Maries Geburtstag
„Henry! Henriiiiiiy!“ schallte es durch das Haus. Henry saß in seiner Werkstatt und war in jenem Moment, in dem der markerschütternde Schrei nach ihm befahl, konzentriert in seine Arbeit vertieft. Ein wichtiger Teil seiner neuen Erfindung sollte in diesem Augenblick mittels Lötkolben an die richtige Stelle platziert werden.
Dieser Vorgang benötigte eine ruhige Hand, sowie das dazu notwendige Geschick. Zweiteres war Henry von Natur aus gegeben. Gegen äußere Einflüsse jedoch stand Henrys Begabung auf verlorenem Posten.
„Marie!“ zischte Henry. Ihr Schrei hatte seine Vorhaben zerstört. Der Lötkolben verfehlte dadurch um wenige Millimeter sein Ziel. Henry legte ihn rasch zur Seite und schaltete die elektronische Anlage ab. Mit prüfendem Blick begutachtete er sein Missgeschick. „Hmmm“, brummte er.
„Henriiiiiy!“ erneut drang der schrille Schrei zu ihm vor. „Ja! – Ich komme sofort“, antwortete er. „Henry!“ Die Stimme näherte sich. Henry nahm seine Brille, setzte sie auf und verließ mit einem Seufzer die Werkstatt. „Ja!“ wiederholte er, „Ich bin schon auf dem Weg!“
Sein Arbeitsraum befand sich im unteren Bereich des Hauses. Am Treppenabsatz begegnete er seiner Frau. „Henry! Das Essen ist fertig – schon seit geraumer Zeit! Hast du mich nicht gehört?“ „Doch, doch“, antwortete er missmutig und ging an seiner Frau vorbei. Marie machte am Absatz kehrt und stapfte hinter Hernry die Treppe hinauf. „Henry! Du verbringst die meiste Zeit mit deinen blöden Erfindungen, und du weist doch, dass ich nicht gerne alleine bin.“
Bis beide die Wohnküche erreicht hatten, musste Henry einen Schwall an Vorwürfen über sich ergehen lassen. Henry hatte den Müll nicht aus dem Haus gebracht; Henry hatte die Katze nicht gefüttert; das Auto war nicht gewaschen, und warum er soviel Zeit mit nutzlosen Dingen verbrachte verstand seine Frau schon gar nicht.
Henry nahm am Tisch Platz und wartete schweigend bis Marie ihm das Essen reichte.
Dabei nörgelte sie weiter. Seine sogenannten Erfindungen seien doch keinen Cent wert, und er sollte seine Zeit eher sinnvoller verbringen.
Henry hatte schon vor langer Zeit aufgegeben seiner Frau zu widersprechen. In diesem Haus war sie die Königin und Henry zur Dienerschaft degradiert. Sogar Fred, ihrem Kater, räumte sie einen höheren Status ein. Er hasste seine Frau.
Henry nahm bedächtig seine Mahlzeit auf. Geduldig hörte er sich Maries Predigt an, nickte zeitweise, und wenn ihre Stimme einen gewissen Pegel an Lautstärke erreicht hatte, gab Henry mit einem kurzem „Ja, du hast wie immer recht“, seine Zustimmung kund.
Henry war in Gedanken wieder in seiner Werkstatt. Er stand unmittelbar davor, eine bahnbrechende Erfindung zu entwickeln. Kurz vor Maries Ruf war die Vollendung nahezu perfekt. Er hoffte, dass durch sein Missgeschick die empfindlichen Teile der Maschine nicht zu stark in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Ein schmerzhafter Stich in seine große Zehe riss ihn aus seiner Grübelei. Fred, der Kater, hatte es sich vor Henrys Füssen gemütlich gemacht. Er biss ein zweites Mal in Henrys Zeh. Henry stupste ihn mit dem Fuß zur Seite.
„Henry! Du tust Fred weh!“ Maries Gesicht lief rot an. „Er will mit dir spielen, und du gibst ihm einen Tritt!“ Fred miaute wehleidig. „Na, komm zu Frauchen“, lockte Marie Fred zu sich. Fred sprang sofort auf ihren Schoß und ringelte sich darauf ein – Henry hätte schwören können, Fred grinste ihn dabei an! Marie streichelte den Kater liebevoll. „Er mag dich einfach nicht“, sprach sie zu der Katze. „Er mich auch nicht“, entgegnete Henry.
Stillschweigend aßen sie ihr Mal zu Ende. „Ich gehe noch kurz in die Werkstatt“, beendete Henry das Schweigen. „Henry!“ Maries Ton gab die Schärfe des Essens wieder. „Du bleibst jetzt bei mir“, befahl sie.
„Aber Marie!“ Henry bemühte sich sein freundlichstes Lächeln aufzusetzen“. „Weißt du nicht welchen Tag wir morgen haben? Deinen Geburtstag! Und ich habe für diesen besonderen Tag noch einige Sachen zu erledigen. Es soll doch eine Überraschung werden.“ Beim letzen Satz sah Henry mit gespielt sorgenvoller Mine zu Boden.
„Eine Überraschung! Für mich!“ Marie ließ Fred zu Boden fallen. Fauchend lief dieser an Henry vorbei und verschwand in Richtung Keller.
„Was ist es denn?“ Marie war von Natur aus eine neugierige und ungeduldige Person. „Henry! Sag` es mir.“
„Wenn ich es dir jetzt schon verraten würde, dann wäre es doch keine Überraschung für dich – oder?“ Henry ging in die Offensive. „Es sind nur mehr ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Sobald diese getan sind, rufe ich nach dir.“
„Also gut“, die Aussicht auf rasche Befriedigung ihrer Neugier ließ Marie akzeptierten. „Ich warte einstweilen – aber nicht allzu lange“, dabei erhob sie drohend ihren Zeigefinger.
Henry atmete erleichtert auf und ging in seine Werkstatt. Auf dem Weg dahin begegnete er Fred. Der Kater saß am unteren Ende der Kellertreppe und blickte skeptisch in Richtung Henry. Schnell griff Henry nach ihm, packte Fred am Genick, und hob ihn hoch. Die überraschende Attacke Henrys ließ Fred keinerlei Gelegenheit zur Gegenwehr. Der Griff in den Nacken bedeutete für den Kater Bewegungsunfähigkeit.
Gleich einem nassen Sack hing Fred an Henrys Arm. Mit einem tiefen, anhaltenden Knurren tat der Kater seinen Unmut kund.
Henry betrat seinen Arbeitsraum, bugsierte Fred in einen eigens für ihn hergestellten Käfig und schloss rasch, noch bevor der Kater mit seinen scharfen Krallen nach ihm langen konnte, dessen Verriegelung.
Henry kümmerte sich nicht weiter um Fred, sondern wandte sich seiner Maschine zu. Erleichtert stellte er fest, dass der Schaden, den er durch Maries Geschrei verursacht hatte, rasch zu beheben sei.
Nachdem Henry die elektronischen Bauteile richtig verlötet hatte, atmete er zufrieden auf. „So, mein Baby, jetzt zeig mir was du kannst!“
Henry betätigte mehrere Schalter und mit jedem Schalter, denn er behutsam zwischen seinen Fingern umlegte, wurde die Anzahl der aufleuchtenden Kontrolllampen größer, steigerte sich ein von Beginn an leises Surren zu einem, vor elektrischer Kraft strotzendem Summen der Maschine.
Henry gluckste vor Aufregung. Der kleine Bildschirm vor ihm ließ ihn wissen, dass sein mühsam gebautes Werk einwandfrei funktionierte und nun darauf wartete Henrys Befehle zu erfüllen. Mit zittrigen Händen tippte Henry einige Anweisungen ein. Bevor er jedoch die “Enter“ Taste betätigte sah er in Richtung Fred.
Der Kater, der damit beschäftigt war einen Ausweg aus seinem Gefängnis zu finden, hielt inne. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Fred legte seine Ohren an und fauchte zornig in Richtung Henry. „Good by Fred!“ Kichernd lies Henry seinen Finger die Taste drücken.
Die Maschine entwickelte ein gefährliches Brummen. Sekundenbruchteile später wurde der Käfig, in dem Fred saß, in gleißendes Licht getaucht. Henry schloss seine Augen. Er öffnete sie erst, nachdem die Maschine wieder ihr beruhigendes Summen von sich gab. Der Käfig, in dem zuvor Fred saß, war leer. Henry ballte seine Hände zu Fäusten und lachte vor Glück laut auf. Es hatte wieder funktioniert.
Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Henry war ein begnadeter Ingenieur. Noch zu aktiven Zeiten arbeitete er in seiner Firma an einem ähnlichen Konzept, das jedoch aufgrund mangelndem Erfolgs, sowie an verständnislosen Vorgesetzten eingestellt wurde. Henry hatte nach seiner Pensionierung in akribischer Kleinarbeit an diesem Konzept weitergearbeitet, es immer wieder verbessert sodass er heute die Krönung seiner Schöpfung bewundern durfte.
Zuerst konnte er nur kleine, leblose Dinge verschwinden lassen. Einen Bleistift, seinen Radiergummi, eine Haarspange seiner Frau; das besondere daran war, die Sachen tauchten nie mehr wieder auf! Henry konnte noch nicht eruieren warum? Jedoch die Tatsache, dass er Dinge verschwinden lassen konnte, ohne dass sie jemals wieder in seinem Umfeld auftauchten zählte für Henry weit mehr als die Wiederkehr derselben.
Mit lebenden Objekten gab es Probleme. Mäuse, die sich Henry von der Tierhandlung besorgt hatte verschwanden nur teilweise, die Reste lagen verkohlt im Käfig. Bei anderen Versuchen verbrannten sie gänzlich. Erst letzte Feinarbeiten an der Energiezufuhr brachten für Henry den Durchbruch. Die Katze, die seit kurzer Zeit in der Nachbarschaft verschwunden war, wurde nicht von einem Auto überfahren. Sie lief auch nicht weg. Nein! Sie verschwand einfach. Dank Henry!
Fred war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Er hasste den Kater. Er nahm bei Marie seinen Platz ein, durfte bei ihr im Bett schlafen – Henry dagegen musste oft, auf Weisung Maries, im Gästezimmer nächtigen. Meist dann, wenn Fred es sich wieder einmal auf Henrys Seite im Bett gemütlich gemacht hatte. Doch nun war dieses Problem endgültig beseitigt.
Sein zweites, jedoch weitaus größeres Problem öffnete in jenem Moment die Tür zur Werkstatt, als Henry gerade damit beschäftigt war, sein Instrument neu zu kalibrieren.
„Henry!“ Marie stand füllend im Türrahmen. „Der Strom ist ausgefallen! Was hast du getan?“ Maries Augen blitzten dabei bösartig in Richtung Henry. Henry wandte sich, erst nachdem er in aller Ruhe seine Arbeit beendet hatte, Marie zu. „Ich habe dein Geburtstagsgeschenk vorbereitet. Jetzt komm schon herein,“ Henry winkte einladend mit seinem Arm und deutete anschließend mit dem Zeigefinger auf einen großen Stuhl, „und setz dich auf diesen Stuhl.“
Henrys Lächeln, sowie die Aussicht endlich ihr Geschenk zu erhalten, zeigten bei Marie Wirkung. Bereitwillig nahm sie, auf dem für sie vorgesehen Stuhl, platz.
Marie blickte skeptisch um sich. „Wo hast du nur all die Sachen her? Das muss ja ein Vermögen gekostet haben. Henry? Wie viel hast du dafür ausgegeben?“
„Eine ganze Menge“, entgegnete Henry mit höflichem Ton. Er erhob sich und trat vor Marie. „Aber jetzt“, Henry beugte sich zu Marie und umklammerte dabei mit seinen Händen die Stuhllehnen, „jetzt wollen wir nicht über Geld sprechen, auch nicht darüber, dass der Strom ausgefallen ist. Jetzt“, Henry lächelte wieder, „jetzt werde ich dich auf deine Geburtstagsüberraschung vorbereiten.“
Marie wirkte irritiert. Der Mann, der ganz nah vor ihr stand, schien nicht ihr Henry zu sein. So selbstsicher kannte sie ihren Ehemann nicht.
„Setz das auf“. Mit einer raschen Bewegung zog Henry einen Helm hinter dem Stuhl hervor. Er glich stark dem eines Fahrradhelms, jedoch gingen unzählige feine Drähte von ihm aus die unscheinbar im inneren des Stuhles verschwanden. „Was ist den das?“
Marie blickte abwechselnd skeptisch von Ihrem Ehemann zu dem Helm. „Wie ich schon sagte, nur eine Vorbereitung auf dein Geschenk!“
Henry achtete nicht mehr auf Maries Fragen, er setzte ihr einfach den Helm auf, schloss den Gurt um ihr Kinn, trat einen Schritt zurück und lächelte zufrieden. „Und nun schließe deine Augen!“ Sein Lächeln erstarb und seine Stimme klang militant, so dass Marie zum ersten Mal seit langer Zeit Henrys Anweisung ohne Wiederspruch befolgte.
„Mein Geschenk“, die Maschine begann zu brummen, „mein Geschenk Marie!“ Henrys Stimme bebte. „Mein Geschenk ist der Tod!“ Sein Druck auf die “Enter“ Taste besiegelte Maries Schicksal.
Äußerst zufrieden mit sich verließ Henry kurz darauf seine Werkstatt. Morgen würde er alle, ihn belastende Spuren beseitigen. Die Baupläne, die gesamte elektronische Einrichtung; einen Grossteil dessen konnte er zuvor mit seiner Maschine verschwinden lassen. Henry kicherte bei dem Gedanken. Seine Beweislast löste sich quasi von selbst auf. Übermorgen würde er seine Frau bei der Polizei als vermisst melden.
Henry schaltete den Strom im Haus wieder ein – für seine Werkstatt hatte er sich vorausplanend eine eigene Versorgung legen lassen, wusch sich und ging zu Bett. Er glitt dem Schlaf entgegen und dachte daran, wie der kommende Morgen sein würde. Keine nörgelnde Ehefrau, kein lästiger, fauler Kater; Henry konnte ab Morgen ein freies Leben führen.
Es war eine Weile nach Mitternacht, als ihn ein scharrendes Geräusch aus seinem Schlaf weckte. Angespannt lauschte Henry in die Dunkelheit. Wieder eine Maus, dachte er. Sie hatten oft Mäuse im Haus. Zu ihrer Abwehr wurde Fred angeschafft, doch den interessierte die Jagt nicht sonderlich, sodass Henry weiterhin die Mäuse mit Fallen fing. Henry seufzte kurz, drehte sich auf die andere Seite und begann sich wieder dem Schlafe zu widmen. Erneut drang das Geräusch an sein Ohr. Diesmal lauter, eindringlicher. Henry ortete dessen Ursprung im Stiegenhaus. Da ihn das scharrende, kratzende Geräusch nicht zur Ruhe kommen ließ, stand Henry auf.
Er begab sich in die Diele und horchte angestrengt in die Finsternis. Das Geräusch kam eindeutig von der Eingangstür. Henry machte Licht. Das Kratzen und Scharren erstarb urplötzlich. „Diese Scheiß Mäuse“, brummte er. Er war bereits wieder auf den Weg zu seinem Bett, als es erneut losging; noch heftiger, noch intensiver. Henry, jetzt hellwach, ging rasch zur Haustür, drehte den Schlüssel und öffnete sie.
Es war Fred, der auf der Schwelle hockte. Die Augen des Katers glommen wie schmutzige Lampen.
Henry wich entsetzt zurück, atmete stoßweise, fühlte , wie sein Herz zu rasen begann und das Adrenalin unangenehm durch seinen Körper peitschte.
Henry schwankte unsicher auf seinen Füßen – der Kater, der ihn sofort in die Beine biss, ließ ihn taumeln. Henry versetzte ihm einen Tritt, vertrieb ihn. Er entblößte seine Zähne und fauchte, setzte erneut zum Angriff an, sprang Henry mitten in sein Gesicht und fügte ihm mit gezielten Prankenhieben schmerzhafte, blutende Wunden zu.
So rasch die Attacke Freds geschah, so rasch beendete er sie, ließ von Henry ab und verschwand in Richtung Küche.
Starr vor Schreck stand Henry da. Sein Gehirn versuchte krampfhaft das so eben erlebte zu verarbeiten. Das konnte unmöglich Fred sein, hämmerte es in seinem Hirn.
Henry leckte seine Lippen, leckte süßes, warmes Blut – sein Blut! Henry erwachte aus seiner Starre, rannte in das Badezimmer, sah sein Spiegelbild und fluchte lauthals.
Henry riss eine Lade auf, holte Desinfektionsmittel hervor und beträufeltet damit die Kratzer, die sich wie Furchen durch seine Wangen zogen. „Scheiße! Na warte du blödes Vieh! Wenn ich dich erwische, drehe ich dir den Hals um!“ Henry schrie vor Wut und Schmerz.
Der stechende Schmerz verebbte allmählich zu einem dumpfen Pochen. Schwer atmend versuchte Henry sich zu konzentrieren. „Denk nach, denk nach“, sprach er zu sich selbst. „Das konnte unmöglich Fred sein.“ Er holte Wundpflaster aus der selben Lade und begann mit zittrigen Fingern die tieferen, blutenden Kratzspuren damit zu überdecken.
Nachdem er damit fertig war, beschloss er der Sache auf den Grund zu gehen. „Ich werde das Mistvieh schon finden“, murmelte er vor sich hin, „und dann Gnade ihm Gott!“
Henry wollte so eben das Badezimmer verlassen, als ein mächtiger, grollender Schrei, der durch das Haus donnerte, ihn an der Tür erstarren ließ.
„Henriiiiiiiiiy!“