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[Mariella] Komm und erkläre mir den Himmel
Da stand er im Türrahmen und sah zu Mariella hinüber. Sie wartete am geöffneten Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Manchmal bewegte sie ihren Kopf und wenn er es nicht besser wüsste, er hätte geglaubt, dass sie den klaren Sternenhimmel betrachtete. Aber das konnte nicht sein. Somit schüttelte er den Gedanken ab und näherte sich ihr. Am leichten Neigen ihres Kopfes bemerkte er, dass sie ihn registrierte.
„Bist du es?“
„Aber, ja“, erwiderte er und hielt drei Schritte hinter ihr inne.
„Der Abend ist schön, oder?“
„Woher weißt du das?“
Sie schwieg einen Augenblick. „Immer wenn du sagtest, dass es ein schöner Abend ist“, begann sie mit leiser Stimme, „war die Luft kühler und frischer als üblich. So wie heute.“
„Darauf habe ich zwar noch nie geachtet, doch das kann schon sein.“
Mariella drehte sich auf den Fersen und begegnete seinem Blick. „Wenn es nicht der Wind ist, was macht für dich dann den Abend schön?“
Eine schwierige Frage, wie er fand. Schließlich trat er, während grüne Augen seinen Bewegungen folgten, gemächlich an ihre Seite.
„Es ist der Himmel. In der Dämmerung färbt er sich rot wie dein Haar und dann wird er mit der Nacht tiefblau.“
„Rot, blau. Oft nennst du mir Farben, aber wie kann ich es mir vorstellen?“
Während er überlegte, musterte er sie von der Seite her.
„Stelle es dir wie ein Abendessen vor.“
„Ein Abendessen?“, echote sie mit amüsierten Unterton, „Hast du etwa Hunger?“
„Nein, aber weißt du... Farben passen zueinander und bilden Gegensätze. Genauso ist es beim Essen. Süß, sauer, bitter und salzig... es ist wie mit Blau und Gelb oder Grün und Rot. Wählt man die passenden Farben zueinander, ist es wie etwas Leckeres. Wählt man die falschen Farben zueinander, schmeckt die ganze Suppe nicht.“
Mariella nickte dazu. „Deswegen sagst du mir immer, ob die Farbe meiner Kleidung zu mir passt, oder nicht?“
„Genau!“, bekräftigte er lächelnd.
Mariella erwiderte das Lächeln und er konnte seine Aufmerksamkeit eine Weile nicht von ihrem Gesicht lösen, das rötliche, schulterlange Locken umspielte. Obwohl sie es nicht wusste, oder keinen Bezug zu diesem Wort hatte wie er, war sie dennoch eine hübsche Frau.
Dann erlosch ihr Lächeln plötzlich.
„Stimmt etwas nicht?“, forschte er sofort nach.
„Das wollte ich dich gerade fragen“, erwiderte sie vorsichtig.
„Öhm, warum?“
„Du bewegst dich nicht und schweigst.“
„Achso, naja, ich hing nur einem Gedanken hinterher.“
Da erhellte abermals ein freudiger Ausdruck Mariellas Züge und sie wandte sich von ihm ab, um zielstrebig das Zimmer zu durchqueren. Er beobachtete, wie ihre Hand über die Schrankgarnitur tastete und sie mit den Fingerspitzen die Rundungen einer Tasse erspürte, bis sie den Henkel fand.
„Möchtest du auch etwas Tee?“
„Klar!“
„Dann erzähle mir, über was du nachdenkst.“
Und als wäre es damit beschlossen, verschwand sie mit zwei Tassen in der Küche.
„Mir fällt nur immer wieder auf, dass man es fast nicht bemerkt, dass du blind bist“, rief er, damit sie es verstand.
Er hörte etwas in der Küche klappern und kurz darauf einen Teekessel köcheln.
„Nicht? Aber ich bewege mich doch viel langsamer als du.“
„Naja, aber du schaust einen an und strahlst, wenn du glücklich bist. Ohne deine drei Punkte, würde es ein Fremder nicht bemerken.“
Nach einiger Zeit tauchte sie wieder mit einem Tablett im Türrahmen auf.
„Das haben die Ärzte auch gesagt.“
„Weißt du woran es liegt?“
Sie balancierte zwei Teetassen zu einem kleinen Tisch an seiner linken. Dort war auch eine Couch, auf welche er sich dann setzte. Sie folgte ihm kurz darauf.
„Ich verstand nicht alles. Sie erklärten, dass ich die Dinge sehe und meine Augen auch darauf reagieren, aber es nicht in meinem Gedächtnis gespeichert wird, als würde ich es augenblicklich wieder vergessen. Sie haben verschiedene Tests gemacht, bis ich es nicht mehr mochte.“
„Was für Tests?“
„Sie zeigten mir Bilder und studierten meine Mimik. Sie wollten wissen, ob ich nur instinktive Symbole, wie ein freundliches Gesicht erkenne, oder auch komplexes wie ... ekelerregende Dinge. “
„Und?“
„Ich mag die Tests nicht.“
An ihrer Tonlage erahnte er jedoch, dass es noch etwas Anderes geben musste.
„Was stört dich?“, meinte er schließlich zögerlich.
Sie nippte an ihrem Tee und verzog ihr Gesicht. Offenbar bemerkte sie, dass sie wohl zu voll einschenkte und vorsichtig schlürfte sie daraufhin den Überstand ihrer Tasse ab. Kurz darauf blickte sie ihn wieder offen an.
„Ich passe mein Leben an die Sehenden an, damit ich nicht auffalle, aber ich erhalte dafür nur wenig.“
„Wie meinst du das?“
„Ich schalte abends im Treppenhaus das Licht ein, damit sich die Nachbarn nicht erschrecken. Ich habe auch in der Wohnung Licht, damit Nachbarn wissen, dass hier jemand lebt. Mein Hund trägt in der Straßenbahn einen Maulkorb und ich lasse mir meine Haare schneiden und wähle passende Kleidung und Farben aus.“
Ihre Worte zwickten ihn in die Seite, denn einige dieser Dinge empfahl er ihr schließlich als Betreuer.
„Ich...“, begann er langsam, „wünsche mir einfach, dass die Menschen dich natürlich behandeln. Dass sie dich sehen und nicht ausschließlich wegen deinem Blindenzeichen freundlich zu dir sind.“
Sie nickte und nahm einen weiteren Schluck ihres Tees.
„Das weiß ich und dafür bin ich dir auch dankbar.“
„Aber?“
„Ich wüsste gerne, was sie dann denken. Wer ich bin, wenn man mich sieht.“
Er rieb sich unschlüssig am Nacken und sie neigte nach einer Weile ihren Kopf leicht zur Seite.
„Schmeckt dir der Tee heute nicht?“
Intuitiv hob er die Tasse und ließ sie kurz darauf wieder auf der Untertasse klirren, sodass sie zufrieden nickte.
Schließlich hatte er auch sein Leben der Blinden angepasst. Er trank schließlich keinen Tee und konnte Hunde nicht ausstehen, aber das wollte er ihr niemals sagen.
„Manchmal“, meinte er langsam, „ist es eine Sache wert, dass man Umwege akzeptiert, ohne dass man den Lohn dafür in diesem Leben erhält.“
„Hmm...“ Sie strich sich durch ihr langes Haar, wie sie es immer tat, wenn sie über etwas grübelte. „Ich denke, dass kann ich akzeptieren.“
Er lächelte.
„Dann bis nächsten Freitag?“
„Gern, wenn du mir dann etwas Neues erklärst?“
„An was hast du denn gedacht?“
„An eine Landkarte. Eine Frau bat mich an der Straßenbahnhaltestelle darum, aber ich konnte ihr nicht helfen. Zuerst war sie unwirsch, und als sie deine drei Punkte sah, wurde sie plötzlich schrecklich verlegen.“
„Eine Landkarte“, unterbrach er ihren Gedankengang.
Sie atmete einmal tief durch. „Ja, kannst du mir das erläutern?“
„Ich denke mir was aus, Mariella.“
„Gut!“, erwiderte sie und begann nach dem Geschirr zu tasten.
Er wollte ihr helfen, doch da hatte sie seine Tasse schon erreicht. Sie hielt irritiert inne, als sie das Geschirr in der Hand wog.
Die Sekunden, wo seine kleine Lüge vielleicht aufflog, flossen heiß seinen Nacken hinab.
Sie zögerte, blickte schüchtern zu ihm auf und fragte nach einer kleinen Weile zurückhaltend:
„Trinkst du noch aus?“
Eine Chance.
Rasch nahm er ihr die Tasse ab und trank. Obwohl sich sein Inneres verkrampfte, tröstete ihn ihr Lächeln über alles hinweg.
Damit verabschiedete er sich und bemerkte im Flur noch, wie plötzlich sanfte Musik das Wohnzimmer erfüllte.
In diesen Momenten wusste er, dass sie mit ihren Leben zurecht kam und längst keinen Betreuer wie ihn mehr brauchte.
Aber trotzdem ließ sie ihn kommen und dafür war er ihr dankbar.