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- 07.01.2002
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Marias Lauf
Verfolgung
1
Bei beginnender Dämmerung stand Maria am Rande des Waldes vor dem Jeep und starrte zu Boden. Síe konnte ihr Blut in den Adern rauschen hören, es in ihrem Kopf pulsieren spüren. Obschon es erheblich schneller floß als gewöhnlich, kam ihr der Rhythmus langsamer den je vor, wobei sie freilich wußte, daß sie in ihrem Leben bisher noch nie so wenig Zeit gehabt hatte, wie in diesen langen Augenblicken. Der Mond würde in etwas mehr als einer Stunde aufgehen - die Nacht würde hell sein heute, das Licht der vollen Scheibe - und sie würde ihn kennen.
"Den Mond kennen" nannten jene, die davon selbst betroffen waren jenes Phänomen, das wissende Gelehrte - die wenigen, die es noch gab waren fast alle auch Geistliche - als Lycanthrophie kannten. Maria hielt beide Bezeichnungen auf verschiedene Weise für zu poetisch, doch die erste war zutreffender. Das Wesen in ihr kannte den Mond sehr wohl, erkannte ihn früh, lange bevor er aufging. Als Maria sich vor zwei Tagen hierher hatte bringen lassen, waren ihre Sinne schon gestärkt gewesen - nicht wesentlich, aber spürbar - und im Augenblick nahm sie die Welt durch den Schock verstärkt deutlicher wahr als sie es mit ihrem menschlichen Verstand je getan hatte. Daher wußte sie auch vom Zelt.
Sie hob ihren Kopf und sah den Jeep an. Als sie ihn gefunden hatte, war ihr für einige wenige Sekunden der Gedanke gekommen, die Besitzer des Jeeps könnten noch vor Mondaufgang zurückkehren und wieder nach Hause fahren, wo immer in der Zivilisation das liegen mochte. Aber der Geruch nach dem Kunststoff, nach Imprägniermittel war da gewesen. Und hätte all dies vielleicht noch auf ihre Kleidung hinweisen können, wäre ihr Eintreffen beim Fahrzeug dennoch nicht möglich gewesen - sie waren nicht nahe genug. Die Witterung war da, die des Mannes, die der Frau und die Dritte, und doch war sie nicht ummittelbar. Es war der Geruch ihrer Spuren, die ihre Köper bei der Wanderung hinterlassen hatten, nicht jener der Menschen selbst. Sie waren nach Osten gegangen, vor einiger Zeit schon. Die Hoffnung, daß sich die Wanderer weit genug entfernt hatten, war bei Maria erst gar nicht aufgekommen, dafür kannte sie die Schnelligkeit, das Geschick und die Ausdauer des Wolfes zu gut.
Ihre Optionen erwägend hatte sie schon daran gedacht, das Auto kurzzuschließen und so weit wie möglich nach Westen zu fahren, in der Zeit, die ihr blieb. Nur hatte sie von einer solchen Manipulation an einem Fahrzeug nicht wirklich Ahnung, wußte nur aus Filmen und Büchern, daß sie prinzipiell möglich sein müsste. Nein, ihr Weg war klar und jede entsetzte Sekunde hier entfernte sie weiter von ihrem Ziel.
Auf der Heckscheibe des Wagens schien sie der Aufkleber zu verhöhnen, der schmerzlich jene Wahrnehmung untermauerte, die sich sinnlich in den Vordergrund gedrängt hatte - der Geruch des Kindes. "Baby on Board". Maria hob den Kopf und sog durch die Nase tief und lang Luft ein. Die Witterung war intensiv, klar und kalt, die Gier des Wesens spürbar. Sie machte die Richtung aus, in die die Wanderer gegangen waren und kannte den genauen Weg auf fünfhundert Meter allein durch die hinterlassen Duftspuren noch bevor sie begann zu laufen.
Und dann rannte sie, rannte so schnell wie noch nie im ihrem Leben, sich konzentrierend auf die Sinne des erwachenden Grauens in ihr und sein Hervorbrechen gleichzeitig mit ihrem Geist verdrängend, während sie sein beginnendes Heulen in ihrem Verstand wahrnahm. Sie rannte gegen den Wolf und gegen den Mond, den er kennen würde, und der Wolf hatte die Herausforderung angenommen - ließ sich tragen und sang auf seine Art vor Vergnügen.
2
Die Nacht war klar ohne kalt zu sein. Schon bald würde der Vollmond das vergehende Tageslicht mehr als würdig ersetzten und so machte sich Thomas keine großen Sorgen wegen der hereinbrechenden Nacht. Zwar hielt er generell schon Ausschau nach einem geeigneten Platz, um das Zelt aufzuschlagen, doch ließ er keine Eile aufkommen, sondern genoss den Anblick seiner Frau im letzten Licht des Tages, die einige Schritte mit dem Kind im Arm vorausging.
Lucia und Thomas verbrachten ihren Jahrestag aus Tradition zum guten Teil wandernd - hatten sie sich doch auf den Tag genau vor fünf Jahren auf einer Wanderung kennen gelernt. Allein im letzten Jahr war die spezielle Würdigung dieses Tages ausgefallen, da Lucia im siebten Monat schwanger gewesen war. Der heutige Tag war nicht nur ihr erster gemeinsamer Ausflug seit einer langen Zeit, es war auch die erstmalige Gelegenheit, zu der sie ihre Tochter Julia auf einen solchen mitnahmen. Sie wechselten sich dabei ab, die Bauchtragetasche mit dem Kind zusätzlich zu den nicht eben leichten Wanderrucksäcken zu tragen, wobei das zusätzliche Gewicht ihres Kindes nicht als Last empfunden wurde - tatsächlich schien es, keiner von beiden konnte genug davon bekommen, Julia bei sich zu tragen.
3
Das Leben im Wald war reich, auch und gerade zu dieser Nachtzeit. Maria konnte die Mäuse im Unterholz wittern, die Vögel auf den Bäumen, die ungezählten Insekten. Dabei roch sie das Blut nicht nur, sie konnte es durch die Adern der Lebewesen schon fließen sehen, wie ein schwaches aber in seiner Art sehr bestimmtes Leuchten, das von jedem einzelnen Tier ausging. Allein ihr eigenes Blut blieb dunkel, das bei ihrem Lauf durch den dichter werdenden Bewuchs jetzt stetig aus den Wunden rann, die ihr Holz und Dornen vor allem an ihren ungeschützten Armen rissen. Den Fußweg und seine Serpentinen hatte sie schnell verlassen müssen, denn wenn es überhaupt Hoffnung gab, so lag sie im direkten Weg zur Menschenfamilie, die Maria genauso wie der Wolf suchte.
Ein Bär war vor nicht einmal einem halben Tag in dieser Umgebung umhergezogen. Unter anderen Umständen wäre er ohne Zweifel die Beute der heutigen Nacht für den Dämon gewesen, eine immer noch leichte, aber vergleichsweise herausfordernde Beute.
Ein Braunbär und keine Gewissensbisse. Am Morgen wäre Maria neben den Resten des Kadavers aufgewacht, wäre zum vereinbarten Treffpunkt aufgebrochen und hätte sich am Nachmittag wieder abholen lassen. Kein Gedanken verschwendet daran, ob dieser Bär einer bedrohten Gattung angehörte. Er hätte eben einen stärkeren Gegner gefunden und wäre unterlegen - so war die Natur. Nur daß sie es natürlich nicht war.
Der Wer, der Dämon, war nicht Natur, er war Fluch. Natürlich wußte das Maria. Aber sie war in ihren Ansichten nicht zu zimperlich und ein Bär war auch nur ein dummes Vieh. Ihre Grenze war deutlich gezogen, sie mochte keinen großen Interpretationsspielraum, vor allem nicht, was den Wolf anging. Der Mensch war der Punkt, an den der Wer nie kommen sollte und das geschah hier draußen die letzten zwölf Male auch nicht. Die ausgedehnten Waldbereiche entbehrten auf Meilen jeder Hütte oder gar Siedlung. Die Waldarbeiter, die hier tagsüber manchmal unterwegs waren, waren bei Einfall der Nacht alle schon wieder auf dem langen Weg nach Hause. Menschenleer, weitläufig, belebt mit Tieren - ein geradezu ideales Areal. Die Jagt für den Wolf und die Sicherheit für Maria, kein menschliches Blut zu vergießen. Bis heute.
Maria empfand hinter ihrer Panik Wut aufkommen. Welche Idioten kamen auf die Idee, hier zu campieren? Mit einem Kleinkind! Im Bewußtsein, daß der Ärger ihre Verwandlung nur beschleunigen würde, versuchte Maria, die Gedanken zu verdrängen und sich auf den Schmerz ihrer aufgerissenen Fußsohlen zu konzentrieren, mäßig erfolgreich, denn dieser war lachhaft gegen das Gefühl des Zerreißens, das sie bei der nahenden Verwandlung erfahren würde.
Die Wut verflog allerdings augenblicklich, als Maria an Simon dachte. Simon hatte sie gewarnt, hatte ihr gesagt, das Aussetzen berge stets die Gefahr in sich. Simon, der sich selbst anketten ließ in den Nächten, in denen er den Mond kannte. Aber sie hatte die Warnungen beiseite geschoben und ihn sogar zu ihrem Komplizen gemacht, indem sie meinte, er müsse sie fahren, das sei er ihr schuldig. Als wäre es seine Entscheidung gewesen, sie damals in der Stadt zu verletzten.
Keine Ketten in der Stadt. Nicht der Schmerz und der Bewegungslosigkeit, die Hilflosigkeit und die Wut, die der Wolf so gut er konnte an seinem Wirten ausließ und ihn zwei Tagen und Nächte nach den Ketten noch halbtot zurückließ. Nein, nicht für Maria. Die clevere Maria, die ein Waldstück finden konnte, in der sicher nie ein Mensch sein würde, dafür könne sie ihre Hand ins Feuer legen.
Wie dumm, an die Möglichkeit eines Kompromisses mit dem Dämon zu geglaubt zu haben! Naiv war sie gewesen, jung im Umgang mit dem Wolf und nun würde womöglich ein Kind dafür zahlen. Die Witterung kam näher. Maria hob nun nicht mehr die Arme beim Laufen vor das Gesicht. Ihre Haut hatte zu spannen begonnen, begann zu Leder zu werden. Sollte die Wolfshaut doch die Äste im Gesicht abbekommen, oder ihretwegen auch die Augen, solange sie auch nur Sekunden gewann, in denen sie keine Dornen aus dem Weg drückte.
Im noch vorhandenen Schweiß des Menschen, begannen die Haare des Dämons langsam zu wachsen, machten sich für die Übernahme des Körpers bereit. Doch Maria weigerte sich mit aller Anstrengung noch, beim Laufen auf alle Viere zu fallen. Die Witterung war nun nahe.
4
Lucia war mit ihrem Latein am Ende. Sie hatte versucht, Julia zu füttern, mit ihr zu sprechen, sie zu wiegen, zu küssen, ihr vorzusingen, sie hatte sogar ihre Windel, die noch staubtrocken gewesen war, gewechselt. Nichts davon hatte geholfen. Das Kind hatte vor einigen Minuten angefangen zu brüllen wie am Spieß und wie es aussah, hatte es nicht vor, davon wieder abzulassen. Julias beachtliche Lautstärke und der Streß der Situation ließen Lucia mehr schwitzen als das Wandern es den ganzen Nachmittag über getan hatte. Sie behielt noch einige Augenblicke ihren Kopf in ihre Hände gelegt, um sich zu sammeln, dann stand sie auf und rückte ihren Rucksack zurecht. Keine Überlegungen mehr, es führte sowieso zu nichts. Vielleicht hatte Thomas ja doch mit einem seiner Ratschläge Recht gehabt, mit denen er ihr zunehmend auf die Nerven gefallen war, sodaß sie ihm Julia nur zu gerne in die Arme gedrückt hatte, um sich selbst auf den Waldboden zu setzen und nachzudenken.
„Gut. Vielleicht hast Du ja Recht.“ sagte sie zu ihrem Mann, der eben das schreiende Baby vor sich hochhielt und versuchte, es durch sinnlos gestammelte Silben zu beruhigen. Selbstverständlich ließ sich Julia keineswegs durch die „Dadas“ und „Gugus“ friedlich stimmen. Thomas sah zu Lucia und zog fragend die Augenbrauen hoch. In seinem Gesicht spiegelte sich deutlich die aufgekommene Ratlosigkeit, und Lucia versuchte, um so zuversichtlicher zu klingen.
„Wahrscheinlich ist sie nur müde. Laß uns einen Zeltplatz suchen und sie so schnell es geht hinlegen.“
Thomas nickte. Ob er ihr die Zuversicht abnahm oder nicht, auch er wußte, daß es sonst nicht mehr viel zu probieren gab, auch wenn Julia sonst noch nie Probleme damit gehabt hatte, in ihrer Tragetasche zu schlafen.
„Ok. Was sagst Du, vorwärts, oder ein Stück zurück? Ich meine, ich habe noch keine richtig ideale Stelle gesehen, aber ein bißchen weiter hinten war eine Lichtung, dort wär’s machbar.“
„Machbar?“
„Schräglage, aber nicht sooo schlimm. Wenn mir mit den Füßen nach unten liegen geht’s glaub’ ich.“
„Gut“ sagte Lucia leise zu sich selbst, dann lauter noch einmal. „Gut! Dann zurück. Schräg paßt mir schon, solange es Julia beruhigt.“
Sie meinte das aus vollem Herzen. Selbst wenn sie in der Nacht herumrutschen würden, wäre das ein geringer Preis für Ruhe und Frieden.
Sie drängte den Gedanken zurück, der immer stärker an die Oberfläche ihres Bewußtseins strebte, daß es doch keine gute Idee gewesen war, schon wieder einen Jahrestag mit einer Wanderung zu begehen. Nein, sie hatte sich zu sehr darauf gefreut und Julia war ein braves Kind, das wußte sie. Sie würde schnell schlafen, wollte dazu sicher nur liegen. Das Geschaukel in ihrer Tasche mußte daran schuld sein, daß sie nicht darin schlief.
So hoffnungsvoll als noch möglich drehte sich Lucia also um, den Rucksack wie auch die Baby-Tasche tragend und begann den Weg, den sie gekommen waren, zurückzumarschieren. Thomas folgte ihr mit der weinenden Julia fest im Arm.
Es wäre zu diesem Zeitpunkt schon egal gewesen, wären sie weiter vorwärts gegangen. Ruhe und Frieden sollten sie nicht mehr finden.
Konfrontation
1
Die Witterung des Kindes lag als einzig klare Sinneswahrnehmung zur Gänze über Marias Welt. Der Wald mit seinen unzähligen Eindrücken war in der Geschwindigkeit ihres Laufens zu einem undeutlich an ihr vorbeiziehenden, grotesken Schleier einer gebrechlichen Welt geworden. Das Kind - sowie seine Eltern als Bonus - war allein definierendes Element Marias Realität - und der des Wers. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich noch aufrecht bewegte, nur daß sie beinahe durch die Pflanzen flog - zu auf den Zweck ihres Seins. Es hätte Maria nicht einmal übermäßig überrascht, hätte sie ihre körperliche Verwandlung bereits durchgemacht während sogar der verhaßte Schmerz der Deformation in der allumfassenden Witterung des Babys ins Unbewußte gedrängt worden wäre.
Als sie durch den letzten Busch brach, wußte sie, daß sie verloren hatte und neben der sie verschlingenden Gier des Dämons in ihr spürte Maria eine unermeßliche Welle der Verzweiflung aufsteigen. Gleich würde der Wer - durch ihre Schuld und mit ihrem Körper - tun, was in Marias Vorstellung durch nichts in Grausamkeit zu überbieten war. Wie sehr hatte sie selbst sich ein Kind gewünscht, hatte nicht einmal nach ihrer Infektion aufgehört, den Gedanken aufzugeben. Nun war sie nur noch Augenblicke davon entfernt, statt dessen ein wehrloses Baby samt dessen Eltern zu zerreißen.
Die Knochen begannen zu wachsen, Haut und Muskeln, die den Wuchs immer viel zu langsam mitmachten, begannen den verfluchten Schmerz an Marias Verstand zu senden. Gleich würden ihre Haare aus allen gespannten Poren wachsen. Maria schrie nicht. So sehr sie den Schmerz haßte, wußte sie wie jeder, der den Mond auch nur eine Nacht gekannt hatte, daß es nicht die körperliche Deformation war, die die wahre Agonie brachte. Der eigentliche, der unmaskierte Wer, dessen bloße Maske der Körper des Wolfes war, attackierte den Geist seines Wirt, zerriß und formte ihn im noch wachen, doch wehrlosen Bewußtsein. Kein möglicher physischer Schmerz konnte je nur annähernd der Schatten der Gewalt sein, die einem Menschen dadurch angetan wurde.
Obwohl Maria zusammengekauert auf der Erde lag, mit ihrem Gesicht dem Boden auf der Lichtung zugewandt, konnte sie alles um sich besser wahrnehmen, als hätte sie es mit ihren menschlichen Augen gesehen. Die Eltern des jungen Mädchens standen wie erstarrt vor ihr und ihrem Dämon, gerade einige unbedeutende Jahre jünger als sie selbst, ihre schreiende Tochter im Arm der Mutter. Der Vater hatte das Zelt fallenlassen, das nun als formlose Haut am Waldboden lag. Alle drei so furchtbar wehrlos, nur das Kind schien in grausamer Ironie eine Ahnung von seiner Situation zu haben. Ein schreiendes Lamm neben willig wirkendem Schlachtvieh. Der Lauf umsonst, von Beginn an nur zu Gunsten des Wesens in ihr geführt. Würde sie in dessen Heulen ein grausames, selbstzufriedenes Gelächter hören? Sie hielt es für möglich.
Als die Krallen der Bestie durch Marias Finger und Zehen stießen, ließ sie alle Hoffnung fahren. Für Maria den Menschen war nichts mehr zu tun auf der Welt außer einer letzten Sache - einer kleinen und doch unendlich schwierig scheinenden Bewegung. Die Verzweiflung war die letzte menschliche Emotion vor der unausweichlichen Tat und war es auch keine erfreuliche, so wollte Maria sie so intensiv wie möglich erleben. Wer wußte schon, ob sie danach je wieder des Fühlens wie sie es kannte fähig sein würde. Sie mußte das Kind sehen, ihm in den letzten Augenblicken ihres Daseins als Mensch in die Augen sehen, nicht als die verfluchte Kreatur in ihr. Sehen vor dem Zerreißen und verzweifeln wie nur je ein Mensch verzweifelt war, war Marias letzter Wunsch auf der Lichtung. Und als der Geist des Wers zum Sprung ansetzte, um sein Wirtswesen im gesamten Sein zu übernehmen, hob Maria den Kopf und blickte Julia an.
Julia hörte auf zu schreien.
2
Das Kind sah in die Augen der vor ihr an den Boden gedrückten Kreatur und sah die Frau Maria, die um das Leben der Kleinen gelaufen war. Auch fühlte Julia den Wer, dessen Aura sie schon von weitem wahrgenommen hatte, im Inneren der Frau. Diese Augen jedoch waren Mensch, waren die einer Beschützerin, einer Mutter. Julia wußte noch nicht viel von der Welt, aber über eines wurde sie sich klar - vor der Frau mit diesen Augen mußte sie keine Angst haben.
Die Frau sah in die Augen des jungen Mädchens und sah das unschuldige Kind Julia. Sie sah dessen Angst bei der Begegnung ihrer Blicke schwinden und erkannte das Vertrauen und die Güte, die ihr, die sie schon so deutliche körperliche Zeichen ihres Dämons trug, entgegengebracht wurden. In diesem Moment wußte Maria, daß sie dem Wolf das Kind nicht überlassen würde.
Der Wer war geblendet. Eben noch war seine Welt Blut gewesen und der Geist der Frau so gut wie gebrochen und nun wußte er nicht mehr, wie ihm geschah. Er erkannte den Vollmond, er erkannte das Blut und dennoch waren alle seine Sinne überstrahlt von einem schmerzhaft hellen Licht, das von dem Kind ausging. Kaum konnte der Wolf die Welt noch sehen und er litt, so viel Mensch lastete auf ihm. Er begann mit all seiner Macht nach dem Mond zu schreien.
Thomas und Lucia war ihre Welt entrückt. Sie hatten nie etwas wie die Gestalt gesehen, die vor ihnen lag. Trotz der Krallen, der vollständigen Körperbehaarung und der unproportionierten Gliedmaßen war ihr die Menschlichkeit nicht abzusprechen, und ihr hingen auch noch deutlich die Fetzen von Körper, die einst ihre Kleidung gewesen sein mußten. Ebenso unbestreitbar war jedoch die Bedrohlichkeit, die von der Frau ausging. In ihrem Schock gefangen, hatten beide von Julias Eltern erst instinktiv versucht, jede Bewegung zu vermeiden, bis das Wesen den Kopf gehoben und ihre Tochter angesehen hatte. Obwohl die Tatsache, daß das Kind von allen Momenten ausgerechnet in diesem aufgehört hatte zu schreien, die Szene für Thomas noch surrealer werden ließ, hatte er sich soweit gefaßt, daß er einige Schritte rückwärts ging, um zu dem Hammer zu kommen, der zusammen mit dem Rest der Zeltausrüstung am Boden lag. Die Tierfrau ließ er dabei nie aus den Augen.
Lucia bewegte sich weiterhin nicht vom Fleck, drückte aber Julia fester an sich, die weiterhin den Blickkontakt mit dem Wesen hielt.
Keiner von ihnen hatte mit dem gerechnet, was die Fremde nun tat - sie richtete sich langsam auf und sah nun zum ersten Mal wirklich Lucia an, dann hinüber zu Thomas. Trotz der gar nicht bedrohlichen Geste stieß Lucia, von der Situation nun endgültig überfordert, einen Schrei aus.
Als Maria zu sprechen begann, war ihre Stimme ruhig und ihre Worte bedacht. Noch vor einigen Augenblicken war sie nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur ein einsilbiges Wort herauszubringen. Nun sprach sie so selbstsicher wie selten in ihrem Leben, was Lucia und Thomas still und ohne Unterbrechung zuhören ließ.
„Das Kind und ihr seid in großer Gefahr, also paßt genau auf! Wenn der Wolf erwacht wird er euch reißen und wir haben nur wenig Zeit übrig. Keinen halben Kilometer nördlich von hier werdet ihr eine Felswand finden. Der Wolf kann dort nicht klettern. Auf Bäume kommt er, also lauft wirklich bis ganz zum Fels und klettert. Bleibt so hoch in der Wand wie möglich und sucht Euch einen Vorsprung im Fels wenn ihr könnt. Ihr müßt die Nacht in die Wand bleiben, bis der Mond untergeht. Jetzt rennt, rennt um Euer Leben und ihres! Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch halten kann! LOS!“
Einen Augenblick hatte Maria Angst, die Wanderer würden ihr widersprechen, weiter stumm stehenbleiben oder gar versuchen, sich gegen sie zu verteidigen, doch offenbar hatte ihre Rede die Wirkung nicht verfehlt. Nach einem kurzen Austausch der Blicke liefen beide in die Richtung los, die Maria ihnen mit einem ihrer langen Arme gewiesen hatte. Sie würden nicht annähernd so schnell sein wie sie selbst auf dem Weg zu ihnen, doch mit etwas Glück würde es reichen - mußte reichen, um des Kindes Willen.
Ein Letztes blieb Maria nun noch zu tun. Als sie sich setzte, spürte sie, daß sie nicht wiederkommen würde. Sie mied den Blick zum Mond, dessen Ruf sie auch ohne Hinsehen wieder in sich spürte. Wenn sie ihn nun kennen würde, gab es keine Kinderaugen mehr, die den wütenden Dämon zurückhalten konnte. Der unglaubliche Zorn des Wers ließ nun langsam ihre Sinne schwinden, doch nicht genug um nicht den Schmerz der Vollendung der körperlichen Verwandlung zu empfinden. Schließlich trat der Werwolf Marias Geist in einer Welt aus Dunkelheit und Blut entgegen und Maria war bereit, für jede Sekunde zu kämpfen. Der Dämon in all seiner Essenz warf sich auf Marias Wesen, versuchte ihren Hasses, ihre Trauer, ihre Angst an sich zu reißen, zu steigern, aufzubauen und mit seinem Sein zu vereinigen. Die ihm feindlichen Züge Marias Menschlichkeit mußten zerrissen, isoliert, verdrängt werden, eingeschlossen, doch nicht zu weit weg von den Augen auf die Welt, die die seinen sein würden. Der Wer wollte, daß sich Maria später daran erinnern würde, wie er das Kind zerrissen hatte. Doch in dieser Nacht lehnte sich Maria trotz der Schmerzen, die keine Worte kannten, mit all ihrem Mensch-Sein länger gegen die Vergewaltigung ihres Geistes auf, als dies ein Mensch in vielen Jahrhunderten getan hatte. Sie stand gegen den Dämon nicht nur mit ihrer Kraft allein, sondern auch einem guten Teil jener, die das Mädchen Julia ihr gegeben hatte - bis der Dämon im vollem Besitz von Geist und Körper seiner Wirtin den Sprint nach Norden begann, waren sieben Minuten vergangen.
Aufstieg
1
Wie es ihnen die Frau an der Lichtung gesagt hatte, hatten Thomas und Lucia mit Julia in ihren Armen die Felswand nach einer minutenlangen Flucht quer durch die Vegetation des Waldes erreicht, durch die das Licht des Mondes selbst stellenweise keinen Weg gefunden hatten. Sie hatten miteinander nur wenige Worte gewechselt, Zurufe, falls einer von ihnen ein schnelleres Durchkommen im Gebüsch gefunden hatte. Obwohl keiner der beiden mit vollem Verstand begriff, was geschehen war, was noch immer geschah, hatten sie der Frau geglaubt, daß es um Leben und Tod ging und daß Zeit etwas war, von dem sie fatal wenig hatten. In ihrer Stimme war etwas nicht leicht Definierbares zu spüren gewesen, gütig aber endgültig, das jeden möglichen aufkommenden Zweifel im Keim erstickt hatte.
Die Rucksäcke, die sie beim Laufen nur behindert hätten, waren auf der Lichtung zurückgeblieben und wie Thomas nun schwitzend und verzweifelt bemerkte, als er seine Verlobte und die Tochter in deren Armen ansah, auch Julias Tragtasche.
Lucia hatte Julia, die in ihrer eigenartig stillen Friedfertigkeit geblieben war, so fest als möglich an sich gedrückt und sah nun zu der vor ihr gut zwanzig Meter aufragenden Steinwand auf. Schweiß lief ihr über das Gesicht und sie schluckte, als sie den linken Arm nach dem Felsen ausstreckte. Hätte Thomas sie nicht an der Schulter zurückgehalten, hätte sie zweifellos ohne eine weiteren Gedanken zu klettern begonnen.
„Gib mir Julia, ich schaff’ das schon mit einer Hand.“
Lucia wußte, daß ihnen keine Zeit für Argumente blieb und vermutlich hatte Thomas tatsächlich bessere Chancen, war er doch auch auf ihren Wanderungen derjenige, der einen Deut unbeschwerter und wenn er wollte auch schneller unterwegs war. So legte sie Julia ohne Worte in Thomas Arme, nicht jedoch ohne zu Versuchen, ihren Dank sowie ihre Sorge um das Kind in ihren Blick zu legen. Thomas nickte, was Lucia die Zuversicht gab, daß er verstanden hatte.
„Dann los“, sagte sie und beide begannen zu klettern.
2
Der Wolf war wütend wie nie. Hätte er in seiner Gier das Menschenweib doch ein wenig gebremst, statt ihr auch noch zu helfen, schnell zu jenem verhaßten und begehrten Menschenkind zu kommen. Doch hatte er eine Wahl gehabt? Zurückhaltung war nicht in seiner Natur und je eher das Fleisch und das Blut des Kindes sein waren, desto besser. So würde er eben nun laufen. Unmöglich konnten sein träges Futter auf zwei Beinen bei jener Wand sein, von der Maria und der Wolf beide durch seine Streifzüge gewußt hatten, wo sie lag und daß sie sich Kilometer durch den Wald zog. Wie war er, der Wer, mit seiner vom Mond gegebenen Macht, von dem schwachen Weibswesen und einem zarten Stück Fleisch, das selbst noch nicht gehen konnte, so lange zurückgehalten worden? Das war nicht die Natur, nicht die Art des Dämons, so war es nicht vorgesehen!
Keinen weiteren Gedanken an mögliche Antworten verschwendend, nur seine willkommene Wut nährend, flog der Wolf weiter dem Blut entgegen, daß ihm eben entgangen war, um die Dinge wieder richtigzustellen, um sich das Seine zu holen. Als er die Wand sah und die Menschen in ihr, fing er an zu knurren. Die Mutter hing schon acht Meter über dem Boden und er würde sie kaum im Sprung erreichen können, doch der Vater hatte noch nicht auf ihre Höhe aufgeschlossen. Er hatte das Balg im Arm, das Balg mit seinem süßen Blut. Mit einer Hand um zu klettern war das schwache Männchen gehemmt und erst etwa sechs Meter hoch gekommen. Das konnte der Wer schaffen. Daß das Kind so nicht nur für seinen eigenen Tod verantwortlich sein würde, sondern auch für den seines Vaters, gefiel dem Wolf und auch die Mutter würde sich nicht den vollen Mond lang im Fels halten können. Der Wolf geiferte, heulte mehr als er knurrte aus Freude und Gier. In unvermindertem Tempo raste der Wolf halb heulend halb knurrend auf die Wand zu und stieß sich vom Boden ab.
3
Julia hatte schon zu Beginn des Aufstieges wieder zu schreien begonnen, was Lucia zu einer Geschwindigkeit angespornt hatte, in der sie Klettern nicht für möglich gehalten hatte. Immer wieder sah sie zurück zu Thomas und Julia und sah erleichtert, daß die beiden trotz ihrer Situation erstaunlich schnell an Höhe gewannen. Ein Hauch von Erleichterung machte sich breit, als Lucia schon mehr als ihre zweifache Körperhöhe hoch geklettert war, mit ihren Lieben nicht weit unter sich. Kein Tier würde so hoch springen können und mit etwas Glück war im Felsen ein Vorsprung für die Füße zu finden, der die Arme entlastete und eine Nacht gegen die Wand gelehnt möglich machte. Sicher würde die Sonne jedes Raubtier, das ihnen auf den Fersen war, von seiner aussichtslosen Jagt in seine Höhle zurücktreiben. Lucia gönnte sich einen Moment Verschnaufpause, bis sie das Knurren hörte. Mit diesem Geräusch war die Erleichterung hinweggefegt und ihre Arme tasteten wild nach neuen Griffmöglichkeiten über ihr. Es war kein Tier, das zu solch einem haßerfüllten Ton fähig war und mit Sicherheit auch kein Mensch. Zu ihrem Erstaunen hörte sich Lucia selbst leise beten, als sie sich weiter an den Felsen hochzog, bis das Knurren, das sie so verzweifeln hatte lassen zu einem bizarren Triumphschrei wurde, der die Welt erfüllte. Als Lucia mit Tränen in den Augen den Kopf neigte um zu sehen, wie weit Thomas und Julia geklettert waren, um sie in Sicherheit zu wissen, sah sie all das nun folgende wie in einem Augenblick, einen Abdruck der Zeit, der sie niemals mehr verlassen würde - sie sah die Augen des Ungetüms, diese gelben unmenschlichen Augen, die in der schwarzen Fülle seines Leibes leuchteten, als es sprang, zu fliegen schien, sich an der Wand nochmals abstoßen konnte. Sie sah Thomas Gesicht sich zu einer Fratze aus Schmerz verziehen, als die Krallen des Monsters sich durch seine Beine gruben. Sie sah eine Pranke sich nach Julia strecken und Thomas das letzte tun, was noch getan werden konnte: sie sah ihn Julia ihr entgegenwerfen, bevor seine Hand seinem und dem Gewicht des Wolfes nachgab.
Daß Lucia Julia fing war mehr Reflex als bewußte Handlung. Das Kind schien einen entsetzlich lange Zeit neben ihr in der Luft zu schweben, bevor sich ihre Hand um dessen Arm schloß. Sie zog ihre Tochter zu sich, preßte sie fest an sich, schloß die Augen und drückte sich an den Stein. Zu den Schreien und dem Reißen unter sich blickte sei nicht, blickte auch am Morgen nicht mehr auf die Stelle, sah sie niemals.
Epilog
Es war Simon, der sie alle am nächsten Vormittag fand.
Die kaum noch als solche erkennbaren Überreste des Mannes.
Den Körper Marias, zu dem es keinen menschlichen Geist mehr gab, der in ihn hätte zurückkehren können.
Die Frau im Fels, die die ganze Nacht dort gehängt sein mußte und die auf keine Zurufe reagierte. Auch als sie später aus der Wand geborgen wurde, schien sie zu keinerlei Interaktion mit die Außenwelt fähig und ihr Blick blieb starr ins Nichts gerichtet. Allein Schwierigkeiten bereitete es, ihr das Kind abzunehmen, das sie mit erstaunlicher Kraft an ihre Brust gedrückt hielt. Als es den Sanitätern schließlich doch gelungen war, stellten sie zufrieden fest, daß wenigstens das Kind, abgesehen von einem oberflächlichen Kratzer an der Ferse, wohlauf war.