Marie
Für einen kurzen Augenblick dachte ich in ihren Augen zu sehen, dass sie mich wieder erkannte. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich zu Marie auf den Fußboden. Ich begrüßte sie und strich ihr über den Kopf. Aufgeregt wedelte sie mit ihren verdrehten Armen und wippte dazu mit ihren dünnen Beinchen. Ihre braunen, schulterlangen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. „Na wie geht es dir Marie?“, fragte ich obwohl ich doch wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde. 19 Jahre alt war sie nun schon und noch kein einziges, erkennbares Wort war über ihre Lippen gekommen. Bei ihrer Geburt hatte sich die Nabelschnur um ihren Hals gelegt. Der Sauerstoffmangel hatte zu schweren Gehirn und Entwicklungsschäden geführt.
Mit einem kreischendem Lachen ließ sie sich aus dem Schneidersitz nach hinten fallen und rollte gekonnt auf dem Rücken ab. Marie lebte in einer anderen Welt. Sie lachte und quietschte immerzu, auch wenn sie alleine war. Langeweile schien sie nicht zu kennen. Gerne würde ich einmal durch ihre Augen sehen können, vielleicht würde ich dann erkennen was ihr so viel Freude bereitete.
Ich stand auf und ging in die Küche, um ihr Mittagessen zuzubereiten. Grießbrei mochte sie besonders gerne, was ziemlich praktisch war, denn die Flecken konnte man leicht auswaschen. Maries Lachen drang aus dem Wohnzimmer während ich in der Küche zu gange war. Ich stellte alles auf dem Tisch bereit, bevor ich den Rollstuhl ins Wohnzimmer schob. Leicht war Marie nun wirklich nicht mehr und ihre hektischen, kraftvollen Bewegungen erschwerten es zudem, sie in den Stuhl zu heben. Ich schnallte sie an, wobei mich ihr Arm mitten ins Gesicht traf. Wenn Marie sich freute konnte sie ihre Bewegungen nicht kontrollieren. Genauso wenig wie ihre Stimme. Mit strahlendem Gesicht schrie sie nun aus voller Kehle. Ich fuhr sie an den Tisch, stellte die Bremsen des Rollstuhls fest und band ihr ein Lätzchen um. Marie zu füttern war eine echte Herausforderung. Manchmal konnte sie überhaupt nicht still halten und ich musste ihre Arme unter den Gurt schieben damit sie mir vor Aufregung den Löffel nicht aus der Hand schlug. Definitiv konnten wir beide nach jeder Mahlzeit eine Gesammtreinigung vertragen.
Während ich sie fütterte überlegte ich wie Marie jetzt wohl ohne ihre Behinderung leben würde. Sie könnte eine Ausbildung machen oder studieren gehen und vielleicht hätte sie einen Freund, so wie die anderen Mädchen in ihrem Alter. Ich fragte mich oft, was für Hobbies sie wohl hätte, wenn die Ärzte damals schneller reagiert hätten. Maries Quietschen schreckte mich aus meinen traurigen Gedanken. Ich hielt ihr die Nuckelflasche hin und sie trank mit großen Schlucken, wobei ihr das Wasser aus den Mundwinkeln lief und ich ihr schnell ein Tuch unters Kinn halten musste. Nach dem Essen zog ich Marie um, wickelte sie, und machte sie fertig für einen kleinen Spatziergang an den See.
Draußen auf der Straße spielten einige Kinder mit einem Ball. Jedes Mal spürte ich die Blicke der Leute und oft musste ich neugierige Fragen zu Maries Behinderung beantworten. Sie selbst schien das alles gar nicht wahrzunehmen. Vergnügt gluckste sie vor sich hin und klatschte mit ihren Händen wild auf den Armlehnen herum.
Am See setzte ich sie auf eine Decke ans Ufer, sodass sie mit ihren Füßen im Wasser spritzen konnte. Sie liebte Wasser und voller Freunde riss sie ihre Arme nach oben und jauchzte. Instinktiv musste ich mitlachen. Wie schön es doch war, dass Marie sich an so kleinen Dingen freute. Ich dachte an mein eigenes Leben und beneidete sie fast ein bisschen. Von den schlimmen Dingen in dieser Welt bekam sie nichts mit. Dass sie keine Freunde hatte, weil sie anders war, schien sie nicht zu merken. Angst oder Traurigkeit kannte sie nicht und von Sorgen hatte sie noch nie etwas gehört. Sie war eine Belastung für ihre eigenen Eltern und sie würde niemals ein normales Leben führen. Von all dem wusste sie nicht. Lachend rollte sie sich auf den Rücken.
Sie sah mich nicht an sondern schaute ins Leere. In ihre eigene Welt eben. Ihr Blick war klar, so als würde sie etwas genau betrachten. Was konnte so ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern? Etwas Irdisches war es jedenfalls nicht, da war ich mir ganz sicher. Auch wenn mich andere Familienhelfer wahrscheinlich dafür ausgelacht hätten, war die Antwort insgeheim doch klar.
Marie konnte in den Himmel sehen.