürgerlichen deutschen Jungs gar nicht besonders von dem des arabischen Ausländers unterscheidet (so groß die kulturellen Unterschiede auch sein mögen). Dazu brauche ich die Geschichten der anderen Figuren, denn Samys Geschichte ist nur ein Einzelschicksal und würde vom Leser auch so aufgefasst, würde sie so für sich alleine stehen.

Dann hapert es hier aber gewaltig an der Umsetzung. Du hast den Schwerpunkt auf Samy gelegt und diese ganzen Nebencharakter erscheinen dann überflüssig, das wolltest du aber – so wie ich es verstanden habe – gar nicht, sondern jeden eigentlich wie einen Hauptcharakter behandeln. Dazu müsstest du dann auch viel mit der Perspektive arbeiten. Du müsstest dann für jeden Charakter eine Perspektive hinkriegen – ich weiß, ist sauschwer – aber machbar. Aber gerade du, der mit Filmen besser umgeht, müsstest die Perspektive hinkriegen, im Film arbeitet man ja auch immer mit den Perspektiven.

Wie gesagt, die "Endlein-Schwan-Szene" kann ich auch rausnehmen.

Wie gesagt, du könntest so einiges rausnehmen. ;) Einerseits schreibst du, dass es dir um die Musik geht und andererseits ist dir diese Kindheitstraumata-Sache wichtig. Vielleicht müsstest du dich erst einmal deiner Intention klar werden, was ist dir wichtiger? Der Grundton stimmt also nicht, du gehst da mit zwei Zielen heran, das kann nur schief gehen.
Bei Filmen braucht der Zuschauer zwischendurch ja auch Pausen in denen er die Informationen verarbeiten kann. Der Leser braucht diese Pausen natürlich nicht (bzw. bestimmt sie selber).

Dem Leser verschaffst du eine „Pause“, indem du nicht so viel schreibst, sondern auf das Nötigste reduziert, sodass er nicht unnötige Informationen aufnimmt.
Ich will Geschichten sehen/lesen in denen Partei für das Kind ergriffen wird. Und ich will selbst solche Geschichten schreiben und damit Betroffene den Rücken stärken.

Spiel nicht den Missionar – versuche einfach das zu wiedergeben, was in Echt passieren könnte, du als Autor darfst keinem den Rücken stärken, das ist für mich Quatsch. Schau dir doch mal die Filme an, in denen Regisseure versuchen dem Publikum auf die Tränendrüsen zu drücken – das finde ich immer billig.
das stimmt auch, aber es ist doch immer noch ein Tabu diese Gründe - die Mißachtungen und Mißhandlungen durch die Eltern - offen auszusprechen und zu diskutieren
.
Das ist kein Tabu-Thema – schon lange nicht.
Außerdem will kaum jemand den Eltern - besonders nicht den eigenen - vor den Kopf stoßen. Genau das wäre aber nötig - es reicht nicht es sich nur zu denken und die Wahrheit unausgesprochen im Raum schweben zu lassen.

Ich glaube, jeder weiß, welche große Rolle die Erziehung im Leben spielt. Das ist nix Neues. ;)

Meine Welt ist der Film (momentan sind es fast nur noch Serien). Dort erklärt sich vieles in Bruchteilen von Sekunden durch Mimik, Gesten, Bilder etc. Beschreibungen dazu in Textform zu lesen, dauert mir immer viel zu lange und läßt mich schnell das Interesse verlieren. In diesem Zusammenhang verstehe ich auch warum ein Buchliebhaber die Geschichten lieber aufs wesentliche reduziert haben will. Bei Filmen - wo das auch oft verlangt wird - verstehe ich so einen Wunsch allerdings nicht.
Jedenfalls werde ich mit diesen Vorraussetzungen wohl kaum jemals einen zufriedenstellenden Roman zustande bekommen, in dem ich alle Hintergründe ausführlich erläutern könnte. Für mich gehören die übrigens alle zu ein und dem selben Thema!

Roman ist was anderes als eine Kurzgeschichte – da kannst du dich austoben, wenn es zu deiner Intention passt! (Ich habe neulich Roths menschlicher Makel/Jedermann gelesen, der macht auch zu jedem Charakter eine Beschreibung und das hat mich nicht genervt.)
Im Film können sie „nur“ mit Bildern und Ton arbeiten, Beschreibungen der Innenwelt des Protagonisten fallen dann immer weg – es sei denn da quatscht jemand im Hintergrund. Und das ist doch in Prosatexten das, was der Film nicht kann – die Sprache hat zwar – wie du schon erkannt hast- ihre Grenzen, aber bis zu den Grenzen hat man unendlich viele Möglichkeiten, finde ich.
Ich hoffe du fasst meine Gegenargumentation nicht als die Reaktion eines uneinsichtigen Möchtegernkünstlers auf.
Doch! :D
Nein.
Noch kurz zu den anderen Punkten:
1. Dem Nazi-Opa hat sie den Leistungs- und Erfolgsdruck zu verdanken.
2. Ich weiß nicht, Emo-Typen sind doch eher selbst "lieb" und "süß".
3. Mari (bzw. die ganze Band) ist ja auch eigentlich keine Person, sondern der Teil von Samy, der nach innerer Autonomie strebt. "Eingepflanzt" durch die Zuwendung der Oma.

Also ehrlich, so wie du das konstruiert hast, müsste deine Kg viiiiel länger sein. :)


JoBlack

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo JoBlack!

Das finde ich aber wirklich jetzt weit her geholt. Wenn sie versucht ihren Sohn da umzukrempeln, dann redet sie immer von dem Vater und was für ein toller Politiker er ist und dass sie das nicht so toll hinbekommt.

Das setzt vorraus, dass ihr Verhalten ihm gegenüber bewußt und zielgerichtet wäre. Das ist aber nicht der Fall. Das ist fast nie der Fall, wenn Eltern ihre Kinder im Namen der Erziehung demütigen. Das Ziel zu Erziehen wird nur meist hinterher als Albi genannt ("er/sie muß das lernen"; "Regeln sind wichtig" etc. pp.), um das eigene Fehlverhalten nicht zugeben zu müssen. Und dieses Fehlverhalten entspringt unverarbeiteten, verdrängten Konflikten, die auf diese Weise herausbrechen. Weit hergeholt finde ich das nicht.

Dann hapert es hier aber gewaltig an der Umsetzung. Du hast den Schwerpunkt auf Samy gelegt und diese ganzen Nebencharakter erscheinen dann überflüssig, das wolltest du aber – so wie ich es verstanden habe – gar nicht, sondern jeden eigentlich wie einen Hauptcharakter behandeln.

Ich meine es eher so: neben Samy ist das Thema Eltern/Kind-Beziehung ein Hauptcharakter, verkörpert durch die Konflikte der Nebenfiguren. Oder anders betrachtet, Samys Konflikt wird durch die der Nebenfiguren untermauert, er ist umgeben von Menschen, die ganz ähnliche Konflikte austragen.
Ausserdem tragen sie ja auch zu der Handlung bei. Zum Beispiel dadurch, dass Nils Mutter ausrastet, läßt Nils sich für einen Augenblick gehen. Weil Samy ihn in diesem Augenblick der Schwäche aber abblitzen läßt, führt das zu Samys Verprügelung und das wiederrum zu dem Fast-Amoklauf. Nichts davon ist also überflüssig. Vielleicht aber etwas ausführlicher, als es nötig wäre, ginge es allein nur um die Handlung.

Wie gesagt, du könntest so einiges rausnehmen. ;) Einerseits schreibst du, dass es dir um die Musik geht und andererseits ist dir diese Kindheitstraumata-Sache wichtig. Vielleicht müsstest du dich erst einmal deiner Intention klar werden, was ist dir wichtiger? Der Grundton stimmt also nicht, du gehst da mit zwei Zielen heran, das kann nur schief gehen.

Ich bin mir meiner Intention völlig klar. Es soll eine unterhaltende Geschichte werden, die die Problematik mit den Kindheitstraumen zumindest andeuten. Ich will damit aber keine Hobbypsychologen ansprechen, sondern vorrangig Betroffene und alle die offen dafür sind. Denen will ich aber kein Lehrstück vorsetzen. Deshalb mische ich es mit der Jugendkulturthematik.
Ein Film oder Roman reicht sowieso nicht aus, um den ganzen Sachverhalt verständlich darzulegen. Dazu ist Kunst nicht im Stande, denn man kann sie auf viel zu unterschiedliche Weise interpretieren. Dann müßte ich schon Sachbücher schreiben, aber das haben schon andere viel qualifiziertere Autoren zu dieser Thematik gemacht (z.B. Arno Gruen und Alice Miller). Da mache ich lieber meine Werke und verweise im "Anhang" auf deren Bücher.

Dem Leser verschaffst du eine „Pause“, indem du nicht so viel schreibst, sondern auf das Nötigste reduziert, sodass er nicht unnötige Informationen aufnimmt.

Wie gesagt, es ist fast nichts überflüssiges drin. Es sind eher soetwas wie Wiederholungen, um die Thematik besser erfassen zu können bzw. nicht zu sehr in den Hintergrund zu verdrängen.

Spiel nicht den Missionar – versuche einfach das zu wiedergeben, was in Echt passieren könnte, du als Autor darfst keinem den Rücken stärken, das ist für mich Quatsch. Schau dir doch mal die Filme an, in denen Regisseure versuchen dem Publikum auf die Tränendrüsen zu drücken – das finde ich immer billig.

Das hat nichts mit missionieren zu tun und ist auch kein Tränendrüsendrücken. Es ist das was Kunst für mich bedeutet. Seine Gefühle bestätigt zu bekommen und im Idealfall eine mögliche Erklärung für sie zu erhalten. Diese Bestätigung ist Mangelware in unserer Welt, Kindern werden ihre wahren Gefühle immer noch allzuoft abgesprochen. Und genau das macht krank und unsicher und treibt die Menschen in die Arme scheinheilbringender Missionare, die mit diesen Gefühlen spielen. U.a. davor warnen auch die genannten Autoren.

Das ist kein Tabu-Thema – schon lange nicht.
Es ist ähnlich wie bei der sexuellen Aufklärung. Früher redete man gar nicht öffentlich über Sex. Heute macht man es zwar, aber immer noch kichernd und unsicher. Und besonders in der normalen Bevölkerung gilt zwar grobe Gewalt gegen Kinder als etwas schlimmes, aber die Bedeutung der alltäglichen kleinen und großen seelischen Verletzungen bleiben weitgehend unausgesprochen oder werden runtergespielt (u.a. mit Sprüchen wie oben genannt). Wenn ich es aber schaffen kann, Betroffenen zu vermitteln, das diese Verletzungen keine Kleinigkeit sind und verurteilt gehören, werden sie in ihren Gefühlen bestätigt und fügen später ihren eigenen Kindern nicht diese Verletzungen zu (denn die eigenen Gefühle bleiben in ihrem Bewußtsein, wodurch sie nachfühlen können, was sie ihren Kindern antun würden).

Wäre es kein Tabu, würde man außerdem bei z.B. Jugendkriminalität nach Lösungsansätzen suchen, die diese Ursachen mit einbeziehen, vorallem bei Präventionsmaßnahmen. Stattdessen aber diskutiert man nur das Strafmaß und die Resozialisierung, die mit erzieherischen Maßnahmen versucht wird zu erreichen (also genau mit dem, was die kriminelle Energie in den Jugendlichen überhaupt erst entwickeln ließ). Hat der Jugendliche dann erfolgreich eine Ausbildung absolviert und steht im Arbeitsleben, ist alles wieder gut. Dass er die Energie aber möglicherweise in andere, vor dem Gesetz nicht strafbare Handlungen lenkt (um einer Strafe zukünftig entgehen zu können) und so das Problem nur auf eine andere gesellschaftliche Ebene verschoben wird, wird ignoriert.
Auch der Versuch Egoshooter wegen der Amokläufe zu verbieten zeigt die Unkenntnis bei den Ursachen solcher Taten.

Roman ist was anderes als eine Kurzgeschichte – da kannst du dich austoben, wenn es zu deiner Intention passt! (Ich habe neulich Roths menschlicher Makel/Jedermann gelesen, der macht auch zu jedem Charakter eine Beschreibung und das hat mich nicht genervt.)
Es war wie gesagt ein Versuch das Drehbuch in eine besser lesbare Form zu bringen und sie anderen so zugängig zu machen. Es wurde leider nicht angenommen und ist damit fehlgeschlagen. Diese Szenen aber zu kürzen sehe ich nicht als Lösung. Sinnvoller wäre ein Weg zu finden, sie so zu entwickeln, dass sie besser angenommen werden. Bei einer Romanfassung gäbe es die Möglichkeit die Nebenfiguren zu Hauptfiguren zu erheben, da hast du recht. Auch bei einem Film wäre das möglich, aber dann würde es entweder zu einem Epos oder ginge auf Kosten der Jugendkulturthematik, die den Film aber für die "Zielgruppe" interessant machen soll.
Die Frage ist also, was kann ich tun, damit die Geschichte besser funktioniert, ohne Einschnitte bei den Inhalten machen zu müssen.

EDIT: Nochmals danke für den Filmtipp. Habe eben gerade recherchiert, dass der Film vom Kabel-Sender HBO produziert wurde. Das erhöht die Chancen, dass die Geschichte kontrovers erzählt wurde und mir der Film gefallen könnte. Ich bin totaler Fan von HBO-Serien - es gibt kaum vergleichbares. Regelbrüche sind ihr Geheimnis. :D

 

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