marley war tot
"marley war tot"
Die lange Zeit auf der Straße färbte seine Hände grau und machte sie faltig. Unter den spröden Nägeln sammelten sich alle möglichen Arten von Dreck. Durch den Schmutz hatte sich die Wunde auf der linken Handfläche, die er sich vor ein paar Tagen bei einer Rauferei geholt hatte, entzündet. Sie war eitrig, und jedes Mal, wenn er eine Seite seines Buches umblätterte, schmerzte sie. Aber das kam nicht so oft vor, das Umblättern meine ich. Er war kein schneller Leser, seine Augen waren schlecht und der Verkehr auf der Straße lenkte ihn immer wieder ab.
Er sah nicht auf, als eine Frauenstimme ihn ansprach. „Hey, geh weg. Du versperrst die Tür.“ Er starrte auf die Seite mit den vielen Wörtern und die Wörter wurden zu Buchstaben und die Buchstaben zu schwarzen Flecken. Obwohl es ihm dabei schwindlig wurde, er zwang sich weiter auf das Papier zu sehen. „Ich hole die Polizei.“ Die Frau gab nicht nach. Er auch nicht, biss die Zähne zusammen und blätterte eine Seite weiter.
Wütend und ohne Rücksicht auf den alten Mann drängte sich die Frau an ihm vorbei. Sie öffnete die Haustür, schlug sie ihm dabei an den Hinterkopf, knallte die schwere Tür wieder zu und schloss ab.
Er rieb sich den Hinterkopf und machte es sich gemütlich. Sitzend auf einem Zeitungsstapel, an die hohe Haustür gelehnt, begann er wieder zu lesen. Die Menschen auf der Straße gingen schneller, wenn sie ihn sahen. Wenn. Viele drehten auch die Köpfe weg oder starrten auf den vereisten Gehweg. Seine Sammelbüchse war leer. Er traute sich nicht in die Straßen mit den vielen großen Geschäften. Dort liefen einen Tag vor Weihnachten schon genügend Obdachlose herum und fragten nach Geld. Sicherlich, in der kalten Jahreszeit liefen die Geschäfte am besten, aber die anderen mochten ihn nicht. Er war seltsam. Natürlich, nach zehn Jahren auf der Straße ist jeder seltsam, aber er war noch seltsamer. Das spürten die anderen Obdachlosen, das spürten die Passanten und mieden ihn.
Gegen Abend kam die Frau aus ihrem Haus. Auch wenn sie diesmal rücksichtsvoll die Tür öffnete, sie schlug sie ihm trotzdem ins Kreuz. „Hier! Frohe Weihnachten!“ Sie reichte ihm Geld. „Und jetzt verschwinden sie, bitte.“ Mit einem langen Seufzer klappte er sein Buch zu.
„Wollen sie mich bestechen? Haben wohl ein schlechtes Gewissen.“ Ein heftiger Husten schüttelte ihn. Er spuckte gelblichen Schleim auf die Treppe aus und räusperte sich. Mit einer kratzigen Stimme fuhr er fort. „Haben wohl auch schon von mir gehört.“
Die Frau wich ein paar Schritte auf die Straße zurück, aus Angst er könnte gewalttätig werden. „Hier ist das Geld.“ Sie warf es ihm entgegen.
Er schüttelte müde den Kopf. Dann stand er auf und rief in die kalte Nacht hinaus. „Ich bin Marley, der Weihnachtsmann. Ich nehme die Geschenke von den reichen, verwöhnten Gören und gebe sie den armen, lieben Kleinen. “ Er strich seinen langen Mantel glatt. Der Mantel war früher mal rot gewesen, jetzt war er von Taubenkot grau und den Müllresten braun gefärbt. Seine Füße steckten in alten, mit Zeitungspapier ausgestopften Turnschuhen. Er hustete wieder. Es schien fast so, als würde seine dünne Gestalt von dem kratzenden Husten zerrissen.
„Es sollten mehr Menschen solche Geister sehen.“ Sagt er dann.
Die Frau lächelte wieder nur. Eigentlich sollte der alte, dreckige Mann nur das Geld nehmen und sich freuen, damit sie kein schlechtes Gewissen mehr zu haben brauchte.
„Wenn ich heute Nacht erfriere, werde ich Marley der Weihnachtsmann. Ich werde ein Held für die an Weihnachten vergessenen. Jeder wird mich achten.“ Er holte tief Luft und schrie so laut er konnte. „Hier ist ein Bettler, der an Heilig Abend erfriert. Und ihr Dummköpfe feiert und überhäuft euch trotz allem Elend mit Geschenken. Mein Geist wird euch heimsuchen, wenn ich diese Nacht nicht überlebe. Hört ihr mich?“
„Wollen sie Geld?“ Fragte sie erneut.
„Ich bin Marley der Weihnachtsmann. An Weihnachten stehle ich Geschenke von den Reichen und bringe sie den Armen. Haben sie Kinder?“ Fragte er freundlich und ganz nebenbei.
„Ja, zwei.“ Die Frau lächelte gezwungen.
„Wollen wohl so ne Box, obwohl sie letztes Jahr ne Nintendo bekommen haben und zum Geburtstag ne Playstation? Kenn mich da aus. Helfen nicht mit und liegen nur faul vorm Fernseher. Kenn ich. Kenn ich.“
Sie seufzte und spürte plötzlich auch ihre Rückenschmerzen. „Es sind zwei sehr liebe Kinder. Mein Sohn schaut zwar manchmal zuviel Fernsehen und ja, er wünscht sich eine xBox, aber die hat er auch verdient. Der Rest geht sie nichts an.“
Er, Marley, der Weihnachtsmann, wie er sich nannte, hustete wieder.
Am nächsten Morgen war er verschwunden. Und als der kleine Frederik sich am Abend voller Freude auf die Geschenke stürzte, da fand sich keine xBox unter dem Christbaum, nur ein altes, schmutziges Buch. Eine Weihnachtsgeschichte von Dickens, welche mit dem Satz beginnt: „Marley war tot."