- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Mazubil (eine Jugendsünde in 8 Akten)
1. Akt - Eine peinliche Unterbrechung -
„Allesamt in den Keller!“, schrie Mikey.
Die Anderen blickten auf. Einige verstört, andere mit einem leichten Grinsen auf den Lippen.
„Ihr müsst sofort in den Keller“, schrie Mikey noch einmal, diesmal noch etwas lauter.
Mr. Hendsom, Johannes, der Vater von Mikey setzte sein Glas mit Rotwein ab. Er war einer von den Grinsern. Zu dieser Gruppe gesellten sich ebenfalls Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, Mikeys Schwester, Nadine Hendsom, und Peter Heidenreich aus Deutschland, ein „über einige Ecken Großneffe“ oder so ähnlich von Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow.
Die anderen, welche diesem geselligen Beisammensein beiwohnten, das Mr. Hendsom auf Grund seiner Versetzung in die „Obere Etage“ arrangiert hatte, konnten sich noch nicht so recht entscheiden, was sie von der Situation halten sollten.
Mikey stand da, in dem großen Türrahmen, der die Türen, die zum Speisesalon führten, umgab, sein Haar klebte ihm auf der Stirn und er zitterte am ganzen Leib.
„Ha ... habt ihr nicht gehört? Ihr müsst sofort alle in den Keller.“ Sein Zittern verstärkte sich zusehends.
Mr. Hendsom nahm die Serviette von seinem Schoß, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie rechts neben seinen Teller.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, räusperte sich und lächelte weiter. Jetzt entschlossen sich auch die übrigen Gäste die Situation doch eher als angenehm hinzunehmen und begannen, sich dem guten Beispiel ihrer Gastgeberin anzuschließen.
Mikey zitterte unterdessen unversehrt weiter. Er öffnete erneut den Mund, um wohl seine Warnung zu wiederholen, brachte aber keinen Ton hervor.
„Mikey“, Mr. Hendsoms ruhige Stimme erfüllte den Raum.
Mikey machte den Mund wieder zu, öffnete ihn erneut und schloss ihn wieder. Seine Augen waren weit aufgerissen auf seinen Vater gerichtet. Wieder öffnete er seinen Mund, doch auch diesmal versagten seine Stimmbänder ihren Dienst, und so wurde der Mund erneut geschlossen. Mikey sah aus, wie ein Fisch, der es vorgezogen hatte, seine behütete Aquariumwelt zu verlassen und über den Rand hinwegspringend, auf dem Teppichboden liegend feststellen musste, dass seine alte Welt doch gar nicht so unangenehm war.
„Mikey“, Mr. Hendsom rückte seinen Stuhl zurück, stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen und begann, immer noch seinen Sohn angrinsend, sich zu erheben.
„Ihr müsst alle in den Keller. Er kommt. Ich habe ihn gehört!“ Mikey hatte seine Stimme wieder gefunden. „Ich habe ihn gehört, ihr müsst mir glauben. Er ist schon ganz nahe!“ Jetzt schrie er fast.
Die Gäste schienen sich zu entschließen, dass die Situation wohl doch nicht so harmlos ist, und ihr Grinsen gefror zu einer Grimasse.
Auch Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, musste sich erneut räuspern, bevor sie ihr Grinsen fortsetzte.
Mr. Hendsom hatte sich inzwischen von seinem Platz erhoben und ging, immer noch lächelnd, langsam auf seinen kurz vor einer Panik stehenden Sohn zu.
Mikey begann wieder mit seinem „Fisch-auf-dem-Teppichboden-Atmen“, und verstärkte sein Zittern um einige Muskelkontraktionen pro Minute.
„Mikey, beruhige dich bitte“, Mr. Hendsom, Johannes hatte das Nervenbündel, welches sein Sohn war erreicht und legte ihm behutsam die Arme auf die Schultern.
Mikey starrte ihn aus irren Augen an.
„D... Daddy, er kommt. Ich habe ihn doch gehört. Ihr müsst alle ...“
„Schhhhh“, Mr. Hendsom legte seinem Sohn den Zeigefinger an die Lippen.
Nun schaltete sich auch Peter Heidenreich aus Deutschland ein: „Mr. Hendsom, kann ich vielleicht behilflich sein?“ Er erhob sich von seinem Stuhl.
Mr. Hendsom wandte sich gerade um, als seine Frau sagte: „Danke Peter, aber bleib’ bitte sitzen. Du weißt ja, es ist gleich wieder vorbei.“
Unentschlossen verharrte er in seiner Bewegung, sah noch einmal zu Mr. Hendsom hinüber, und als dieser auch keine Anstalten unternahm, etwas Gegenteiliges zu sagen, setzte sich Peter Heidenreich aus Deutschland wieder auf seinen angewärmten Platz und lächelte verlegen weiter.
„Ihr sollt alle in den Keller verschwinden, verdammt noch mal!“
Mr. Hendsom zuckte zusammen und drehte sich ruckartig nach seinem jetzt schreienden Sohn um. Die anderen Gäste, welche bereits ihr Grinsen eingestellt hatten, starrten nun gebannt auf Mikey. Und obwohl auch Peter Heidenreich aus Deutschland diese Situation schon einmal erlebt hatte, lief ihm jetzt ein leichter Schauer über den Rücken. ‚Mikey schien es fast ernst zu meinen.’
„Verdammt noch mal, ich hab’ gesagt ...“
KLATSCH! Die Gäste zuckten zusammen. Mikey starrte seinen Vater, der jetzt vor ihm kniete, fast überrascht an. Auf seiner linken Wange entstand ein rotes Mal mit fünf Fingern.
„Mikey“, sagte Mr. Hendsom, Johannes wieder mit ruhiger Stimme. Er fasste seinen Sohn fest mit beiden Händen an die Schultern.
„Mikey, bitte beruhige dich jetzt erst einmal. Niemand kommt, hörst du?! Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe, aber du musst jetzt erst einmal ruhig werden.“
Mikey starrte seinen Vater immer noch unverändert an. Seine Augen wurden glasig.
„Hast du verstanden, Mikey, es kommt niemand.“
„A... aber ich ...“
„Niemand, Mikey, verstehst du? Niemand ist hier im Haus, außer unseren Gästen.“ Er ging ein Stück zur Seite, um Mikey den Blick auf den Tisch zu ermöglichen, von welchem acht nervös grinsende Gesichter auf ihn gerichtet waren.
„Außer deiner Mutter,“ Mr. Hendsom fuhr mit seiner Aufzählung fort, „deiner Schwester“, Nadine Hendsom nickte ihren Bruder an, zwar nicht mit diesem schönen Grinsen wie ihre Mutter, - das schaffte sie nicht, sie hasste ihren kleinen, schmierigen Bruder, der immer versuchte, alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und das meistens auch erreichte - , aber sie gab sich doch redlich Mühe, das musste man eingestehen.
„Mr. Heidenreich“, jetzt deutete Mr. Hendsoms rechte Hand, die noch vor einigen Sekunden seinen Sohn brutal zum Schweigen gebracht hatte, auf Peter Heidenreich aus Deutschland, der nun ebenfalls mit einem überdimensionalen Grinsen Mikey zuwinkte.
„Das sind alle, die sich heute Abend hier im Haus befinden, Mikey. Ach ja und Mrs. McNorth in der Küche und wir beide, Mikey. Mehr sind heute nicht hier und es hat sich auch keine weitere Person angemeldet.“
Mikey starrte abwechselnd von seinem Vater zu dem großen Tisch mit den grinsenden Gesichtern.
„Du siehst also, du kannst gar keinen Anderen gehört haben.“
„G... gut Dad, w... wenn du meinst“, stotterte Mikey, sah seinem Vater in die Augen und schluckte einmal tapfer.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, Nadine Hendsom, Peter Heidenreich aus Deutschland und die übrigen Gäste schluckten ebenfalls tapfer und lehnten sich erleichtert, dass diese doch recht peinliche Situation einen so guten Ausgang genommen hatte, in ihren Stühlen zurück.
Mr. Hendsom hob seine Hand - sein Sohn zuckte kaum merklich zusammen - und streichelte Mikey über sein weiches, strähniges Haar.
„Komm Mikey, ich bring dich jetzt in dein ...“ In diesem Moment wurde die Tür, welche eine direkte Verbindung mit der Küche herstellte, aufgerissen. Jeder der sich im Raum befindlichen Personen zuckte heftig zusammen, selbst der unerschrockene Mr. Hendsom, Johannes.
Mikey riss die Augen auf und schrie. Seine Hände krallten sich in seines Vaters Oberarme und vorne auf seiner hellblauen Schlafanzughose entstand ein dunkler Fleck, der sich rasch über beide Innenseiten seiner Beine ausbreitete, bevor es unten an den Enden begann zu tropfen.
Mrs. McNorth, die Haushälterin stand mit verblüfftem Gesicht, ein Tablett in der rechten Hand, in der Tür und blickte doch ein wenig verstört auf die Gesichter, die sie anstarrten, als sei sie der heilige Geist persönlich.
„Darf ich abräumen, Madam?“, fragte sie in ihrem leichten irischen Akzent.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, fasste sich auf der Stelle wieder, räusperte sich und sagte mit leicht rotem Kopf: „Im Moment bitte nicht, Nelly. Ich sage ihnen dann Bescheid.“
Nelly McNorth nickte höflich, schaute mit einem seltsamen Blick auf Mikey, drehte sich um und verließ den Raum mit etwas weniger Aufsehen, als sie ihn betreten hatte. Die Tür wurde geschlossen.
Jetzt wandten sich die Gesichter wieder dem Vater und dem Sohn zu. Mikey starrte mit weit aufgerissenem Mund, aus dem jedoch, oder vielleicht sogar zum Glück kein Laut mehr drang, zu der jetzt geschlossenen Tür.
Der Griff um, besser gesagt in die Arme seines Vaters hatte sich bedauerlicherweise noch nicht gelockert, und Mr. Hendsom der sich dieses Schmerzes jetzt bewusst wurde, bis die Zähne zusammen.
„Mikey, lass mich bitte los“, er sah seinen Sohn wieder eindringlich an. Dieser wandte sein Gesicht mit dem offenen Mund und sah zu seinem Vater. Er schien erst gar nicht zu reagieren, doch dann war es, als ob er aus einer tiefen Trance erwache, er schloss den Mund ruckartig, löste ebenso ruckartig seinen Griff und blickte schuldbewusst nach unten.
Jetzt sah auch Mr. Hendsom die kleine Pfütze zwischen den Beinen seines Sohnes und er errötete stark.
Auch die anderen anwesenden Personen schienen das Malheur bemerkt zu haben, denn auch ihre Gesichter vertraten die Farbpalette zwischen einem leichten Rosa und einem leuchtenden dunklen Rot.
„Komm Mikey, ich bring dich ins Bad“, Mr. Hendsom fasste seinen Sohn an den Schultern, drehte ihn um und schob ihn vor sich her durch die große Tür. Er drehte sich noch einmal um, lächelte verlegen, schloss dann die beiden Flügel und ließ seine Frau, seine Tochter und die übrigen Gäste mit ihrer Peinlichkeit allein.
2. Akt - Mikeys Träume -
Er lag jetzt in seinem Bett und blickte zur Decke. Sein Vater hatte vor ca. 2 Minuten die Tür geschlossen und ihn mit seiner Angst, die er nicht offen zeigen durfte, alleingelassen.
Er hatte sie warnen wollen, und sie hatten ihn wieder weggeschickt. Als wäre er ein kleines Baby, dass nicht weiß, wovon es spricht. Aber das ist ihm schon seit längerem aufgefallen, seit seinem Unfall vor... er wusste nicht mehr so genau, wie lange es jetzt her war, aber seit diesem Unfall behandelten sie ihn so, als wäre er wirklich ein Baby, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Gut, er konnte sich manchmal schlecht konzentrieren, oder er vergaß einiges ziemlich schnell, aber das hatte Dr. Mangle, oder Mattle oder so ähnlich gesagt, sei nach so einem Unfall völlig normal, und es würde sich mit der Zeit von selber wieder richtig einstellen.
Was Mikey ihm nicht gesagt hatte war, dass er nach dem Unfall sehen konnte.
Er hatte es zuerst selbst nicht so ganz verstanden. Er hatte von Tom, dem Kater der Mellbrings, ihren Nachbarn, geträumt. Tom war zu ihnen in den Garten gekommen, wo Mikey geraden ein neues Steckspiel ausprobierte, bei dem man bestimmte Formen in die passenden Öffnungen stecken musste. Laut Dr. Mangle oder Mattle sollte es ihm helfen, sich besser zu konzentrieren. Es war ein richtiges Spiel für Babys. Mikey schaffte es auch immer in recht kurzer Zeit.
An diesem Tag war also Tom zu ihm in den Garten gekommen, war auf ihn zugegangen und hatte sich vor ihm hingehockt. Mikey wollte ihn gerade streicheln, als Tom anfing zu würgen. Mikey zog seine Hand sofort zurück, gerade noch rechtzeitig, denn Tom begann sich zu übergeben.
Mikey hatte angewidert und doch ein wenig fasziniert hingeschaut.
Nach einer Weile wurde er stutzig, er wusste gar nicht, dass Katzen einen so großen Magen hatten. Tom hörte gar nicht mehr auf, er saß auf den Hinterpfoten, schaute Mikey an und kotzte mit einem seltsamen gurgelnden Laut vor sich hin.
Die Lache hatte mittlerweile die Größe eines normalen Esstellers erreicht, doch schien die Prozedur kein Ende nehmen zu wollen. Langsam wurde es Mikey nun doch etwas unheimlich zumute, doch Tom hörte und hörte nicht auf. Es lief einfach aus ihm heraus, als ob jemand vergessen hätte, einen Wasserhahn zuzudrehen.
Ein säuerlicher Geruch stieg ihm in die Nase, und Mikey wich ein wenig zurück. Der Fleck nahm nun beängstigende Ausmaße an. Und ganz plötzlich hörte Tom auf, doch nur um einmal kräftig zu würgen. Es war wohl nichts mehr drin.
Und dann wurden Mikeys Augen riesengroß. Ruckartig sprang er von seinem Stuhl auf, so dass dieser nach hinten überfiel. Aus Toms Mund schob sich eine lange etwa fingerdicke Wurst. Zumindest dachte Mikey zuerst, dass es sich um eine Wurst handelte, bevor er merkte, dass es Toms eigenen Därme waren.
In diesem Moment war Mikey schreiend aufgewacht und hatte sich sofort in die Hose gemacht.
Das war auch so eine blöde Angewohnheit, die er erst seit dem Unfall hatte. Er hatte seinen Eltern, die sofort in sein Zimmer gestürmt waren, gesagt, er hätte einen Alptraum gehabt, was ja auch stimmte. Sie hatten versucht ihn zu beruhigen und seine Mutter war schon nach einigen Minuten wieder ins Bett gegangen. Sein Vater hatte da mehr Ausdauer. Ihm hatte er auch hinterher erzählt, um was für einen Alptraum es sich gehandelt hatte. Danach hatte ihn sein Vater noch etwas länger getröstet und war schließlich auch wieder ins Bett gegangen.
Er hätte ihn liebend gerne gefragt, ob er nicht mit in das Bett seiner Eltern kommen könne, - dort hatte er komischerweise nie Alpträume, dass wusste er noch von früher - aber er musste ja noch ins Bad und sich eine neue Schlafanzughose anziehen.
Na ja, auf jeden Fall war Tom dann zwei oder drei Tage später gestorben. „Er hatte wohl irgendeine Mageninfektion“, hatte seine Mutter beim Abendbrot gesagt, sie wusste es von Mrs. McNorth, und die wiederum wusste es von Mrs. Berry, der Haushälterin der Mellbrings.
„Er hätte sich tagelang nur übergeben, der arme Kerl“, auch das hatte ihr Mrs. McNorth erzählt. Mikey war aufgestanden, zum Klo gerannt und hatte es dem armen Tom nachgemacht, na ja, nicht ganz so schlimm.
Draußen donnerte es leise und Mikey sah zum Fenster. Bald würde es ein Gewitter geben. Und bald würde ER kommen!
Mikey hatte ja versucht, sie zu warnen. Jetzt saßen sie unten an dem großen Tisch und aßen und tranken ohne sich über irgendetwas oder irgendwen Sorgen zu machen. Doch ER würde kommen, dass war so sicher, wie die Tatsache, dass heute Nacht ein Gewitter kommen würde.
Wie zur Bestätigung donnerte es erneut, aber immer noch zu leise, um sich zu fürchten. Mikey blickte wieder zur Decke.
Eine Woche nach dem Tod von Kater Tom, träumte er von dem alten Mr. Hikkock. Meine Güte was war der alt. Er hatte soviel Furchen in seinem Gesicht, dass man meinen konnte, ein Riese hätte seinen Kopf mit einem Blatt Papier verwechselt und ihn zusammen geknuddelt, um ihn in den Papierkorb zu werfen. Aber die Furchen kamen daher, dass Mr. Hikkock jeden Tag draußen war, ob nun die Sonne schien oder ob es so kalt war, dass einem der Schleim in der Nase gefror, das hatte auch seine Mutter gesagt.
Er hatte also von diesem alten Mr. Hikkock geträumt. Mikey hatte wieder im Garten gesessen, doch diesmal hatte er nur so dagesessen und vor sich hingedöst.
Auf einmal schrie jemand: „Mikey! Hey Mikey“, und riss ihn aus seinen Tagträumen. Er blickte sich um und sah hinter dem Gartenzaun, vor dem die Rosenbüsche seiner Mutter blühten, - im Traum blühten dort schwarze Rosen - den alten Mr. Hikkock stehen. Er hatte eine seiner alten Hände gehoben und winkte Mikey zu, er möge doch einmal herkommen.
Mikey stand auf und wollte der Aufforderung Folge leisten, denn Mr. Hikkock hatte oft eine Kleinigkeit für „seine Kinder“, wie er immer zu sagen pflegte, und seine Eltern hatten es gestattet, dass er von Mr. Hikkock etwas annehmen durfte, obwohl sie sonst in dieser Beziehung sehr streng waren.
Mr. Hikkock stand immer noch hinter dem weißen Zaun, winkte und entblößte seinen zahnlosen Mund. Wenn er lachte, sah es immer so aus, als blicke man in eine riesige schwarze Höhle. Mikey ging also auf ihn zu. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass der Weg weiter zu sein schien als erwartet. Mikey ging und ging, und Mr. Hikkock winkte und grinste und kam nicht näher.
Inzwischen waren die Rosen allesamt verdorrt und hingen nur noch leblos an der Halterung, die der Gärtner extra für sie angefertigt hatte.
„Warte Mikey“, rief jetzt Mr. Hikkock, „das dauert mir bei dir zu lange, ich komme zu dir. Sonst bin ich, bis du hier bist noch genauso verdorrt, wie eure Rosen.“ Er lachte gackernd. Und dann tat er etwas, was Mikey nie für möglich gehalten hätte. Mr. Hikkock kletterte über den Zaun, wie es ein 9jähriger Junge nicht besser gekonnt hätte.
Die Rosen waren mittlerweile alle zu Staub zerfallen, und die leeren Halterungen ragten gespenstisch aus dem Zaun.
Mr. Hikkock stand jetzt auf dieser Seite des Zaunes, dort wo früher prächtige Rosen blühten. Er sah wieder zu Mikey herüber, öffnete die schwarze Höhle zu einem erneuten Grinsen, hob die Hand, um vielleicht zu zeigen, dass er jetzt hier stand und kam auf Mikey zu.
Mikey blieb stehen, denn plötzlich überkam ihn ein komisches Gefühl. Es entstand in der Magengegend und drückte seine Gedärme zusammen.
„Hallo Mikey, warte, ich will dir was zeigen.“ Mr. Hikkock war jetzt noch etwa 20 Fuß von ihm entfernt.
Das seltsame Gefühl wurde immer stärker und verlagerte jetzt auch den Druck auf seine Blase, die bis zum Rand gefüllt war. Mikey drehte den Kopf und sah das Haus seiner Eltern. Es war gar nicht mal so weit entfernt. Wenn er jetzt losrennen würde, könnte er es noch rechtzeitig bis zur Toilette schaffen, aber Mr. Hikkock wollte ihm doch etwas wichtiges zeigen, er war dafür doch extra über den Zaun geklettert, nein das war falsch, er war über den Zaun gesprungen.
„Mikey.“ Die Stimme war leise und drohend. Mikey riss den Kopf herum und da stand er, direkt vor ihm und die riesige schwarze Höhle schien ihn verschlingen zu wollen. Mikey wollte schreien, doch seine Stimmbänder schienen eingefroren zu sein.
„Mikey, sieh doch mal, was ich dir zeigen will.“ Mikey wollte die Augen zukneifen, doch irgendwie schien er keine Lider mehr zu haben oder aber er konnte zumindest durch sie hindurch sehen, denn das Bild von dem zerfurchten Gesicht mit der gähnenden schwarzen Öffnung blieb ihm in seiner ganzen Schönheit erhalten.
„Schau genau hin, Mikey!“
„Bitte Mr. Hikkock, bitte, ich möchte es gar nicht se...“ Mr. Hikkock wandte sein zerfurchtes Gesicht ab, die Höhle wurde geschlossen. Mikey dachte zuerst er wäre beleidigt und würde jetzt gehen und er wollte gerade schon sagen, dass es ihm leid täte, er wolle natürlich sehen, was er ihm zeigen wollte, als er stutzte.
Mr. Hikkock hatte jetzt seinen Kopf zur Seite gedreht, Mikey sah sein rechtes Ohr und die pulsierende Halsschlagader unter der alten faltigen Haut, doch die Bewegung stoppte nicht. Ein leises Knirschen war zu hören und noch immer drehte Mr. Hikkock seinen Kopf weiter. Das Knirschen verwandelte sich in ein etwas lauteres Knacken. Obwohl Mr. Hikkock mit der Brust und den Zehenspitzen Richtung Mikey stand, sah dieser jetzt seinen Hinterkopf, aus dem noch die letzten Haare hervorspriesten. Die Haut an seinem Hals hatte Ähnlichkeit mit einem Fensterleder, welches gerade ausgewrungen wurde.
Ein lautes Krachen, ähnlich dem von brechenden Holz, ließ Mikey zusammenzucken. Mr. Hikkocks Gesicht kam jetzt auf der anderen Seite wieder zum Vorschein.
„Na Mikey, was hältst du davon?“ Seine Stimme war nur noch ein Krächzen. Kein Wunder, die Stimmbänder mussten ja genauso verdreht sein, wie der Hals. Jetzt sah Mikey das linke Ohr genau vor sich. Mr. Hikkock hatte seine Augen so verdreht, dass er Mikey von der Seite her ansehen konnte.
Mikey musste immerzu auf dieses „gewrungene Leder“ starren. Wie dehnbar doch Haut sein kann, dachte er. Und dann vernahm Mikey ein Geräusch, als würde ein Stück Leukoplast von der Rolle abgezogen und augenblicklich spritzte ihm eine heiße, stinkende Flüssigkeit ins Gesicht und in die Augen und raubte ihm somit die Sicht.
Er hörte nur noch, wie Mr. Hikkock ein lautes Gurgeln, das sich anhörte, als würde er versuchen unter Wasser zu lachen, ausstieß. Dann wurde er wieder durch seinen eigenen Schrei erlöst.
Langer Rede, kurzer Sinn, vier Tage später wurde Mr. Hikkock in seiner Wohnung aufgefunden. Er hatte sich an einem Dachbalken erhängt und war durch die offene Dachluke gesprungen.
„Er wollte vermutlich ganz sicher gehen, dass die Sache auf jeden Fall klappt und hat deshalb ein etwas längeres Seil genommen.“ Mikey hatte heimlich gelauscht, als sich sein Vater mit Mr. Mellbrings über die Sache unterhalten hatte. „Er ist erst vier Meter gefallen, bevor sich das Seil spannte. Als ihn Mrs. Bellamy, die einmal in der Woche bei ihm putzt, fand, hing nur noch der Kopf in der Schlinge, der Körper lag auf dem Boden.“
Von diesem Traum hatte Mikey seinem Vater nichts erzählt. Er hätte ihm sowieso nicht geglaubt.
Mikey hatte IHN während seines Komas schon einmal gesehen. Er konnte sich nicht mehr an sein Aussehen erinnern, aber er wusste, dass es das Schlimmste war, was er je in seinem kurzen Leben gesehen hatte.
Er hatte ihm direkt gegenübergestanden, und Mikey hatte nur noch geschrieen.
Wieder donnerte es, diesmal schon etwas lauter, aber bis jetzt hatte Mikey noch keinen Blitz gesehen. Der Donner war auch mehr ein fernes Grollen. Doch würde es trotzdem nicht mehr lange dauern, bis ER kam. Mikey hatte schon einmal das Gefühl gehabt, das ER gekommen wäre, auch damals, es war vor etwa drei Wochen, hatte er seine Eltern gewarnt. Doch es war nichts passiert, niemand war gekommen. Kein Wunder, dass sie ihm jetzt nicht mehr glaubten.
Auch damals hatte er wieder geträumt, aber nur ganz kurz. Er wollte sich noch etwas zum Trinken aus der Küche holen. Er ging also die lange Treppe hinunter und am Wohnzimmer vorbei, Richtung Küche. Die Wohnzimmertür war geschlossen und er blieb stehen.
Aus dem Wohnzimmer war kein Laut zu hören, obwohl seine Eltern doch Besuch hatten. Außerdem schien auch noch Licht unter der großen Flügeltür hindurch.
Er ging zur Tür und legte sein Ohr daran, - wenn sein Vater jetzt die Tür aufmachen würde, bekäme er rechts und links einen Schlag ins Gesicht; sein Vater hasste nichts so sehr, als wenn jemand einem anderen hinterher schnüffelte.
Draußen zuckte ein Blitz.
Mikey lauschte.
Nichts!
Er bückte sich ein bisschen und guckte durchs Schlüsselloch. Doch auch hier sah er nichts als das große Fenster am anderen Ende des Raumes. Irgendwie wusste er, dass er sich in einem Traum befand, und so machte er die rechte Hälfte der Tür auf. Seine Eltern, seine Schwester und einige Gäste lagen wild im Raum verstreut. Wirklich verstreut. Jemand musste mit einer Axt oder etwas Ähnlichem gewütet haben.
Seine Gewissheit, dass es sich hier nur um einen Traum handeln konnte, verschwand mit einem Schlag, denn er wachte nicht auf, was ihm sonst immer in solchen Situationen passierte. Wieder spaltete ein Blitz die Nacht.
Und dann hörte er das Atmen. Es kam von einem der Vorhänge. Jetzt stellte Mikey auch fest, dass der linke Vorhang des zweiten Fensters keine Falten mehr warf, er war sogar ein wenig ausgebeult.
Mikey starrte wie gebannt auf diesen Vorhang, hinter welchem das regelmäßige schwere Atmen zu hören war. Langsam kroch eine Panik in ihm hoch, denn er wusste, er könnte ruhig schreien. Er war allein. Allein mit IHM.
Und dann begann sich der Vorhang ein wenig zu bewegen und an der Seite tauchten Fingerkuppen auf, die sich zu einer schorfigen Hand formten. Langsam schob sich der Vorhang zur Seite.
Erst jetzt wachte Mikey mit einem großen, feuchten Fleck zwischen den Beinen auf.
Ihm schauderte als er an diesen Traum dachte. Damals war nichts passiert, drei Wochen lang nicht. ER hatte gewartet. Doch heute würde ER kommen, heute wusste ER, dass man dem kleinen Trottel, der nach seinem Unfall sowieso nicht mehr für voll genommen wurde, kein Wort glauben würde. Heute wusste ER, dass er leichtes Spiel haben würde.
Mikey hatte sein Atmen gehört, kurz bevor er vorhin heruntergelaufen war, um sie zu warnen. Er wusste nicht genau, woher es kam, aber es war hier im Zimmer. Mikey hatte von seinem Vater verlangt, als dieser ihn vorhin hochgebracht hatte, dass er in sämtlichen Ecken nachsehen solle.
Mit leicht amüsiertem Gesicht hatte sein Vater gefragt, ob er nicht dafür schon ein bisschen zu alt sei. „Hm Mikey, wie alt bist du? Vier oder neun?“
Doch er hatte es dann doch gemacht, zwar nicht besonders gründlich aber immerhin.
Doch Mikey wusste sowieso, dass ER nicht mehr hier im Zimmer war. Nachdem sie, er und sein Vater, vom Bad kamen und die Treppe hinaufgingen, überkam ihm mal wieder dieses Durstgefühl. „Dad, ich würde gern noch etwas trinken“, hatte er gesagt.
„Okay, dann geh’ in die Küche und lass dir von Mrs. McNorth einen Schluck Milch geben. Ich werde hier auf dich warten.“
Mikey wollte zuerst protestieren, doch als sich sein Vater auf die Stufen setzte, und es auch nicht so aussah, als ob er Mikey begleiten wollte, hatte er sich umgedreht und war Richtung Küche gelaufen. „Und beeil’ dich bitte. Du weißt, wir haben Gäste“, hatte sein Vater hinterher gerufen.
Mikey war zur Küche gerannt, hatte die Tür aufgerissen und gerufen: „Nelly, kannst du ...“ Doch die Küche war leer.
Nun ja, sie räumte vermutlich gerade den Tisch im Esszimmer ab. Also ging er selbst zum Kühlschrank. Er öffnete ihn, und dann viel sein Blick auf die Messerhalterung. Alle Messer waren noch vorhanden, doch wo war das kleine Beil, welches Nelly immer zum Zerhacken von Koteletts am Stück nahm? Mikey sah sich um.
Vielleicht in der Spüle.
Langsam ging er auf die Selbige zu. Er würde nicht zu nahe herangehen, wer weiß, was einem da alles entgegenspringen kann. Er machte einen langen Hals und lugte hinein, doch er wusste ja vorher schon, was er sehen würde. Nichts!
Er ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Alles lag ordentlich an seinem Platz. Nelly spülte sofort und packte auch alles sofort wieder dahin, wohin es gehörte. Sie hatte mal gesagt, an der Küche erkenne man die Hausfrau, und hatte ein wenig gegrinst.
Aber das Beil blieb verschwunden.
„Mikey? Du sollst Mrs. McNorth nicht von der Arbeit abhalten. Nimm’ dein Glas mit“, rief sein Vater vom Flur aus. Er schien nervös zu werden. Er hatte auch allen Grund dazu.
Auf den Treppenstufen hatte Mikey noch einmal versucht, seinen Vater doch noch zu überzeugen, doch er hatte nur in seiner leisen, aber doch irgendwie bedrohlich klingenden Stimme gesagt: „Mikey, bitte, tu mir einen Gefallen ...“, und Mikey hatte es vorgezogen, es dabei zu belassen. Vielleicht würde ihm später noch eine Möglichkeit einfallen.
Jetzt lag er hier in seinem Bett und hätte heulen können, weil er nicht wusste, wie diese Möglichkeit aussehen könnte. Aber was konnte er ihnen auch noch erzählen? Es klingt ja wirklich etwas seltsam: da kommt jemand, der bei euch mit einem Gegenstand, welcher dazu gänzlich ungeeignet ist, versucht, Chirurg zu spielen. Ich habe es geträumt.
Mikey wusste ja nicht einmal wer ER war oder wie ER aussah. Er wusste nur zwei Dinge: Dieser Jemand war keine Frau, - er konnte nicht erklären, wie er darauf kam, aber er wusste es eben, vielleicht, weil neunjährige Kinder noch nicht so sehr mit der Logik vertraut sind - , und ebenso wusste er, dass dieser Jemand böse war. Verdammt böse.
Und dann hörte Mikey wieder das Atmen.
3. Akt - Mrs. McNorth nimmt sich frei -
Mr. Hendsom musste wieder an seinen Sohn denken. Seit er Mikey vor etwa zwanzig Minuten ins Bett gebracht hatte, wurde er diesen unangenehmen Druck in der Magengegend, der besagte, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht mehr los.
Mikeys Angst hatte diesmal echt geklungen, er hatte sich sogar in die Hose gemacht. Das hatte Mikey ja noch nie gemacht, na ja, außer natürlich als er ein kleines Kind war.
Aber Mikey war jetzt immerhin schon neun, da tut man so etwas doch nicht mehr. Allerdings seit dem Unfall vor zwei Jahren hatte sich einiges verändert.
„Schatz, soll ich Mrs. McNorth Bescheid sagen, dass sie jetzt den Tisch abräumen kann?“, seine Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, saß am anderen Kopfende des langen Tisches und sah ihn erwartungsvoll an. Auch die anderen Gäste unterbrachen für einen kurzen Moment ihre Gespräche, der Höflichkeit wegen, und warteten, dass ihr Gastgeber seine Zustimmung zu dem Vorschlag seiner Frau kundtun würde.
„Aber bitte, Liebling, wenn keiner unserer Gäste noch einen Nachschlag wünscht.“ Er lachte gezwungen und die Übrigen taten es ihm gleich, ganz besonders laut Peter Heidenreich aus Deutschland.
Mr. Hendsom mochte diesen Schönling nicht besonders. Um ganz ehrlich zu sein, mochte er ihn überhaupt nicht. Wie er seiner Frau gegenüber immer auftrat, mit diesem adretten Lächeln, den hochgezogenen Brauen, wenn er einen angrinste, den weißen Zähnen - es war bestimmt ein Gebiss, so weiß konnten echte Zähne gar nicht sein - und den exzellent manikürten Fingernägeln. Nein, er mochte ihn wahrhaftig nicht.
Seine Frau schien sich dadurch sehr geschmeichelt zu fühlen. Widerlich! Und dann duzten sie sich auch noch, aber das konnte er gerade noch akzeptieren, sie waren ja praktisch miteinander verwandt.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow stand jetzt auf, um in die Küche zu gehen. Gleichzeitig erhob sich auch Peter Heidenreich aus Deutschland und sagte in diesem schmierigen Ton: „Lass’ nur Johanna, ich übernehme das schon. Schone du lieber deine zarten Beine“, er lächelte sie charmant an.
„Danke Peter, aber das ist doch nicht nötig.“ Sie hielt aber trotzdem in der Bewegung inne.
„Ich weiß, aber lass es mich trotzdem machen, es sei denn“, jetzt wandte er sich Mr. Hendsom zu und zeigte diesem sein strahlendes Gebiss, „dein Mann hat etwas dagegen, dass ich dir ein wenig zur Hand gehe.“ Er lachte seinen Gastgeber an und auch die übrigen Gäste lachten.
Ein wahrhaft charmanter junger Mann.
„Ich bitte Sie, Peter. Solange es bei der Hilfe im Haushalt bleibt“, jetzt lächelte Mr. Hendsom, und auch die Anderen fanden, dass es gelungen gekontert war und lachten laut auf.
„Das kann und will ich aber nicht versprechen, Mr. Hendsom. Sie sollten gut auf ihre Frau aufpassen.“
Der war ja noch besser und das Lachen hielt an. ‚Das werde ich, du kleiner Schleimscheißer, das werde ich’, dachte Mr. Hendsom, und lächelte den ach so geliebten Vetter seiner Frau an.
Peter Heidenreich aus Deutschland ging jetzt auf die Tür, welche die Küche vom Speisezimmer trennte zu und hatte gleich darauf den Raum verlassen, und Mr. Hendsom verspürte Erleichterung, von seinem Anblick für kurze Zeit verschont zu bleiben.
Draußen wurde der Garten für einen kurzen Augenblick hell erleuchtet. Gleich darauf folgte der Donner, noch nicht all zu laut aber auch nicht so, dass man sagen konnte, das Gewitter würde vorbeiziehen.
„Hatte der Wetterbericht nicht gesagt, es würde eine sternenklare Nacht geben?“ Mrs. Fletcher blickte fragend in die Runde. Sie war die Frau von Mr. Henry Fletcher, einem guten Arbeitskollegen von Mr. Hendsom.
Jetzt wandte sich Mr. Fletcher seiner Frau zu: „Du weißt doch, Schatz, du darfst nicht alles glauben, was der Onkel im Fernseher sagt.“ Und damit hatte er das Gelächter auf seiner Seite.
Mr. Hendsom war zufrieden, niemand dachte wohl noch an die etwas peinliche Situation von vorhin. Wenn Mikey jetzt bloß nicht noch einmal auftauchte.
Die kleine Küchentür wurde geöffnet und Peter Heidenreichs Kopf kam zum Vorschein. Mr. Hendsom verzog die Mundwinkel, seine Frau hatte das zum Glück nicht gesehen, denn sie blickte erwartungsvoll auf ihren geliebten Neffen, oder Vetter, oder was auch immer.
„Entschuldigt bitte, aber in der Küche ist niemand.“ Peter Heidenreich aus Deutschland guckte ein wenig verlegen. „Kann es sein, dass sich eure Haushälterin frei genommen hat?“
Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende, lachte laut auf.
„Ich glaube fast, wir müssen unsere Sachen selber spülen“, rief er und war über seinen Witz so erfreut, dass er sich die Schenkel schlug.
Auch Mrs. Fletcher fiel jetzt ein: „Ach“, sagte sie in einem seufzenden Ton, den Kopf etwas zur Seite gelegt, als würde augenblicklich eine Arie anstimmen, „ich habe bestimmt seit zehn Jahren keine Spüle mehr aus der Nähe gesehen, ich weiß gar nicht mehr, wie so etwas geht.“
„Bei Ihnen muss wohl auch immer der Mann die Schürze tragen, stimmt’s?“ Jetzt hatte sich Maximilian Buck zu Wort gemeldet und bekam gleich darauf von seiner Frau, die rechts neben ihm saß, einen leichten Klaps gegen die Schulter. Die Anderen lachten.
Nur Mr. Hendsom und seine Frau sahen sich etwas verwirrt an.
„Nun“, sagte Mr. Hendsom und erhob sich von seinem Stuhl, „ich glaube, dann muss ich das wohl mal in die Hand nehmen.“
„Aber feuern Sie sie erst, nachdem sie hier abgeräumt hat“, rief Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende, und wieder wurde fleißig gelacht.
Mr. Hendsom ging auf die Küchentür zu, aus der Peter Heidenreich immer noch seinen Kopf streckte. Er drückte sie auf, Peter wich ein bisschen zurück, und blickte in die tadellos aufgeräumte Küche.
„Sieht wirklich so aus, als hätte sie sich frei genommen“, sagte Peter Heidenreich zu Mr. Hendsom, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Dieser blickte zurück und sah seinen speziellen Freund strafend an. Peter Heidenreich blickte schuldbewusst zu Boden.
Auf dem Tisch stand ein halbvolles Milchglas. Vermutlich das, aus dem sein Sohn vorhin getrunken hatte, dachte Mr. Hendsom.
„Mrs. McNorth?“ Er rief laut, wusste jedoch sofort, dass er keine Antwort bekommen würde.
„Mrs. McNorth!“ Er versuchte es trotzdem noch einmal, diesmal noch etwas lauter. Wieder keine Resonanz.
„Vielleicht ist sie oben bei Mikey, Mr. Hendsom?!“ Peter sah ihn ein wenig verschüchtert an.
„Ja, da könnten Sie Recht haben, Peter. Ich werde mal hinauf gehen und nachsehen.“
„Soll ich sie begleiten?“
„Danke, Peter, aber ich glaube, das ist nicht nö...“, Mr. Hendsom starrte auf die hintere Küchenwand. Die Wand, wo die Reihe von verschiedenen Messern hing. Die Wand, wo eigentlich auch das kleine Beil hängen sollte, welches er auf Drängen von Mrs. McNorth unbedingt besorgen musste.
Normalerweise wäre ihm nie aufgefallen, wenn irgendein Gegenstand aus der Küche gefehlt hätte, aber gerade dieses Beil, er hatte damals, vor etwa vier Wochen, extra eine zusätzliche Halterung anbringen müssen. Und jetzt war diese Halterung leer.
Und Mrs. McNorth war verschwunden, sehr wahrscheinlich bei seinem Sohn, wie Peter gerade bemerkte. Ihm kam ein fürchterlicher Gedanke.
Sie hatten Mrs. McNorth vor sechs Wochen eingestellt. Mrs. Sander, die frühere Haushälterin hatte gekündigt, weil ihr alter Vater bettlägerig geworden war und sie ihn pflegen musste.
Mrs. McNorth!
Er hatte von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt. Sie hatte so einen seltsamen abwesenden Blick, ganz besonders, wenn sie Mikey anschaute, aber sie hatte sehr gute Referenzen. Außerdem war es auch nur ihm aufgefallen, Johanna war von ihr begeistert.
Und dann Mikeys Angst. Er hatte vor irgendjemandem Angst. Vor irgendjemandem, der ihnen allen etwas antun wollte. Hatte Mikey gesagt was? Er konnte sich nicht erinnern, aber es war bestimmt nichts Gutes.
Wann war Mikey zum ersten Mal damit angekommen? Vor etwa vier Wochen? Nein, es war bestimmt schon länger her. Oder?
Und heute Abend war es ganz besonders schlimm gewesen. Er hatte sich vor Angst sogar in die Hose gemacht. Und zwar in dem Moment, als die Tür aufging und Mrs. McNorth eintrat. Ob er irgendetwas über sie gewusst oder geahnt und sich nur nicht getraut hatte darüber zu reden?
Die leere Wandhalterung schien immer größer zu werden.
„Oh mein Gott“, murmelte er leise, wie in Trance. Und jetzt war sie mit dem Beil bei seinem Sohn.
Ihn traf eine plötzliche Hitzewelle und Schweiß trat ihm augenblicklich auf die Stirn. Er musste schlucken, doch irgendetwas versperrte seine Kehle.
„Oh mein Gott“, krächzte er noch einmal.
„Mr. Hendsom, ist irgendetwas mit ihnen nicht in Ordnung?“, fragte Peter Heidenreich, dem die plötzlich beängstigende Blässe seines Gegenübers beunruhigte.
Draußen donnerte es wieder. Sehr viel lauter als die letzten Male. Peter Heidenreich zuckte zusammen. Jetzt stolperte Mr. Hendsom mit äußerst unsicheren Schritten auf die Tür zu, welche von der Küche zum Korridor führte.
„Kommen sie Peter, beeilen sie sich.“ Und Peter Heidenreich aus Deutschland beeilte sich.
4. Akt - Mikey hat Angst -
Das Atmen war jetzt verstummt. Als es angefangen hatte, hatte Mikeys Blase sofort wieder den Dienst versagt. Er hatte es aber erst gemerkt, nachdem er dieses mittlerweile bekannte feuchte Gefühl zwischen seinen Beinen gespürt hatte.
Er wollte schreien, doch so wie in seinen Träumen schien auch jetzt seine Kehle mit irgendetwas ausgekleistert zu sein.
Das Atmen war tief und gleichmäßig gewesen. Mikey wusste nicht genau, von wo es gekommen war; es war zu dunkel, um etwas zu sehen.
Sein Bett stand mit dem Kopfteil an der Wand. Mikey blickte zum Fußende. Er konnte leichte Umrisse der Bettpfosten und seiner Füße sehen. Seiner Füße? Er winkelte ruckartig seine Beine an und die Füße verschwanden unter der Bettdecke.
In diesem Moment berührte ihn eine kalte Hand direkt an seinem Bauch. Jetzt konnte er doch schreien, aber nicht sonderlich laut. Er stemmte die Arme in die Kissen und drückte sich bis ans Kopfende. Dort saß er jetzt und wartete wimmernd, mit zugekniffenen Augen darauf, dass er gefressen würde.
Doch es geschah nichts. Die Hand verharrte immer noch auf seinem Bauch und wurde langsam wärmer.
Mikey atmete ganz flach, ohne den Bauch zu bewegen. Sein Herz hingegen hämmerte wie wild. Doch nicht mehr lange, wusste er, dann würde die Hand sich heben und es sowieso herausreißen.
Mikey stellte sein Wimmern ein und öffnete vorsichtig ein Auge.
Der Sicherungsstecker, welchen seine Mutter immer noch in die Steckdose hinter der rechten Nachtkonsole steckte, damit er nicht aus Versehen mit den Fingern hineinfasste, sendete sein gespenstisch grünes Licht aus.
Mikey konnte das Ende seines Bettes erkennen, die zerknubbelte Bettdecke, die ihm jetzt, wo er saß, bis zum Bauch reichte.
Doch da war niemand. Auch keine weiße, kalte Totenhand mehr, die nur darauf wartete, ihm den Bauch aufzuschlitzen, so dass seine Därme daraus hervorquollen, wie aus Kater Toms’ Mund in seinem Traum.
Vorsichtig hob er die Decke an. Er tastete mit der rechten Hand nach seinem Bauch und griff auf seine nasse Hose, die ein bisschen zu hoch gerutscht war. Das war es also! Er stieß erleichtert die Luft aus und biss sich sofort auf die Unterlippe. Er verharrte. Wo war das Atmen?
Er hielt die Luft an, doch auch jetzt war nichts mehr zu hören. Mikey starrte auf die Wand ihm gegenüber. Dort stand sein Kleiderschrank, davor ein Stuhl mit seinen Anziehsachen über der Lehne. Er konnte zwar nur dunkle Umrisse erkennen, doch er hatte sein Zimmer ja schon des Öfteren bei Tageslicht gesehen.
Von ihm aus gesehen, links neben dem Schrank befand sich seine Rumpelecke, wie sie seine Mutter immer schimpfte. Sein Vater hatte mit Hilfe einer gebogenen Duschstange einen Vorhang darum gebaut. Doch auch den konnte Mikey mehr erahnen als sehen.
Er musste feststellen, dass es hier eine Menge Verstecke gab und die Angst kroch erneut in ihm hoch. Wo war ER jetzt? Vielleicht hatte ER auch schon längst das Zimmer verlassen.
Doch irgendwie spürte Mikey, dass dieses nicht der Fall war. Er war noch irgendwo hier und verhielt sich nur ruhig.
Mikey begann zu weinen, aber nur ganz leise. Es war mehr ein Wimmern. Jetzt bekam er auch noch seine Kopfschmerzen über dem linken Ohr. Das war wohl die Stelle, die er sich bei dem Unfall verletzt hatte.
In diesem Moment zuckte draußen ein Blitz, und das Zimmer war für den Bruchteil einer Sekunde hell erleuchtet. Und da erkannte Mikey, dass die Schranktür einen Spalt breit offen stand.
Er wusste genau, dass sein Vater, nachdem er vorhin das Zimmer durchsucht hatte, beide Schranktüren fest verschlossen hatte. Jetzt krachte der Donner hernieder, und Mikey dachte für einen Augenblick, es handelte sich um die Schranktür, die von IHM weit aufgestoßen wurde und gegen die Wand knallte. Er fuhr zusammen, und hätte sich seine Blase nicht schon vorhin entleert, so wäre das bestimmt jetzt der Fall gewesen.
Von der Helligkeit des Blitzes geblendet, war das Zimmer nun stockfinster und es dauerte eine Weile, bis sich Mikeys Augen wieder an das Dämmerlicht der Steckdosenlampe gewöhnt hatten. Er drückte die Augen fest zu, damit dieses schneller passierte und als er sie wieder öffnete, erstrahlte das Zimmer wieder in seinem gespenstisch grünen Licht.
Die Schranktür war immer noch ein Stückchen geöffnet. Mikey lauschte. Kam da nicht ein leises Rascheln aus dem Innern des dunklen Schrankes?
Der Kloß in seinem Hals wurde immer dicker und wieder flossen ihm Tränen der Angst über die Wangen.
‚Beruhige dich, es ist doch alles nur Einbildung’, versuchte er sich einzureden, doch es schien ihm nicht so ganz zu gelingen. Er blickte zum Vorhang der Rumpelecke und musste unwillkürlich an seinem Traum denken: Er stand in der Tür zum Speisezimmer, in welchem zerhackte Körperteile herumlagen und blickte auf den Vorhang, hinter dem sich deutlich eine Gestalt abzeichnete. Und dann tauchte die Hand auf und schob den Vorhang beiseite.
Er war zum Glück sofort aufgewacht. Warum konnte ihm das nicht jetzt auch passieren? Aber dieses war kein Traum mehr, auch wenn er es sich noch so stark wünschte. Er würde nicht gleich mit nasser Hose aufwachen, seine Eltern würden nicht kommen und ihn trösten, sein Vater würde nicht in den Ecken nach irgendwelchen Monstern oder verrückten Mördern suchen, nein, diesmal war der verrückte Mörder hier. Hier in seinem Zimmer. Hier mit ihm allein. Und er würde ihn umbringen, dass wusste Mikey, obwohl er davon nicht geträumt hatte. Diesmal hatte er seinen Traum falsch gedeutet. Nicht seine Eltern und deren Gäste waren in Gefahr, er selber war der Auserwählte.
Mikey zog die Bettdecke bis ans Kinn und starrte abwechselnd vom Schrank zum Vorhang. Warum hatte er denn keine Taschenlampe, verdammt noch mal?!
Der Vorhang stand ein wenig ab. Mikey schluckte und der dicke Kloß in seinem Hals breitete sich noch weiter aus, und er hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu ersticken.
Gleich würde die Hand auftauchen und den Vorhang beiseite schieben. Er würde das Quietschen der Halterungen über die gebogene Duschstange hören. Dann würde er einen Herzinfarkt bekommen und sofort sterben. Er würde nicht mehr mitbekommen, was er mit ihm machen würde.
Draußen blitzte es erneut und Mikey musste voller Grauen feststellen, dass der Vorhang wirklich ein bisschen abstand.
Als der Donner grollte, lag das Zimmer wieder in völliger Dunkelheit. Mikey merkte, dass sich seine Blase wieder füllte und ein leichter Druck aus seinem Unterleib warnte ihn davor, sich noch einmal zu erschrecken.
Er hörte gedämpftes Gelächter aus dem unteren Stockwerk. Seine Eltern amüsierten sich, während ihr einziger Sohn gleich hingemetzelt würde.
Er musste irgendetwas unternehmen, zum Beispiel irgendetwas gegen den Vorhang schmeißen und dann versuchen, so schnell wie möglich die Tür zu erreichen.
Aber was sollte er nehmen? Er blickte nach rechts und links, doch seine Nachtkonsolen waren tadellos aufgeräumt. Nelly und ihre pingelige Ordnung.
Aber er hatte trotzdem etwas. Seine Pantoffel! Sie standen rechts neben dem Bett, er brauchte sich nur herunter zu beugen, nach ihnen greifen und sie in Richtung Vorhang werfen. Dann würde er die Beine in die Hand nehmen und zur Tür rennen.
Er blickte zu der Selbigen. Sie befand sich zwischen der rechten Wand und der Wand, an der der Kleiderschrank mit seinem fürchterlichen Inhalt stand. Es waren vielleicht vier Meter, die er zurücklegen musste, dann würde er die Tür aufreißen und schreiend auf den Flur hinaus zu seinen Eltern laufen. Genau!
Er wollte gerade nach seinen Pantoffeln greifen, als ihm ein furchtbarer Gedanke kam. Was, wenn ER unter dem Bett lag?
Mikey blickt wieder zum Vorhang. Er war eindeutig ausgebeult, das konnte er auch bei dieser Dunkelheit erkennen, also, nichts wie ran an die Pantoffel.
Er beugte sich hinunter und streckte seine Hand aus. In Gedanken sah er eine riesige weiße Hand unter dem Bett hervorschießen und er spürte förmlich ihre Kälte, als sie sein Handgelenk umklammerte. Instinktiv zog er seine Hand zurück.
‚Mensch Mikey, mach dich jetzt nicht noch verrückter, als du eh schon bist’, dachte er eindringlich, und langsam schob er die Hand wieder nach unten.
Er berührte mit den Fingerspitzen den Fußboden und beugte sich etwas weiter vor. Er tastete weiter. Wo waren die Pantoffel? Bestimmt weiter unten, doch dazu musste er sich weiter über den Bettrand hinauslehnen.
Draußen begann es jetzt zu regnen und ein leises Rauschen drang an seine Ohren.
Mikey hing jetzt mit dem ganzen Oberkörper aus dem Bett. Vor seinem Gesicht befand sich der Zwischenraum von Fußboden und Matratze. Gleich würde ein zerfaultes Gesicht auftauchen, mit heraushängender schwarzen Zunge und spitzen, riesigen Zähnen, das wusste er. Jetzt konnte er die Pantoffel fast am unteren Ende des Bettes stehen sehen. Er streckte sich soweit, dass er befürchtete, gleich das Gleichgewicht zu verlieren und mit lautem Gepolter aus dem Bett zu fallen.
Er blickte unter das Bett. -Gähnende Schwärze! - ‚Fast so wie der Mund von dem alten Mr. Hikkock’, musste er unwillkürlich denken.
Jetzt hatte er die Pantoffel erreicht und plötzlich schoss ihm ein erschreckender Gedanke durch den Kopf. Hatte er nicht gestern Nachmittag seinen Baseballschläger in eine der Kisten in der Rumpelecke gestellt? Und war dieser Schläger nicht ein wenig verrutscht und hatte sich gegen den Vorhang gelehnt? Er wollte ihn später noch woanders hinräumen, weil der Vorhang so abstand.
Eine plötzliche Hitzewelle entstand in seinem Bauch und schoss mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit in die Beine und in den Kopf. ‚Das hieße ja, hinter dem Vorhang steht gar keiner’, dachte er voller Panik.
Und in diesem Moment setzte das Atmen wieder ein. Und diesmal konnten es seine Ohren sogar orten. Es kam direkt aus der gähnenden Schwärze vor seinem Gesicht.
5. Akt - Der Stromausfall -
Peter Heidenreich aus Deutschland rannte hinter dem taumelnden Mr. Hendsom her, aus der Küche hinaus, Richtung Treppe zum ersten Stock. Er wusste gar nicht, was in Mr. Hendsom gefahren war. Auf einmal war er schneeweiß geworden, wie es eine drei Tage alte Leiche nicht besser sein konnte und war auf die Tür zugetaumelt.
Jetzt hatte auch Peter Heidenreich aus Deutschland die ersten Stufen erreicht. Mr. Hendsom, Johannes war schon einige Stufen voraus, als er sich umdrehte und rief: „Peter, bringen sie bitte meinen Stock dort drüben aus dem Ständer mit.“
Peter Heidenreich aus Deutschland drehte sich um und sah eine Art Schirmständer mit einem schwarzen Stock mit Silberknauf. Er drehte sich gerade um, um den Anweisungen von Mr. Hendsom, Johannes Folge zu leisten, als es mit einem Schlag stockdunkel wurde.
Sofort hielt er an, um nicht über irgendwelche Gegenstände zu fallen und sich den Hals zu brechen. Er hörte einen Schrei aus dem Speisezimmer. Es hörte sich ganz nach Nadine an.
„Peter“, Mr. Hendsom, Johannes rief von der Treppe aus, auf welcher auch er stehen geblieben war, „irgendjemand muss die Sicherung herausgedreht haben.“
Draußen donnerte es wieder. Einen Blitz konnten sie nicht sehen, weil der große Vorraum, in welchem sie sich gerade befanden, keine Fenster besaß.
„Johannes?“ Im Speisezimmer war Stühlerücken zu hören und ein gedämpftes Klirren, als wohl ein Glas oder etwas Ähnliches auf den Boden fiel.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow befand sich wohl jetzt in der Küche, denn als sie diesmal rief, kam der Laut aus dieser Richtung. „Johannes?“
Mr. Hendsom kam vorsichtig die Treppe hinunter, und Peter Heidenreich aus Deutschland spürte, wie er an ihm vorbei Richtung Küche tapste.
„Johannes, wo seid ihr?“ Wieder drang Mrs. Hendsoms Ruf an ihre Ohren.
„Pschsch Schatz, sei bitte still.“ Mr. Hendsom hatte die Küche und seine Frau erreicht. „Schatz, bitte gehe wieder zurück zu unseren Gästen, ich werde mit Peter nachsehen, was passiert ist“, sagte er mit seiner typisch ruhigen „Mr. Hendsom-Psychiater-Stimme“.
Es kostete ihn enorme Anstrengung, da er gleichzeitig an Mrs. McNorth und seinen Sohn denken musste. Aber er wollte sie nicht unnötig beunruhigen.
„Meinst du, dass Gewitter hat eine Leitung umgerissen?“
„Ich weiß es nicht genau. Es kann auch an einer defekten Sicherung liegen. Also, kümmere du dich bitte weiter um unsere Gäste, ja?“
„Ich werde es versuchen“, sagte Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow tapfer und gab ihrem Mann, nachdem sie ihn gefunden hatte, einen Kuss auf die Wange. „Seid aber bitte vorsichtig, dass ihr nicht hinfallt.“
„Ich werde eine Kerze mitnehmen. Weißt du zufällig, wo Mrs. McNorth sie versteckt hat?“
„Warte, ich gebe dir lieber eine Taschenlampe. Es müsste eine hier in der Schublade sein.“
Das ist natürlich noch besser, dachte Mr. Hendsom und er hörte, wie seine Frau in irgendwelchen Schubladen wühlte.
„Mr. Hendsom“, Peter Heidenreich aus Deutschland stand direkt hinter ihm, und er zuckte zusammen. Zum Glück war es dunkel, sonst hätte dieser Lackaffe noch gesehen, wie er sich erschreckt hatte, dachte Mr. Hendsom verbittert.
„Soll ich schon einmal vorgehen?“
„Wenn sie wollen“, flüsterte Mr. Hendsom.
„In Ordnung, wir treffen uns dann in Mikeys Zimmer“, sagte Peter Heidenreich ebenso leise und tastete sich zurück, Richtung Treppe.
Plötzlich konnte Mr. Hendsom wieder etwas sehen. Seine Frau hielt eine altersschwache, kleine Taschenlampe in der Hand, und deren Licht verwandelte die Küchengeräte in gespenstisch dreinblickende Wesen.
„Meinst du sie reicht?“, fragte Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow.
„Besser als nichts.“ Er nahm die Lampe an sich und sie flackerte ein wenig.
„Mom? Was ist denn passiert?“ Johanna Nadine Hendsom stand in der Tür.
Mr. Hendsom gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Bitte geh jetzt wieder zurück, ich kümmere mich schon darum.“
Dann drehte er sich um und nahm den gleichen Weg, wie kurz zuvor sein „Lieblingsgast“.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow wurde wieder von völliger Dunkelheit umgeben und tastet sich vorsichtig zu der Anrichte zurück, auf welche sie gerade eine Kerze, die sie in eine der Schubladen gefunden hatte, gelegt hatte.
„Ma, was ist denn passiert?“, fragte ihre Tochter erneut.
„Hast du ein Feuerzeug oder Streichhölzer?“ Sie hörte, wie ihre Tochter in den Taschen wühlte und musste einen Augenblick an Mikey denken. Ob er wohl schon eingeschlafen war?
Draußen begann es zu regnen und Tropfen klopften gespenstisch an die Fensterscheibe. Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow sog kräftig die Luft ein. Seit Mikeys Auftreten hatte sie ein komisches Gefühl im Magen. Was war nur in letzter Zeit mit ihm los? Vielleicht sollte sie mal Dr. Marble darauf ansprechen.
Sie vernahm ein Ratschen und augenblicklich war ihre Tochter von der winzigen Flamme eines Feuerzeuges schemenhaft erleuchtet.
Nachdem die Kerze entzündet war, machten sie sich wieder auf den Weg ins Speisezimmer. Das Mrs. McNorth gar nicht anwesend war, fiel ihnen bei dem ganzen Durcheinander nicht auf.
„Was ist passiert?“, fragte Maximilian Buck, als sie das Speisezimmer betreten hatten.
„Vermutlich ist eine Sicherung herausgesprungen“, antwortete Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, und gab sich wieder als perfekte Gastgeberin, obwohl ihr danach im Moment eigentlich nicht zumute war.
„Vielleicht hat Mikey sie ja auch rausgeschraubt“, schlug Nadine Hendsom vor, und sie wünschte sich sehnlichst, dass dieses der Fall sein, und sich ihr verrückter Bruder dafür eine ordentliche Tracht Prügel einfangen würde.
„Was war denn vorhin eigentlich mit ihm los?“, griff Mrs. Fletcher das Gespräch auf und Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, verfluchte insgeheim ihre vorlaute Tochter, dass sie dieses Thema angeschnitten hatte.
Die Kerze stand jetzt in der Mitte des Tisches und ihr Licht warf auf die anwesenden Gesichter unheimliche Schatten.
Unterdessen regnete es unerbittlich weiter, und das Grollen des Donners, unterbrochen durch das gelegentlich plötzliche Aufflackern eines Blitzes, trug nicht gerade dazu bei, das Ganze weniger Schaurig erscheinen zu lassen.
‚Fast wie in einem richtigen Horrorfilm’, dachte Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, und sie bekam sogleich eine leichte Gänsehaut.
„Seit seinem Unfall ist er ein bisschen verrückt“, beantwortete Nadine Hendsom die Frage von Mrs. Fletcher.
„Nadine!“ Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow war entsetzt.
„Ach, er hatte einen Unfall?“ Mrs. Fletcher ließ nicht locker. Jetzt schaltete sich auch ihr Mann, Henry Fletcher, ein: „Schatz, ich bitte dich, du siehst doch, dass Mrs. Hendsom nicht darüber reden möchte. Also“, sagte er jetzt an die Allgemeinheit gewandt, „lasst uns ein anderes Thema anschneiden.“
Mrs. Fletcher war beleidigt.
„Wir können uns ja ein paar Gruselgeschichten erzählen“, schlug Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende vor und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Das passende Umfeld ist ja bereits gegeben.“ Dann lachte er laut auf, aber keiner der anderen Gäste schien jetzt für Späße jeglicher Art aufgelegt zu sein.
Da Mrs. Fletcher immer noch schmollend vor sich hin saß, wandte sich jetzt Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow an die übrigen Gäste, die ja eigentlich nur darauf gewartet hatten. „Mikey hatte vor zwei Jahren einen schrecklichen Unfall. Wir hatten ihm ein Fahrrad zu seinem Geburtstag geschenkt. Eines Tages kam er nicht zum Mittagessen nach Hause. Ich dachte mir zuerst nichts dabei, es kommt ja schon mal vor, dass sich kleine Kinder in der Zeit vertun. Aber als er eine Stunde später immer noch nicht wieder da war, habe ich bei den Eltern seiner Freunde angerufen.
Mrs. Horn sagte mir, Mikey hätte mit ihrem Sohn gespielt, aber sie hätten sich bereits vor über anderthalb Stunden verabschiedet.
Da wusste ich, dass etwas passiert war.
Er war auf dem Nachhauseweg von einem Auto erfasst, und gegen eine Laterne geschleudert worden.“
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow hielt für einen kurzen Moment inne. Die Anderen, ganz besonders Mrs. Fletcher, die innerlich jauchzte, dass ihr diese Geschichte nun doch nicht vorenthalten wurde, schauten gebannt und Mitleid heuchelnd auf ihre Gastgeberin, in der Hoffnung, dass sie jeden Augenblick fortfahren würde. Dieses tat sie dann auch.
„Die Ärzte standen vor einem Rätsel. In seinem Kopf hatte sich eine Art von Blutgerinnsel gebildet, welches nicht entfernt werden konnte. Sie sagten, er hätte eigentlich längst tot sein müssen.
Nun, er hatte wohl einen sehr großzügigen Schutzengel, denn nach etwa sechs Monaten bildete sich das Gerinnsel zurück, und Mikey erwachte kurze Zeit später aus seinem Koma.
Seit dem hat er manchmal schlimme Alpträume und dann passiert so etwas wie heute Abend. Aber die Ärzte meinten, dass würde sich irgendwann einmal legen.“ Was sie nicht erzählte, war die Tatsache, dass Mikey, als er schreiend aus dem Koma erwachte, schneeweiße Haare hatte.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow begann leise zu weinen.
„Das tut mir ja so leid, Mrs. Hendsom“, sagte Mrs. Fletcher aufrichtig, und irgendwie war es ihr jetzt doch ein wenig peinlich, dass sie diese Sache unbedingt hören wollte.
Nadine Hendsom legte ihren Arm um die Schultern ihrer Mutter und auch sie beschlich jetzt das unangenehme Gefühl der Peinlichkeit. Alles nur die Schuld ihres miesen kleinen Bruders.
Das bedrückte Schweigen wurde durch einen extrem hellen Blitz, gefolgt von einem extrem lauten Donner, der sie alle zusammenfahren ließ, unterbrochen.
Maximilian Buck nahm seine Frau in die Arme.
„Nadine, bitte hole doch noch ein paar Kerzen aus der Küche. Sie befinden sich ganz hinten im Besenschrank.“ Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow hatte sich wieder halbwegs gefangen.
Nadine Hendsom stand auf, nahm die Kerze vom Tisch und machte sich auf, den Weisungen ihrer Mutter Folge zu leisten, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was ihr bevorstand.
Sie ging in die Küche. Sie war tadellos aufgeräumt, bis auf das leere Milchglas auf dem Tisch.
Wo nur Nelly war. Bestimmt bei ihrem Bruder, um ihn zu trösten.
Sie ging um den großen Küchentisch herum, direkt auf den Besenschrank in der hinteren Ecke zu.
Plötzlich rutschte ihr linker Fuß weg, und sie musste sich an der Tischkante festhalten, um einen eleganten Flug Richtung Bodenfliesen zu verhindern. Sie blickte hinunter und konnte im schwachen Kerzenlicht einen dunklen Fleck auf dem Boden erkennen.
Bestimmt hatte ihr dämlicher Bruder wieder mal seinen Kakao verschüttet. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Hätte sie genauer hingesehen, hätte sie sich das bestimmt zweimal überlegt.
So erreichte sie den Besenschrank und öffnete ihn. Die Kerze in der linken Hand, starrte sie in das entsetzte Gesicht von Nelly McNorth. Ihr Kopf war mit mehreren Hieben eines scharfen Gegenstandes von ihrem Rumpf getrennt worden und schwebte jetzt, wie von Geisterhand gehalten mitten im Besenschrank.
Vermutlich war er in eine der Harken für die Besen und Schrubber gedrückt worden, und dieser hielt ihn jetzt in seiner grotesken Position.
Die leeren, glasigen Augen starrten Nadine direkt an, und er Mund war zu einem nicht mehr hörbaren Schrei des Entsetzens geöffnet.
Aus der abgetrennten Halsschlagader fielen noch dickflüssige Tropfen halb geronnenen Blutes auf den zusammengekrümmten Rumpf.
Nadine ließ die Kerze fallen, und ihr Mageninhalt, der sich mit einer urplötzlichen Geschwindigkeit einen Weg ins Freie bahnte, unterdrückte ihren Schrei.
Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow, und die übrigen Gäste sahen nur, wie das schwache Kerzenlicht in der Küche erlosch.
Und dann hörten sie diesen lang gezogenen entsetzlichen Schrei aus dem ersten Stock.
6. Akt - Mr. Hendsom hat Schwierigkeiten -
Mr. Hendsom hatte den oberen Flur erreicht. Das altersschwache Licht der ebenfalls nicht gerade jungen Taschenlampe begann wieder zu flackern, und er schüttelte sie wie ein Fieberthermometer.
Am hinteren Ende des Flurs konnte er die Tür zu Mikeys Schlafzimmer mehr erahnen als eigentlich sehen. Sie war geschlossen.
„Peter?“ Er rief sehr leise und ging nicht davon aus, dass es Peter hören würde, denn er war nirgends zu sehen.
Mr. Hendsom hob seinen Stock mit dem silbernen Knauf ein wenig höher. Er hatte ihn, bevor er hochgegangen war mitgenommen.
Jetzt verfluchte er seine Entscheidung, Peter allein vorgehen zu lassen. Er hatte nicht im Geringsten darüber nachgedacht. Was wenn Mrs. McNorth wirklich mit dem Beil in Mikeys Zimmer war und Peter einfach hineingegangen war?
Verdammt, er hätte heulen können, weil er seinem Sohn nicht geglaubt hatte.
‚Jetzt rede dir doch nichts ein. Er wird ganz friedlich in seinem Bett liegen und schlafen. Und Mrs. McNorth ist vermutlich nur zur Toilette gegangen und das Beil lag in der Spüle. Genau! Warum war er nicht sofort darauf gekommen? Es ist doch die logischste Erklärung.’
Aber irgendetwas in seinem Innern sagte ihm, dass es diesmal keine logische Erklärung gab. Irgendetwas stimmte wirklich nicht.
Langsam ging er auf Mikeys Schlafzimmertür zu.
Er stellte fest, dass er schwitzte.
Die Tür schien eine gewaltige Hitze auszuströmen. Je näher er ihr kam desto mehr lief ihm der Schweiß aus allen Poren.
‚Das ist die Angst’, sagte seine innere Stimme, doch auch diesmal konnte er ihr nicht zustimmen. Die Tür strahlte wirklich eine enorme Hitze aus, ähnlich als ginge er auf einen Hochofen zu. Man sah keine Flamme, doch die Luftschicht um ihn herum wurde immer heißer, je näher man ihm kam. Und ab einen bestimmten Punkt würden die Lungen zerreißen, und es würde noch nicht einmal Blut aus einem herausfließen, weil es sofort verdampfen würde.
Mr. Hendsom biss die Zähne zusammen. Er war noch etwa drei Meter von der Tür entfernt und konnte kaum noch atmen.
Seine Lippen und seine Stirn brannten, als läge ein glühendes Eisen darauf. Er nahm den leicht säuerlichen Geruch von verbranntem Haar wahr. Ihm wurde schwindelig, und er hatte das Gefühl, als würden seine Augenlider verschmoren und die Augäpfel freilegen, die dann sofort erblinden würden.
Die Hitze nahm von Sekunde zu Sekunde zu, - jetzt war es keine Einbildung mehr - obwohl er schon nicht mehr näher auf die Tür zuging. Diese schien zu glühen.
Sein Schweiß war vollständig verdampft, und er merkte, wie seine Lippen rissig wurden, sich spannten, wie die Haut eines Luftballons, der zu stark aufgeblasen wurde, und ohne einen weiteren Laut aufplatzten.
Eine bittere Flüssigkeit rann auf seine Zunge und verteilt sich im Mund. Er musste würgen.
Auch seine übrige Haut würde jeden Augenblick reißen und klaffende Wunden freilegen, die dann sofort wieder „zugeschweißt“ würden.
Er blickte auf seine Hand und stellte mit Entsetzen fest, dass die Plastiktaschenlampe bereits zerlief und mit samt seiner Haut in langen Fäden zwischen seinen Fingern hindurch zu Boden tropfte.
Auf seinem rechten Unterarm bildeten sich dicke Blasen, die mit einer enormen Geschwindigkeit größer wurden und ähnlich wie seine Lippen sofort aufplatzten. Darunter entstand sofort wieder eine neue Blase, und die Prozedur wiederholte sich, solange, bis der blanke Knochen freilag.
Leichter Qualm stieg auf und er nahm einen übelkeitserregenden Gestank nach verbrannten Steaks wahr.
‚Oh mein Gott, ich koche!’, wollte er schreien, doch aus seinem Hals kam nur ein erbärmliches Röcheln, vermischt mit einem schwarzen, übel riechenden Schleim.
Seine Anzughose begann zu qualmen und am unteren Saum züngelte sich eine kleine Flamme empor, wurde größer und augenblicklich brannte sein linkes Bein lichterloh.
Mr. Hendsom versuchte erneut zu schreien und die schleimige Flüssigkeit spritzte gegen die Wand, an der sie wie dickflüssiger Honig langsam hinablief.
Er schlug mit der rechten Hand, die fast nur noch aus Knochen bestand auf sein brennendes Bein. Sie sank ein gutes Stück in den Muskel ein, und als er sie zurückriss, zog er lange Fäden flüssigen Fleisches hinterher.
Das Bild vor seinen Augen verschwamm und er taumelte gegen das Flurgeländer. Erneut stieß er einen Strahl dieser gallertartigen, stinkenden Flüssigkeit aus, dann sank er auf die Knie.
Er riss vor Schmerz die Augen auf und mit einem leisen „Plop-Plop“ zerplatzten sie und verteilten ihr heißes Innenleben über sein hautloses Gesicht.
Jetzt war es vorbei, das wusste er. Er spürte seine linke Hand, die noch immer den Stock umklammert hielt. Selbst der Silberknauf begann langsam zu schmelzen, wie er selber; doch das sah er ja nicht mehr.
‚Los schlag dich!’ Die Stimme schrie urplötzlich in seinem Kopf, auf welchem Blasen platzten, erneut wuchsen, um sofort wieder zu platzten.
‚Und wenn es das letzte ist, was ich tue’, krächzte er, ohne darüber nachzudenken, was das Ganze bedeutete.
Er hob den Stock und schlug ihn mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war gegen seine zerlaufende Stirn.
Ein gewaltiger Schmerz schoss durch seinen Kopf und er kippte vorne über.
Er hatte doch mehr Kraft, als er gedacht hatte.
Langsam sog er die Luft ein. Er erwartete den Schmerz, doch nichts geschah. Noch einmal ließ er die Luft in seine Lungen einströmen. Sie war angenehm kühl und roch nach Teppichboden.
Er stutzte. Wirklich, die Hitze war verschwunden. Er spürte unter seiner Wange den flauschigen Teppich und öffnete die Augen, die eigentlich nicht mehr vorhanden sein durften.
Es war dunkel. Nein, nicht ganz, etwa einen Meter von ihm entfernt flackerte die altersschwache Taschenlampe vor sich hin. Er griff danach.
Seine rechte Hand war wieder mit seiner altbekannten sehnigen Hautschicht überzogen und er musste ein wenig lächeln. Das Dröhnen in seinem Kopf blieb ihm allerdings erhalten.
Langsam richtete sich Mr. Hendsom, Johannes auf, indem er sich auf seinen Stock, der ihm eigentlich als Waffe dienen sollte, stützte.
‚Ich glaube, ich werde langsam wahnsinnig.’ Er schüttelte leicht den Kopf und gleich darauf verfluchte er diese Bewegung.
Er sah sich um. Niemand war auf dem Flur. Er befand sich noch immer etwa drei bis vier Meter von Mikeys Tür entfernt.
‚Wo steckt dieser verfluchte Heidenreich nur?’, dachte er verbittert und sofort beschlich ihn wieder dieses seltsame Gefühl in der Magengegend.
Er hielt die Taschenlampe über das Flurgeländer und blickte hinunter. Er sah nichts, nicht einmal den Boden, obwohl sich dieser nur etwa fünf Meter unter ihm befand. Kein Wunder, bei dieser Taschenlampe, dachte er, und sofort begann das Licht wieder zu flackern.
Er schlug dagegen und wandte sich erneut Mikeys Schlafzimmertür zu, in der Hoffnung, dass die Luft diesmal ihre jetzige Temperatur halten würde. Warum war Mikey eigentlich noch nicht herausgekommen? Er müsste ihn doch bereits gehört haben.
Mr. Hendsom hatte die Tür erreicht. Er legte den Kopf schief und lauschte.
Nichts war zu hören, weder aus dem Zimmer, noch von irgend sonst woher. Vorsichtig griff er nach dem Türknauf, den Stock erhoben, jederzeit bereit, ihn gegen eine beilschwingende Mrs. McNorth einzusetzen.
Der Knauf ließ sich leicht drehen, und Mr. Hendsom drückte die Tür einen Spalt breit auf.
Im Innern war es stockdunkel. ‚Was auch sonst, wenn es keinen Strom gibt’, sagte diese innere Stimme wieder.
Mr. Hendsom schob die Tür weiter auf.
Irgendwie war es kalt in dem Zimmer, obwohl das Fenster geschlossen war. ‚Jetzt fang bloß nicht schon wieder an.’ Er blickte auf seinen Stock.
Im Schein der Taschenlampe konnte er schemenhaft Mikeys Bett erkennen.
Lag da jemand drin? Die Bettdecke war hochgezogen, das konnte er wohl sehen, aber an den übrigen Stellen besiegten die dunklen Schatten das Licht der altersschwachen Taschenlampe.
Er leuchtete nach rechts und sah den Kleiderschrank. Auch hier nichts besonderes, die Türen waren verschlossen; er hatte es vorhin ja auch selbst gemacht, nachdem er darin nach Monstern gesucht hatte.
„Mikey?“ Mr. Hendsom rief leise. Keine Antwort! Klar, er schläft.
Oder Mrs. McNorth hatte ihr Werk bereits vollbracht.
Ihm wurde schlecht.
Er schob die Tür ganz auf und trat einen Schritt ins Zimmer, welches ihn mit seiner überwältigenden Stille zu erdrücken schien.
„Mikey!“ Diesmal etwas lauter. Nichts!
Er leuchtete wieder zum Bett hinüber. Die Taschenlampe fing wieder an zu flackern, aber er erkannte deutlich, dass das Bett leer war.
„Oh mein Gott“, er schluckte, und ein saurer Geschmack rann durch seinen Hals. Auf einmal verspürte er den zwingenden Drang, die Toilette aufsuchen zu müssen.
Er leuchtete das Zimmer ab. Rechts neben dem Schrank Mikeys Rumpelecke. Der Vorhang war ein wenig zurückgeschoben und Mr. Hendsom, Johannes erkannte einen Baseballschläger, der schräg aus einer Kiste ragte.
„Mikey!“ Diesmal gab er sich keine Mühe leise zu sein.
Er drehte sich ruckartig um. War da jemand?
Die Taschenlampe begann wieder mit ihrem altbekannten Flackern, und das Licht wurde für einen Moment beängstigend dunkel.
„Bitte, nicht jetzt“, flüsterte Mr. Hendsom, Johannes und schlug dagegen.
Er leuchtete auf den Flur hinaus. Im Schein der Taschenlampe war allerdings niemand zu sehen.
„Peter, sind sie da?“
Peter war nicht da, zumindest gab er keine Antwort. Vielleicht war er zuerst in den Keller gegangen, um die Sicherung wieder hineinzuschrauben. Aber dann müsste er es eigentlich gleich geschafft haben.
Mr. Hendsom spähte in die Dunkelheit des Flures.
‚Da ist doch jemand, verdammt noch mal.’ Er verengte die Augen zu kleinen Schlitzen, in der Hoffnung dadurch mehr zu sehen. Doch das war nicht der Fall.
Und doch spürte er, dass er hier oben nicht allein war.
Ein enorm heller Blitz, gefolgt von einem enorm lauten Donner, erfüllte die Luft und unwillkürlich sträubten sich seine Nackenhaare.
Da war ein Schritt! Mr. Hendsom hatte das gedämpfte Quietschen der Dielen unter dem Teppich genau gehört. Er knipste die Taschenlampe aus, stellte sich mit dem Rücken an den Türrahmen und lauschte.
Da wieder. Jemand schlich über den Flur, direkt auf das Zimmer zu.
Mr. Hendsom, Johannes hob den Stock und wich ohne das geringste Geräusch ein Stück in das Zimmer zurück.
Jetzt vernahm er auch, sehr leise zwar, ein tiefes gleichmäßiges Atmen.
‚Oh verdammt.’ Er schluckte und spürte, wie eine Panik in ihm empor kroch.
Unten hörte er, wie jemand in die Küche ging.
Sollte er schreien?
Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, wer weiß, was diese Verrückte alles tun würde.
Das Atmen kam immer näher, aber irgendwie klang es gar nicht so weiblich. Mr. Hendsom hob den Stock über den Kopf und verharrte in dieser Position. Er würde ihr den Schädel einschlagen, wenn sie Mikey etwas getan hatte. Seine Hände begannen zu schwitzen und der Stock drohte, ihm aus der Hand zu rutschen. Er griff fester zu.
Das Atmen befand sich jetzt direkt neben der Tür.
Mr. Hendsom hielt die Luft an.
Das Atmen verstummte ebenfalls.
‚Ich werde jetzt die Taschenlampe anmachen und zuschlagen’, dachte er, und er merkte, dass er kurz davor war, sich vor Angst in die Hose zu pinkeln.
Er nahm einen seltsamen Geruch war, doch er konnte ihn nirgends einordnen. So ähnlich, wie fauler Atem, vermischt mit ...
‚Aber das würde ja bedeuten, sie stände bereits direkt vor mir.’ Er atmete immer noch nicht, und seine Hände tasteten nach dem Einschaltknopf der Taschenlampe.
Er verstärkte noch einmal den Griff um seinen Stock, dann schob er den Knopf nach vorne.
Das Licht flackerte, aber Mr. Hendsom sah, was er sehen wollte, das heißt jetzt hatte sich seine Meinung diesbezüglich sicherlich geändert.
„Oh mein Gott.“ Sein Lieblingsspruch, aber er wusste gar nicht, ob überhaupt etwas aus seiner Kehle gedrungen war.
Der Stock glitt aus seiner Hand. Er sah, wie er langsam zu Boden fiel, fast wie in Zeitlupe. Dann schlug er ebenfalls in Zeitlupe auf den Boden auf, sprang wieder ein Stück hoch, drehte sich und sank zurück.
‚Ich hätte es wissen müssen’, dachte er. Dann sah er, wie etwas Glänzendes von unten emporgeschossen kam und zwischen seinen Beinen verschwand. Augenblicklich setzte ein Gefühl ein, als hätte man einen dicken Eisblock auf seine Hoden gelegt, doch sofort verwandelte sich der Eisblock in eine glühende Feuerkugel, und er spürte eine heiße Flüssigkeit an der Innenseite seiner Schenkel hinablaufen. Und dann setzte der Schmerz ein.
Ein Schmerz, von dem Mr. Hendsom nie gedacht hätte, dass es ihn gab, und das spiegelte sich auch in seinem Schrei wieder.
Augenblicklich war jedes Gefühl aus seinen Beinen verschwunden, sie knickten ein und er schlug so hart mit den Knien auf, dass beide Kniescheiben sofort brachen.
Doch das merkte Mr. Hendsom, Johannes nicht mehr.
7. Akt - Er -
Er war sehr zufrieden mit sich, und sein Atmen drückte für einen Augenblick tiefes Wohlbehagen aus. Ja, er war wirklich äußerst zufrieden.
Er hatte genau das erreicht, was er wollte, d.h. einige waren ja noch übrig, aber darin sah er kein Problem.
Er hörte ein ängstliches Rufen aus dem unteren Stock: „Nadine? Nadine! Was ist passiert? Nadine, so sag’ doch etwas.“
Er musste bellend lachen. Wahrscheinlich hatte Nadine diese Nutte von Haushälterin gefunden; oder besser gesagt, die beiden Einzelteile.
Wieder lachte er laut auf. Es klang wenig menschlich.
Keiner hatte gemerkt, wie er das Beil genommen hatte. Dem Jungen war aufgefallen, dass es fehlte. Ha, kein Wunder!
Und der alte geile Bock hatte es wohl auch gemerkt, sonst wäre er nicht mit dem Stock gekommen.
Er musste an den Stock denken, und erneut verzogen sich seine Lippen zu einem hämischen Grinsen. Was wollte er bloß damit ausrichten? Mit einem lächerlichen Stock. Er hatte ihn ja dann auch sofort fallengelassen als er ihn gesehen hatte. Schwächling!
Lautes Stimmengewirr drang an seine Ohren. Er blickte auf das Beil. Die Schneide war dunkel vom Blut dieses dreckigen, feigen Schwächlings.
Er hatte ja auch geblutet, wie ein abgestochenes Schwein. Der erste Hieb hätte eigentlich gereicht, aber ER hatte vorgesorgt. Genau wie bei der Nutte.
Warum tat er das alles? Nun, er hatte es ja dem Jungen versprochen, damals, direkt nach seinem Unfall.
Doch jetzt hieß es noch einmal konzentrieren. Einige waren ja noch da und warteten auf ihn.
Eine leichte Erregung stieg in ihm auf, und er verzog wieder die Mundwinkel. Er dachte an den Jungen. Er hatte sich eine ganze Weile gesträubt, aber dann war auch dieses Malheur zu Ende gewesen.
Ganz im Gegensatz dazu die Nutte.
Er konnte es verstehen, sie hatte ja auch nicht damit gerechnet, dass er etwas ganz besonderes mit ihr vor gehabt hatte.
Den Alten wollte er mit einen seiner kleinen Tricks ausschalten, es hätte ja auch fast funktioniert, beinahe hätte er geglaubt, er wäre bei lebendigem Leibe verbrannt.
Wieder wurde sein Zwerchfell gereizt, und er musste sich stark zusammenreißen, dass er nicht wieder laut losprustete.
Er hatte inzwischen die Treppe erreicht, als ein weiterer Mutationsschub einsetzte.
Letzter Akt - Mazubil -
Nachdem sich Peter Heidenreich aus Deutschland von Mr. Hendsom, Johannes getrennt hatte, war er vorsichtig auf die Treppe zugestolpert. Bereits auf der zweiten Stufe rutschte er aus und schlug hart mit dem Oberschenkel auf die dritte Stufe.
Fluchend stand er auf und wollte gerade weiterstolpern, als ihm eine glorreiche Idee kam.
Er drehte um, ging rechts neben der Treppe durch den Empfangsraum und hatte bereits nach einigen fluchenden Fehltritten die Kellertür erreicht.
Da unten befanden sich der Sicherungskasten und ein kleines Schränkchen mit neuen Sicherungen. Er hatte ja schon des Öfteren Wein aus dem Keller geholt, und deshalb traute er sich auch zu, den Zähler im Dunklen zu finden.
Er öffnete die Kellertür und sofort schlug ihm dieser typische Kellergeruch nach lagernden Kartoffeln, feuchten Wänden und Mäusescheiße entgegen. Instinktiv griff er nach dem Lichtschalter - es war noch ein alter Schwarzer zum Drehen - . Es klackte einmal, doch es geschah nichts.
Peter Heidenreich aus Deutschland schlug sich an die Stirn. Dann begann er langsam mit dem Abstieg. Je näher er dem Kellerboden kam, desto intensiver wurde der Geruch. Er rümpfte die Nase, man konnte schon fast Gestank sagen.
Es war stockdunkel, feucht und kalt. Alles Eigenschaften, die Peter Heidenreich aus Deutschland nicht besonders schätzte.
Ihm fröstelte.
Aus den hinteren Winkeln des Kellers vernahm er ein leises Fiepen. ‚Ratten! Auch das noch’, dachte er angewidert.
Er hörte, wie Mr. Hendsom durch den Empfangsraum ging und den Stock aus dem Metallständer nahm. Es polterte ein wenig.
Er wollte ihm gerade zurufen, dass er sich hier unten befand, doch dieser rannte bereits die Stufen zum ersten Stock hinauf.
Also tastete sich Peter Heidenreich aus Deutschland weiter an sein Ziel heran. Dabei glitt er mit den Fingern an dem Holzregal, auf welchem sich Konserven und Schachteln jeglicher Art befanden, entlang.
Allmählich roch es hier unten wie in einer Katakombe, und Peter Heidenreich aus Deutschland beschränkte sich darauf, nur noch ganz flach durch den Mund zu atmen.
Auf einmal biss ihn irgendetwas in den Finger. Zumindest dachte er zuerst, dass es sich um einen Biss handeln musste. Der Schmerz hatte zumindest gewisse Ähnlichkeit damit. Er riss die Hand ruckartig von dem Regal und befürchtete fast, dass er gleichzeitig eine dicke graue Ratte, die genüsslich an seinem Finger kaute, mit hervorziehen würde.
Peter Heidenreich aus Deutschland umklammerte sein Handgelenk, der Schmerz war schier unerträglich und Tränen schossen ihm in die Augen.
Langsam tasteten sich seine Finger zu der schmerzenden Stelle. Der Finger schien noch dran zu sein, ganz im Gegenteil, sogar noch ein bisschen mehr. Peter schluckte und eine Hitzewelle schoss durch seinen Körper, so dass er glaubte, jeden Augenblick das Bewusstsein zu verlieren.
Ein etwa Eisstil großer Holzsplitter hatte sich direkt unter den Nagel seines rechten Ringfingers geschoben. Peter schrie auf, als er die Stelle berührte. Ihm wurde wieder schwarz vor Augen.
Blut lief ihm jetzt über den Handrücken in den Ärmel seines weißen Hemdes. ‚Bestimmt ein toller Kontrast’, musste er makabererweise denken. Seine Hand war ein einziger Feuerball, der mit jedem Pulsieren neue Schmerzstöße aussandte.
Peter Heidenreich aus Deutschland berührte den „Splitter“ und biss sich dabei so fest auf die Zähne, dass es knirschte.
Wieder fiepte es, und etwas huschte zwischen seinen Füßen hindurch.
Er hielt die Hand hoch, biss die Zähne zusammen und wickelte sein Taschentuch behutsam um den verletzten Finger. Den Splitter ließ er allerdings stecken. Der Schmerz beim rausziehen würde ihn umbringen. So machte er sich tapfer und vor allen Dingen vorsichtiger, wieder auf den Weg Richtung Sicherungskasten.
Das Pochen in seiner Hand nahm mit jedem Schritt zu, und Peter Heidenreich musste anhalten und sich an das Holzregal, mit welchem er so unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, lehnen, damit er nicht zwischen die fiependen Ratten oder, was noch viel schlimmer wäre, auf seien pulsierenden Finger fiel.
Der Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn und brannte höllisch in den Augen.
Langsam ließ das Schwindelgefühl nach. Er überlegte, ob er nicht wieder hochgehen sollte um jemand anderen hier runter zu schicken. Er schätzte, mit nur einer Hand konnte er sowieso nicht allzu viel ausrichten. Er entschied sich dann aber doch, es zumindest einmal zu versuchen.
Er vernahm ein dumpfes Grollen, vermutlich das Gewitter, und ging, die gesunde Hand nach vorn gestreckt, die andere eng an den Körper gepresst, weiter in die Dunkelheit. Er wusste gar nicht mehr, dass der Keller so groß war, eigentlich hätte er doch schon längst da sein müssen.
Er versuchte mit der linken Hand irgendetwas zu berühren, was ihm als Orientierungshilfe dienen konnte, doch da war nichts.
Peter Heidenreich aus Deutschland streckte die Hand weiter aus, er griff nach links und drehte sich ein wenig, um nach hinten zu greifen.
Langsam trat ihm wieder Schweiß auf die Stirn. Wo zum Teufel waren die Regale? Er ging einen Schritt nach rechts. Und noch einen. Seine Hand war weit nach vorn gereckt, doch auch hier fand sie nicht das Geringste, was ihm als Anhaltspunkt dienen konnte. Besser gesagt, sie fand überhaupt nichts.
‚Das gibt’s doch nicht. Jetzt werd bloß nicht verrückt.’ Es war auch kein Fiepen mehr zu hören.
Peter Heidenreich aus Deutschland ging in die Hocke und wollte den Boden berühren, doch seine Hand griff auch hier ins Leere. Das darf doch nicht wahr sein. Der Kellerboden war verschwunden. Er fuhr mit der Hand unter seinen Füßen hindurch. Nichts!
‚Ich schwebe’, dachte er voller Panik. Und dann begann der Fall.
Er stürzte ohne Vorwarnung in die Tiefe. Eine Tiefe, die so überraschend kam, dass sein Herz einen Takt lang aussetzte.
Peter Heidenreich aus Deutschland sog ruckartig die Luft ein, seine Eingeweide sammelten sich alle in der unteren Hälfte seines Brustkorbes, und das Blut wich aus seinen Beinen in die Lenden und erzeugten dort einen berstenden Druck.
Er schrie und schlug mit den Armen um sich. Und dann kam der Schmerz. Er kam urplötzlich, genau wie die Leere, entstand in seiner rechten Hand, schoss durch den Arm in den Brustkorb und von dort in den Magen, der sich sofort zusammenzog und seinen Inhalt freigab.
Peter Heidenreich aus Deutschland schlug auf den Boden auf. Er platschte mit der linken Wange in sein gerade Erbrochenes, doch das wurde ihm im Moment nicht bewusst. Der Schmerz in seinem rechten Arm war schier unerträglich.
Er hörte sich selber keuchen und röcheln. In kurzen Abständen stieg ein Würgereiz in ihm hoch.
Langsam beruhigte sich sein Magen wieder und sein Atmen wurde weniger beängstigend. Jetzt stieg ihm auch dieser üble Geruch nach Magensäure in die Nase und angewidert drehte er seinen Kopf.
Was um Gottes Willen war das? Auf jeden Fall hatte er jetzt wieder festen Boden unter den Füßen.
Aber diese Schmerzen. Er hob vorsichtig seine rechte Hand, und sofort stiegen ihm Tränen in die Augen. Bestimmt war er irgendwo mit den Splitter drangestoßen. Genau! Er war ohnmächtig geworden, deshalb auch das Gefühl, als ob er in irgendeine Tiefe stürzen würde. Und dann war genau das passiert, was er eigentlich vermeiden wollte. Er hatte sich den verletzten Finger gestoßen.
Er hatte das Gefühl, als würde sein rechter Arm verbrennen, und er verfluchte die Tatsache, dass das Licht ausgefallen war.
Er lag auf dem Rücken, an seiner Wange klebte frisch Erbrochenes, und versuchte, trotz des wahnsinnigen Schmerzes in seinem Arm, halbwegs wieder klar zu werden.
Nach ein paar Minuten gelang ihm das auch, und er richtete sich vorsichtig etwas auf. Seine Hand brannte wie Feuer. Er würde nicht dranfassen, um zu fühlen, was passiert war.
Plötzlich vernahm er das Quietschen einer Tür. Er drehte den Kopf. Es war die Kellertür. Dann schlurfende Schritte.
Jemand kam die Treppe hinunter.
Peter Heidenreich aus Deutschland wollte rufen, doch eine innere Stimme sagte ihm, dies lieber nicht zu tun. Langsam, auf seinen linken Arm gestützt, bewegte er sich fast lautlos nach hinten.
Das Schlurfen hatte jetzt den Kellerboden erreicht, und er vernahm schweres Atmen. Die Konserven auf dem Holzregal, mit dem er so unliebsame Bekanntschaft gemacht hatte, schlugen ein wenig zusammen. Vermutlich tastete er sich auch daran entlang. Sicher war, dass er immer näher kam.
Peter Heidenreich aus Deutschland begann wieder zu schwitzen.
Das schwere Atmen wurde lauter.
Auf einmal ein lautes Poltern von Dosen, die auf dem Kellerboden aufschlugen.
„Verfluchte Scheiße!“ Es war eindeutig die Stimme von Walther Bringhover, dem zweiten Vorstandsvorsitzenden.
Das Poltern nahm kein Ende. „Oh so ein verfluchter Mist!“
„Mr. Bringhover?“ Peter Heidenreich aus Deutschland richtete sich erleichtert auf.
„Wer spricht da?“
„Ich bin’s, Peter Heidenreich.“ Vorsichtig, den rechten Arm wieder eng an den Körper gepresst, tastete sich Peter Heidenreich aus Deutschland Richtung polternden Vorstandsvorsitzenden.
„Meine Güte, was haben sie mich erschreckt“, begrüßte ihn dieser, „was machen sie denn hier unten?“
„Vermutlich dasselbe, wie sie. Ich wollte die Sicherung auswechseln.“
„Stimmt, das hatte ich eigentlich auch vor, bevor mir dieses beschissene Regal in die Quere kam. Entschuldigen sie meine unkonventionelle Ausdrucksweise, aber wir sind ja unter uns.“
Peter Heidenreich aus Deutschland musste ein wenig grinsen, doch dann holte ihn sein rechter Arm wieder in die Gegenwart zurück.
„Aber sagen sie Peter, was war das eben für ein Schrei?“
„Ich habe nichts gehört, es sei denn... Ich habe mir gerade die Hand verletzt. Ich bin sogar für einen Moment ohnmächtig geworden, kann sein, dass ich es war.“
Das Poltern war verebbt und Peter Heidenreich aus Deutschland hörte, wie sich Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende einen Weg durch die am Boden liegenden Konservendosen bahnte.
„Nein, es kam aus dem ersten Stock“, sagte er. „Dieser junge Buck und Mr. Fletcher sind raufgegangen. Ich sollte in der Zwischenzeit den Zähler suchen.“
„Ein Schrei im ersten Stock?“ Peter Heidenreich aus Deutschland stutzte. „Das kann nur Mr. Hendsom gewesen sein. Er ist nach oben gegangen, um nach Mikey zu sehen.“
In diesem Moment drang ein weiterer enorm schriller Schrei an ihre Ohren.
„Verdammt, was ist denn da oben nur los?“ Fluchend kam Walther Bringhover auf Peter Heidenreich zu.
„Los Peter, zeigen sie mir diesen verdammten Stromzähler, damit wir endlich wieder was sehen können.“
„Er müsste gleich hier an der Wand...“ Wieder dieser schrille Schrei. Jetzt konnten sie ihn als den von Mrs. Hendsom, Johanna, geb. Wilkingbourow erkennen.
„Johannes, oh Gott. Johannes, wo bist du?“ Ja, sie war es tatsächlich.
„Elende Scheiße, irgendetwas stimmt da nicht“, Walther Bringhovers Stimme klang verdächtig unruhig, „Peter, versuchen sie den Kasten allein zu finden, ich gehe schon mal vor.“
„In Ordnung, aber seien sie vorsichtig.“
„Darauf können sie Gift nehmen.“ Polternd und leise fluchend machte sich Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende auf den Weg.
Ein lauter Knall ließ Peter Heidenreich aus Deutschland zusammenfahren.
„Irgendjemand hat die Kellertür zugeschlagen“, rief Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende.
Peter hörte, wie er die Treppe hinaufstampfte.
„Mr. Bringhover, warten sie lieber doch auf mich, wer weiß, was da oben los ist.“
„Johannes! Johannes, bitte komm’ hierher.“ Wieder Mrs. Hendsoms ängstliche Stimme, doch durch die geschlossene Kellertür drang sie nur noch gedämpft an ihre Ohren.
„Halten sie die Kerze, Mrs. Fletcher.“ Das konnte nur noch Walther Bringhover hören.
„Dann beeilen sie sich, Peter!“ rief er.
„Ich tu mein bestes, aber ich kann den alten Kasten nicht finden.“
„Dann suchen sie gefälligst, Herrgott noch mal.“ Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende wurde langsam nervös.
Peter Heidenreich aus Deutschland tastete mit der linken Hand die Wand ab. Die Schmerzen in seiner Rechten wurden immer schlimmer. Jeder Herzschlag schien seine Finger zu zerreißen. Er hörte Walther Bringhover wieder poltern.
„So ein elender Mist. Die Tür ist abgeschlossen!“ Dann vernahm er lautes Hämmern. Walther Bringhover schlug gegen die Kellertür.
„Aufmachen! Los, machen sie sofort die verdammte Tür auf!“
„Mr. Bringhover, seien sie still. Wer weiß, wer...“
„Sieh du zu, dass du diesen verdammten Sicherungskasten endlich findest, sonst werd ich aber gleich ungemütlich.“ Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende hörte sich jetzt wirklich ein wenig gereizt an.
„Ich kann den Kasten nicht finden, und da nützt es gar nichts, wenn sie hier rumschreien.“
Peter registrierte noch einen leichten Schlag gegen die Tür und ein leises Fluchen, dann hörte er Walther Bringhover, den zweiten Vorstandsvorsitzenden sagen: „Sie haben recht, Peter, entschuldigen sie bitte. Warten sie, ich komme runter und helfe ihnen.“
Wieder vorsichtiges Schlurfen auf der Treppe. Und dann hörten sie Mrs. Hendsoms gedämpfte Stimme: „Mikey, oh mein Gott, Mikey! Um Himmels Willen was ist passiert? Geben sie mir die Kerze Mrs. Fletcher. Mikey, wo ist dein Vater?“ Und dann ein Poltern und schnelle schwere Schritte auf der Treppe zum ersten Stock.
Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende stolperte durch die am Boden liegenden Konservendosen. „Wo sind sie Peter?“
„Hier.“
In diesem Augenblick hörten sie ein Kreischen, vermischt mit einem ohrenbetäubenden Schrei. Es hörte sich nach Mrs. Hendsom, Johanna, geb. Wilkingbourow. an. Oder es konnte auch Mrs. Fletcher sein, oder Beide.
„Mechthild!“ Das war Mr. Henry Fletcher.
Und wieder ein dumpfes Poltern.
Walther Bringhover hatte Peter Heidenreich aus Deutschland erreicht. „Da oben scheint ganz schön was los zu sein. Wo soll der Sicherungskasten sein?“
„Irgendwo hier an der Wand, aber da ist nichts.“ Peter Heidenreich trat einen Schritt zur Seite, um den schwergewichtigen Walther Bringhover vorbeizulassen. Auch dieser begann nun die Wand abzutasten. „Sind sie sicher, dass es keine andere Wand war?“
„Ja, es war genau die Kopfwand.“
Wieder ein Schrei. Peter Heidenreich aus Deutschland stieß mit dem Rücken an einen kleinen Schrank. Er tastete ihn ab und entdeckte zwei Schubladen. Vielleicht fand er ja Streichhölzer oder ein Feuerzeug.
„Peter, was ist das für eine Tür?“
„Welche Tür?“
„Na hier.“ Peter Heidenreich aus Deutschland hörte, wie eine Klinke heruntergedrückt wurde.
Und plötzlich konnte er sehen. Zwar nicht viel, aber er konnte doch zumindest erkennen, dass Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende vor einer geöffneten Eisentür stand. Der Raum dahinter war schwach erleuchtet.
Peter blickte auf seine pulsierende Hand und augenblicklich wurde ihm wieder schwindelig. Der Holzsplitter war verschwunden. Dort, wo früher der Fingernagel war, sah er jetzt eine blutende fleischige Masse.
„Peter, was ist los mit ihnen?“ Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende kam auf ihn zu.
Peter Heidenreich sah alles nur noch ganz verschwommen, und eine leichte Übelkeit stieg in ihm hoch.
„Mein Gott Peter, was haben sie mit ihrem Finger gemacht?“ Walther Bringhover griff nach dessen Arm und hielt ihn hoch. Und wieder schoss eine Schmerzwelle durch Peter Heidenreichs Körper.
„Lassen sie nur, Mr. Bringhover. Bis wir oben sind, halte ich es schon noch aus“, sagte er, und versuchte, sich mit der linken Hand vom Schrank abzustützen. „Was ist das für ein Licht?“
Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende wandte sich um. „Der Heizungsraum“, antwortete er nachdenklich. „Das Licht kommt vom Gasofen. Ich verstehe nur nicht, wo der Sicherungskasten geblieben ist.“
„Also, als ich letztes Mal hier unten war, war er genau dort.“ Peter deutete auf eine leere Stelle an der Wand.
Oben zerschellte ein Glas oder eine Vase. Sie hörten ein Klirren und dann wieder einen Schrei. Doch dieser klang mehr nach einem wütenden Mann.
„Los Peter, sehen sie nach, ob sie irgendwo eine Lampe oder zumindest Streichhölzer finden. Ich suche etwas, mit dem wir die Tür aufbrechen können“, sprachs und rannte, wild in allen Ecken stöbernd durch den gespenstisch erleuchteten Keller.
Peter Heidenreich aus Deutschland versuchte unterdessen die Schubladen des kleinen Schrankes zu öffnen, doch das war leichter gesagt als getan. Der Schrank war nicht mehr der Jüngste, und Peters Hand sendete kontinuierlich seine Schmerzwellen aus. Nach einigen Versuchen klappte es schließlich.
Die Schublade war voll mit Gerümpel jeglicher Art. Peter Heidenreich aus Deutschland konnte allerdings nicht erkennen, um was es sich genau handelte, dazu reichte das Licht nicht aus.
„Was ist, haben sie was gefunden?“ hörte er Walther Bringhover, den zweiten Vorstandsvorsitzenden rufen.
„Das Licht ist zu schwach, ich kann nichts erkennen.“
„Warten sie, ich komme.“
Und dann tauchte er aus dem Dämmerlicht auf, in der rechten Hand einen Hammer, in der Linken eine Brechstange. „Meinen sie, sie können mit ihrer linken Hand den Hammer halten und ihn eventuell auch benutzen, falls uns da oben jemand komisch kommt?“ Walther Bringhover hielt ihm den Hammer hin.
Peter streckte die Hand aus. „Ich glaube, es wird gehen.“
„Gut. Dann lassen sie uns mal sehen, was sich hier schönes verbirgt.“ Er drängte Peter zur Seite und zog die Schublade aus dem Schränkchen, und zwar ganz. Dann lief er damit zum Heizungsraum. Ein wenig verwirrt ging ihm Peter Heidenreich aus Deutschland nach.
„Na, wer sagt’s denn, hier ist doch schon was.“ Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende hielt eine Packung Streichhölzer in der Hand. Er legte die Brechstange beiseite. Peter vernahm ein Ratschen. Gleich darauf noch eins, dann ein Fluchen und wieder ein Ratschen, und dann wurde das breite Gesicht von Walther Bringhover schemenhaft erleuchtet. „Na bitte. Sind zwar nicht mehr die Neusten, aber besser als nichts. Und jetzt lassen sie uns in den Kampf ziehen, Peter. Haben sie ihren Hammer?“
Peter Heidenreich aus Deutschland hielt den Hammer hoch.
„Gut, dann kommen sie!“
Das Streichholz erlosch und für einen Augenblick war der Raum wieder stockdunkel, aber dann gewöhnten sich ihre Augen wieder an das schwache Licht des Gasofens.
Oben war es mittlerweile ruhig. Doch das hieß nichts, das mulmige Gefühl wich nicht aus Peter Heidenreichs Bauch.
Sie hatten die Kellertür erreicht. Walther Bringhover legte sein Ohr daran und lauschte. „Ich kann nichts hören“, flüsterte er und Peter Heidenreich aus Deutschland blickte ihn fragend an.
Walther Bringhover prüfte noch einmal den Türgriff, stellte fest, dass die Tür immer noch verschlossen war und drückte das Brecheisen zwischen Tür und Rahmen.
Peter Heidenreich hörte ein leises Knirschen.
Walther Bringhover hielt inne und lauschte erneut. Immer noch nichts. Er setzte seine Arbeit fort. Das Knirschen wurde lauter, und mit einem berstenden Krachen splitternden Holzes sprang die Tür auf.
Gähnende Schwärze schlug ihnen entgegen. Peter Heidenreich umklammerte seinen Hammer, obwohl er bezweifelte, dass er viel damit anfangen konnte; er war Rechtshänder.
„Bleiben sie dicht hinter mir“, flüsterte Walther Bringhover.
„Da können sie Gift drauf nehmen.“ Peter Heidenreich aus Deutschland sah, wie das riesige Gesäß seines Vordermannes durch die Tür in die Dunkelheit verschwand, und er tat es ihm gleich.
Sofort stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase, aber er konnte noch nicht sagen, um was es sich handelte.
„Hier stinkt’s verdammt nach Pisse.“ Walther Bringhover sprach so leise, das Peter Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen, aber er musste ihm Recht geben, es roch leicht nach Urin.
„Wir werden zuerst in die Küche gehen.“ Und schon hörte Peter Heidenreich aus Deutschland, wie Walther Bringhover wieder davonschlich. Er konnte bereits nichts mehr sehen, und er fragte sich, warum Mr. Bringhover kein Streichholz anzündete.
Der extreme Gestank nach abgestandenem Urin nahm von Schritt zu Schritt zu und Peter atmete flach durch den Mund. Seine Hand schien ein einziger Feuerball zu sein, und er biss seine Zähne heftig zusammen. Auf einmal stieß er gegen ein großes weiches Etwas. Seine rechte Hand wurde gegen seinen Brustkorb gedrückt und er schrie leise auf. Eine Hand griff nach seinem Arm, und er wollte gerade den Hammer heben, als Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende sagte: „Hören sie das?“ Sie lauschten. War da nicht ein Wimmern?
Es kam aus der Küche, und da sie es jetzt ziemlich deutlich hören konnten, gingen sie davon aus, dass die Küchentür geöffnet war.
Aber gleichzeitig war da noch ein anderes Geräusch. Es klang, als ob jemand mit der Hand in Schlamm schlug.
„Was ist das?“ fragte Peter Heidenreich aus Deutschland.
„Keine Ahnung. Lassen sie uns näher herangehen“, antwortete Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende und schlich vorsichtig weiter.
Peter Heidenreich war ganz und gar nicht von der Idee begeistert, folgte ihm aber dennoch.
Jetzt hatte sie die Küchentür fast erreicht, und Walther Bringhover hielt erneut an. Peter stieß wieder leicht gegen seinen großen Rücken. Das platschende Geräusch war jetzt verstummt, stattdessen vernahmen sie ein tiefes gurgelndes Atmen und dieses Wimmern.
Peter Heidenreich hörte, wie Walther Bringhover in seinen Taschen wühlte. Bestimmt suchte er die Streichhölzer.
„Wollen sie wirklich eins anzünden?“ fragte er so leise er konnte.
Walther Bringhover drehte sich um. „Haben sie eine bessere Idee?“
Hatte er nicht und so ließ er ihn gewähren.
Jetzt hörten sie schlurfende Schritte, und das schwere Atmen wurde hektischer. Auf einmal verwandelte sich das leise Wimmern in einen ohrenbetäubenden Schrei. „Nein, bitte nicht, neiiiiiii...“ Dann wieder dieses undefinierbare platschende Schlammgeräusch.
„Los Mr. Bringhover, machen sie ein Streichholz an!“ Diesmal gab sich Peter Heidenreich aus Deutschland keine Mühe leise zu sein. Er hatte den Hammer fest umklammert. Der Schrei hatte sich mittlerweile in einer Crescendo höchsten Tonlage verwandelt.
„Los, kommen sie, Peter. Wir müssen näher ran. Ich werde gleich mehrere Streichhölzer auf einmal anzünden.“
Sie stolperten auf die Geräuschkulisse zu. Als sie die Tür erreicht hatten, verstummte wieder das platschende Geräusch. Der Gestank nach faulendem Urin war hier fast unerträglich. Der Schrei schlug wieder in ein lautes Wimmern um.
Und dann hörte Peter Heidenreich aus Deutschland das Ratschen von Streichhölzern auf einer Reibefläche.
Nichts geschah!
Das schwere Atmen verwandelte sich in ein röchelndes Gurgeln.
Wieder ein Ratschen. Nichts!
Jetzt setzten wieder die schlurfenden Schritte ein. Peter Heidenreich aus Deutschland stellte mit Entsetzen fest, dass sie auf die Tür zukamen.
Ratsch!
„Verdammte Scheiße, die Dinger brennen nicht“, schrie Walther Bringhover.
Das schlurfende Geräusch wurde lauter. Jetzt setzte auch das Atmen wieder ein.
Ratsch!
Peter ging ein Stück zurück. Seine Hand schmerzte unverändert.
Ratsch! Mit einem zischenden Laut entstand eine kleine Flamme, entzündete andere Streichhölzer und wurde größer.
Und dann bot sich ihnen ein Bild, welches selbst den hartgesottenen Walther Bringhover den Atem stocken ließ.
Etwa drei Meter vor ihnen stand Mikey, oder zumindest das, was einmal Mikey war. Links über seinem Ohr wucherte ein etwa kokosnussgroßes pulsierendes Geschwür. Seine Augen waren so verdreht, dass nur noch das Weiße sichtbar war. Sein Mund war geöffnet und ein Speichelfaden hing daraus hervor und erreichte fast den Boden. Das rechte Bein war eine fleischige, dickgeschwollene Masse, an deren Ende vier etwa daumendicke und zwanzig Zentimeter lange Zehen über dem Boden schleiften. Sein kleines Glied stach steif gegen seine mit dicken Flecken beschmierte Schlafanzughose.
Peter Heidenreich musste an einen alten Horrorklassiker denken, den er mal gesehen hatte. Ein Dr. Mazubil hatte durch einen Laborversuch ein Wesen erschaffen. Er taufte es nach seinem Namen: Mazubil, und es sah Mikey verblüffend ähnlich. Er wusste nur nicht mehr, was hinterher aus ihm geworden war.
In der rechten Hand hielt „Mikey“ ein bluttriefendes Metzgerbeil.
Das Wimmern kam von Maximilian Buck. Er lag blutverschmiert vor einem der Küchenschränke. Aus seiner rechten Schulter war ein großes Stück Fleisch gehauen, das an einem Hautfetzen nach unten klaffte und den Schulterknochen freilegte.
Dieses Etwas schien ihn wohl mit dem Beil bearbeitet zu haben, denn auch seine Kniescheibe war gespalten. Daher auch diese seltsamen Geräusche.
Hinter „Mikey“ lag eine weitere Gestalt. Vermutlich Mrs. Fletcher, aber das konnten sie bei dem schwachen Licht nicht erkennen. Was jedoch sowohl Peter Heidenreich aus Deutschland als auch Walther Bringhover, dem zweiten Vorstandsvorsitzenden nicht verborgen blieb, war die Tatsache, dass ihr Kopf in der Nähe der Spüle lag, obwohl sich Mrs. Fletcher, oder wer es auch war, direkt neben dem Küchentisch befand.
Und dann hatte die Streichholzflamme Walther Bringhovers Finger erreicht, und er ließ sie auf den Boden fallen, wo sie sofort erlosch.
Peter Heidenreich aus Deutschland spürte einen starken Würgereiz in sich aufsteigen. Und dann wieder dieses matschende Geräusch. Walther Bringhover schrie.
Peter Heidenreich hörte, wie die Brechstange auf den Boden fiel. Das Atmen hatte sich jetzt wieder in dieses penetrante Gurgeln verwandelt.
„Er hat mich am Bein erwischt, Peter. Los, helfen sie mir!“ Peter Heidenreich vernahm Kampfgeräusche. Der Uringestank raubte ihm den Atem.
Unentschlossen verstärkte er den Griff um seinen Hammer. Und dann schrie Walther Bringhover erneut.
„Scheiße, Peter, wo sind sie?“ Es war mehr ein Heulen.
Peter Heidenreich aus Deutschland stürmte los. Als er die Kämpfenden erreicht hatte, bekam er einen Schlag ins Gesicht und fiel zurück. Zum Glück nicht auf seinen pulsierenden Finger.
Walther Bringhover schrie erneut. Und wieder dieses Geräusch von ins Fleisch eindringendem Stahl.
Peter Heidenreich lag auf dem Rücken und tastete nach dem Hammer. Dann hörte er einen dumpfen Aufprall und Walther Bringhover war verstummt.
„Mr. Bringhover?“ schrie Peter, er vernahm wieder das Wimmern von Maximilian Buck.
„Mr. Bringhover! Was ist passiert?“ Und dann hörte er das schwere Atmen. Sofort zog sich sein Hodensack zusammen.
„Oh Gott“, flüsterte er. Den rechten Arm fest gegen den Brustkorb gepresst, schob er sich langsam zurück.
Das Atmen kam näher.
Ratsch!
Peter Heidenreich stutzte.
Noch einmal. Ratsch!
Und dann flammte wieder ein Streichholz auf. Walther Bringhover, der zweite Vorstandsvorsitzende hielt es hoch. Er lag mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Aus seinem Bauch hing irgendetwas Schlangenartiges auf den Korridorboden, und auch an seinem Hals klaffte eine große Wunde, aus der Blut, wie aus einem Wasserhahn floss.
Der „Mazubil“ stand genau zwischen ihnen. Peter Heidenreich hatte das Gefühl, als ob das Geschwür an seinem Kopf noch größer geworden wäre. Es pulsierte rhythmisch.
Die Augen waren immer noch verdreht, und mit einem verzerrten Grinsen kam er auf Peter zu.
Peter Heidenreich blickte nach links. Dort lag sein Hammer.
„Schlagen sie ihn tot“, hörte er Walther Bringhover röcheln. Das Wimmern von Maximilian Buck hatte aufgehört.
Peter Heidenreich aus Deutschland griff nach dem Hammer. Er hatte ihn gerade erreicht, als er einen wütenden gurgelnden Laut direkt vor sich hörte. Er blickte nach oben und sah, wie der „Mazubil“ mit dem mutierten Fuß ausholte. Peter wollte die Hand noch wegziehen, aber das Wesen war schneller. Er sah, wie die Hand unter den krallenartigen Zehen verschwand, hörte ein lautes Knirschen und schrie. Dann war es wieder dunkel.
Peter Heidenreich schlug mit der anderen Faust zu. Er dachte gar nicht mehr an den nicht mehr vorhandenen Fingernagel, die Schmerzen in der anderen Hand übertrumpften alles. Er traf ein kleines hartes Etwas, und der „Mazubil“ kreischte auf. Augenblicklich verschwand der „Fuß“ von seiner zerquetschten Hand.
Vor Schmerz heulend kam Peter Heidenreich auf die Beine. „Mr. Bringhover“, wimmerte er, „machen sie bitte noch ein Streichholz an“, doch er wusste, dass Walther Bringhover dieser Aufforderung nicht mehr nachkommen konnte.
Er taumelte vorwärts und stieß nach kurzer Zeit mit den Schienbeinen gegen eine Erhebung. Er griff instinktiv nach rechts und bekam das Treppengeländer zu fassen, bevor er hinten überfiel. Hinter sich verwandelte sich das Kreischen wieder in ein wütendes Gurgeln. „Heidenreich! Wo bischt du Sau?“ Die Stimme hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Peter Heidenreich stolperte die Treppe hinauf.
„Wooa bischt duah Shhau?“ Jetzt kreischte es wieder.
Peter stolperte und schlug hart mit den Knien auf. Sofort zog er sich wieder am Geländer hoch.
„Jeschscht haob isch dischsch gäähöaat, Haaidenraisch.“ Peter Heidenreich konnte aus den gurgelnd kreischenden Lauten kaum noch etwas heraushören, doch er wusste, dass der „Mazubil“ ihm jetzt folgen würde.
„Iaschsch wäaaradä diarrr aarlle Exschschträamihtäaten ainschäln aarbhackchen, Haaidenraisch!“
Peter Heidenreich aus Deutschland schrie, „Lass mich in Ruhe, du verdammtes Mistding“, und stolperte heulend weiter. Er hörte die Treppenstufen hinter sich quietschen. Noch zwei Stufen, dann hatte er den ersten Stock erreicht. Er rutschte erneut aus und umklammerte das Geländer. Der Uringestank wurde stärker, und Peter Heidenreich musste wieder diesen Würgereiz unterdrücken.
Jetzt hatte er den Flur erreicht und lief nach rechts. Er würde aus Mikeys Fenster springen. Darunter befand sich der alte Schuppen, und wenn dieser hielt, könnte er es schaffen. Er stolperte über den Flur. Wenn jetzt irgendetwas im Weg liegen würde, würde er sich sämtliche noch heilen Knochen brechen.
„HHHhaarrschschraaarischch!“ Peter Heidenreich zuckte wieder zusammen. Das Kreischen schien nicht mehr weit zu sein. Wo war die verdammte Tür?
Und dann trat er gegen etwas und es prallte gegen die Wand. Peter bückte sich und tastete auf dem Boden herum. Matschende Geräusche und gurgelndes schweres Atmen hinter ihm. Der „Mazubil“ müsste jetzt auch das obere Stockwerk erreicht haben, denn der Boden schien bei jedem matschenden Laut zu vibrieren.
Peter Heidenreich keuchte, und der Rotz lief ihm aus Mund und Nase. Und dann umklammerten seine Finger einen kleinen Gegenstand aus Plastik. Eine Taschenlampe!
Er drehte sich um. Das rasselnde Atmen war verstummt.
Peter streckte die Hand mit der Taschenlampe aus und betätigte den Einschaltknopf. Ein flackernder schwacher Lichtkegel wurde ausgesandt.
Und da stand er, direkt vor ihm. Der „Mazubil“!
Das mutierte Bein hatte sich in der Zwischenzeit in einen riesigen, pulsierenden Fleischbrocken verwandelt, auf welchem sich dicke blaue Adern um dunkelrote freigelegte Muskelfasern schlangen. Die Schlafanzughose war verschwunden.
Das andere Bein sah noch relativ normal aus, es war vielleicht ein wenig zu dick für das eines neunjährigen Jungen. Der kleine Penis war jetzt ein dickes, schlangengurkenartiges Etwas, an dessen unteren Ende sich mehrere etwa drei Zentimeter lange Tentakeln wanden. Sie sahen fast aus wie dicke weiße Würmer.
Der rechte Arm war verschwunden. Stattdessen zuckten aus einem fleischigen Stumpf unzählige dieser weißen Würmer, nur dass diese etwa einen halben Meter länger waren. Der linke Arm war ähnlich wie das linke Bein nur stark angeschwollen.
Und dann sah Peter Heidenreich aus Deutschland das Geschwür. Es erinnerte ihn an diese Hüpfbälle auf denen er als Kind sitzen konnte und durch die Gegend hüpfte. Es hatte etwa einen Durchmesser von einem Meter und war mit unzähligen kleinen Adern übersäht. Seine Haut war so gespannt, das Peter in seinem Inneren sich bewegende Schatten erkennen konnte.
„Mikeys“ linkes Auge war aufgeplatzt und auch hier wanden sich die tentakelartigen Würmer.
Peter Heidenreich aus Deutschland schrie. Das Wesen öffnete seinen Mund - augenblicklich fielen ein paar Würmer heraus - zu einem perversen Grinsen.
Peter Heidenreich sah die Hand zu spät. Sie traf ihn mit unglaublicher Wucht auf seinem rechten Ohr. Er wurde gegen das Flurgeländer geschleudert, welches sofort berstend nachgab. Und dann fiel er.
Er hörte noch das triumphierende Kreischen des „Mazubils“, dann prallte er auf. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, und er dachte für einen Augenblick, sämtliche Organe würden ihr folgen.
Er sog die Luft wieder ein und blickte nach rechts. Die flackernde Taschenlampe lag neben ihm. Über sich hörte er wieder dieses Kreischen.
Er wunderte sich, warum er noch lebte und griff nach der Lampe. Sein Oberkörper lag auf etwas Weichem. Das war also der Grund. Er drehte sich um und starrte in das verzerrte Gesicht von Mrs. Hendsom, Johanna, geborene Wilkingbourow. Ihre Schädeldecke war gespalten und eine rosa Masse quoll daraus hervor.
Peter Heidenreich aus Deutschland schrie wieder und das Kreischen im ersten Stock verstummte.
„Ich werde dich umbringen, du elendes Mistviech!“ schrie er in die Dunkelheit und Tränen liefen über seine Wangen.
„Ich werde dich umbringen!“
Er hatte diese Frau geliebt. Heimlich und innig. Dieser Schmerz des Verlustes übertraf fast den in seiner zertrümmerten Hand.
„Dafür werde ich dich umbringen“, jetzt war es nur noch ein tränenersticktes Wimmern.
Peter leuchtete nach oben. Er sah nichts, das Licht war zu schwach, doch er hörte jetzt, wie sich diese matschigen Geräusche wieder Richtung Treppe bewegten.
Peter Heidenreich stand auf.
„Los, komm runter!“ schrie er. Als Antwort erhielt er ein gurgelndes Kreischen.
Jetzt begannen wieder die Treppenstufen zu quietschen. Peter leuchtete auf die Treppe. Und dann sah er ihn. Er bewegte sich nur noch auf diesem dicken fleischigen Stumpen mit den seltsamen Zehen fort. Das linke Bein stand in einem grotesken Winkel seitlich ab und schlug gegen das Treppengeländer. Die Würmer aus seinem Auge waren gewachsen und zuckten in wilder Extase um seinen Kopf.
Peter blickte zur Haustür. Sie war etwa zehn Meter von ihm entfernt. Das würde er nicht mehr schaffen. Er sah sich weiter um. Womit konnte er ihm etwas anhaben?
Der Keller! Dort würde er etwas finden. Er drehte sich um und rannte zu der noch offenen Tür. Er musste an Walther Bringhover denken, vor etwa fünf Minuten war er noch vor ihm hier herausgeschlichen.
Peter leuchtete zurück. Das Wesen hatte jetzt die letzte Stufe erreicht und kam um das Treppengeländer herum. Dabei brach das linke Bein ab und baumelte unnütz an dem dicken Fleischbrocken.
Peter Heidenreich rannte die Kellertreppe hinunter. Das gedämpfte Licht des Heizungskessels empfing ihn. ‚Das Licht kommt vom Gasofen’, hörte er Walther Bringhovers Stimme in seinem Kopf. Genau! Der Gasofen! Er würde das ganze Haus mitsamt diesem elenden Ding in die Luft jagen.
Hinter ihm gab es ein krachendes Geräusch. Peter Heidenreich leuchtete zurück. Der „Mazubil“ hatte die Kellertür herausgerissen und kam jetzt die Treppe hinunter. Er entdeckte Peter Heidenreich aus Deutschland und stieß wieder dieses triumphierende Kreischen aus. Der riesige „Gummiball“ stieß gegen den Türrahmen, und ein Stück Haut riss auf. Sofort wandte sich ein kleiner weißer Wurm daraus hervor und fiel auf die Steinstufen. Zuckend entschwand er in einer Ritze.
Peter Heidenreich rannte los, stolperte über am Boden liegende Konservendosen und rannte weiter. Eine Wolke faulenden Uringestanks, vermischt mit einem anderen undefinierbaren üblen Geruch, stieg ihm in die Nase.
Er umrundete das Holzregal und erreichte den Heizungsraum. Abrupt blieb er stehen und blickte zurück. Er hatte sich tatsächlich nicht getäuscht, dort an der Kopfwand hing der Sicherungskasten. Genau an der Stelle, wo er ihn vorhin gesucht und nicht gefunden hatte. Peter Heidenreich aus Deutschland betrat verwirrt den Heizungsraum.
Eine schwüle Hitze stieg ihm entgegen. Im anderen Raum stürzte mit einem lauten Poltern das Regal um. Peter schlug die schwere Eisentür zu und drehte den Schlüssel. Im selben Augenblick schlug etwas heftig von außen dagegen. Peter machte einen Schritt zurück.
Wieder ein Schlag und die Tür vibrierte. Davor wütendes Kreischen.
Peter drehte sich um. Vor ihm stand ein großer alter Gasofen. Mehrere Rohre und Leitungen verliefen durch den Raum, verschwanden in der Decke oder in die Wand.
Wieder ein ohrenbetäubender Schlag. Jetzt erkannte Peter Heidenreich, dass die Tür bereits einige Beulen aufwies. Hastig sah er sich weiter um.
Da waren Ventile! Er rannte darauf zu und versuchte daran zu drehen. Dazu musste er die Taschenlampe aus der Hand legen.
Das Ventil ließ sich ohne weitere bewegen. Peter vernahm ein gluckerndes Geräusch, doch weiter geschah nichts.
WUMM! Peter zuckte zusammen. Die Tür war deutlich nach innen ausgebeult.
‚Warte, gleich hast du dich ausgehämmert’, dachte er voller Verbitterung und versuchte das nächste Ventil.
WUMM! Ein lautes Kreischen. Der Putz um den Türrahmen fiel herunter.
Peter öffnete den Ofen. Er sah Drähte und Uhren.
Wieder ein Stoß gegen die Tür, und jetzt war das Kreischen lauter. Peter blickte auf. Die obere Ecke des Rahmens hatte sich aus dem Putz gelöst.
„Verdammt, wo sind die Gasleitungen?“ Er suchte fieberhaft weiter. Vielleicht hinter dem Ofen. Er rannte los. Durch den Spalt zwischen Türrahmen und Mauerwerk schob sich jetzt einer dieser langen weißen Würmer, tastete herum und bewegte sich Richtung Schlüsselloch. Peter stellte mit Entsetzen fest, dass der Schlüssel noch steckte. Er wollte gerade hinrennen, um ihn abzuziehen, als er mit dem Fuß gegen einen Gegenstand stieß, der dann laut gegen den Ofen schepperte. Es war ein großer Schraubenschlüssel.
Peter hob ihn auf, rannte zur Tür und schlug gegen diesen zuckenden Wurm. Er platzte sofort auf, und eine dunkelblaue stinkende Flüssigkeit spritzte gegen seine Hand.
Der „Mazubil“ kreischte und der Wurm wurde zurückgezogen.
Wieder ein wütender Schlag gegen die Tür. Erneut flog Putz herunter und der Spalt vergrößerte sich.
Peter Heidenreich wusste, dass die Tür höchstens noch zwei oder drei Schläge aushalten würde.
Er blickte auf den Schraubenschlüssel. Das war’s!
Er rannte zurück zum Ofen. Die kleine Flamme flackerte von dem Luftzug.
Wieder ein Schlag. Das obere Scharnier flog heraus, und die Tür fiel mit einem riesigen Knall in den Raum.
Peter Heidenreich blies die Flamme aus und sofort erfüllte ein Zischen von ausströmendem Gas die Luft.
Das schwache Licht der Taschenlampe leuchtete genau zur Tür. Und da stand er und stieß einen kreischenden Schrei aus. Der „Gummiball“ war noch größer geworden. Peter starrte mit weit aufgerissenen Augen auf diese Mutation. Und dann platzte sie mit einem schmatzenden Laut auf und tausende von weißen Würmern ergossen sich zusammen mit einer klaren schleimigen Flüssigkeit über den ehemaligen Körper des kleinen Mikey.
Jetzt konnte Peter Heidenreich den penetranten Geruch des ausströmenden Gases riechen.
Die Würmer kamen auf ihn zu, und Peter Heidenreich stellte mit zunehmendem Entsetzen fest, dass einige von ihnen dicker wurden und gleich darauf aufplatzten. Ein kleiner rotbrauner Fleischklumpen kam zum Vorschein, und mit einer fast zeitrafferhaften Geschwindigkeit fand eine Zellteilung statt.
In der Zwischenzeit waren weitere Würmer aufgeplatzt und die Prozedur wiederholte sich.
Der „Mazubil“ stand im Türrahmen und kreischte. Der schlaffe, aufgeplatzte „Gummiball“ hing um sein Gesicht und stieß rhythmisch eine eitrige Flüssigkeit aus.
Die zuerst „geschlüpften“ Fleischklumpen hatten mittlerweile eine Größe von etwa dreißig Zentimetern, und jetzt stellte Peter Heidenreich fest, dass sie langsam so aussahen, wie...
Peter schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. Er verstärkte den Griff um den Schraubenschlüssel.
Aber das Bild blieb erhalten. Sie sahen aus wie kleine Menschen! Genauer gesagt, wie Mikey!
Peter schrie. Der „Mazubil“ schwang kreischend den Kopf. Aus dem Loch, an dem bis gerade noch der „Gummiball“ mit seinem fürchterlichen Inhalt hang, wölbte sich ein neues Geschwür.
„Fahr zur Hölle!“ schrie Peter Heidenreich und das Wesen kreischte erneut. Man konnte fast glauben, es lachte ihn aus.
Dann schlug er mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war den Schraubenschlüssel gegen die Steinwand.
Peter Heidenreich aus Deutschland sah, wie Funken aufblitzten, dann war es hell.
- Epilog -
An diesem Abend, um 23.16 Uhr wurde der kleine Ort, in welchem die Hendsoms wohnten von einem extrem lauten „Donner“ erschüttert.
Mrs. Berry saß in ihrem Schaukelstuhl, zuckte zusammen und blickte zu ihrem Mann, der in seinem Sessel eingenickt war. Auch dieser war zusammengezuckt.
„Du meine Güte“, sagte sie, „man kann dem Wetterdienst auch nicht mehr trauen.“
Ihr Mann brummte etwas vor sich hin und schlief weiter. Und Mrs. Berry wandte sich wieder ihrem Fernsehprogramm zu.
Zur gleichen Zeit zerschellte das Schlafzimmerfenster von Margret und William Frescow. Sie wohnten eine Straße weiter als die Hendsoms. Als William Frescow ängstlich nachsah, entdeckte er mitten in ihrem Ehebett einen silbernen Knauf. Mr. Frescow wollte ihn herunternehmen, doch seine Haut blieb daran kleben und kreischend warf er ihn gegen die Wand.
Jetzt steht er in ihrer Glasvitrine im Wohnzimmer, und William Frescow holt ihn immer hervor, wenn er Freunden oder Bekannten seinen vernarbten Handteller zeigt.
Die Mellbrings waren dieses Wochenende über nach Boston gefahren. Zum Glück kann man da schon fast sagen. Sie wollten dort die Schwester von Mrs. Mellbring, Madeleine Hoferichter besuchen.
So erfuhren sie erst am Montag, dass die Hälfte ihres kleinen Hauses verschwunden war.
Aber die Versicherung hatte den Schaden bezahlt und sie hatten es trotz anfänglicher Schwierigkeiten mit der Baufirma, wieder aufgebaut.
Heute Abend, fast zwei Jahre nach dem Unglück, sitze ich hier auf der Terrasse und denke über einige Dinge nach.
Ich habe sämtliche Zeitungsartikel über die Explosion gelesen, es stand nicht viel Wesentliches darin, nur, dass das Haus der Hendsoms aus unerklärlichen Gründen am 24. Mai 1982 explodiert sei. Das meiste war spekulativ, man hatte einige Leichenteile gefunden, die vermutlich von etwa acht oder neun verschiedenen Personen stammten.
Nach Angaben von Hinterbliebenen ging man davon aus, dass es sich hierbei um die Familie Hendsom, um den zweiten Vorstandsvorsitzenden der Firma Cross Inc. W. Bringhover, dem Ehepaar Fletcher und dem Ehepaar Buck handelte. Die zerrissene Leiche einer sich im Heizungskeller befindlichen Person konnte man nicht identifizieren.
Man vermutete, dass es sich um den Verursacher der Explosion handeln musste. Sehr wahrscheinlich ein Einbrecher, der das Licht angeschaltet hatte. Und da vermutlich ein Leck in der Gasleitung war...
Aber ich weiß es besser. Woher kann ich nicht sagen, aber ich träume oft davon.
Dr. Mattle oder Mangle, oder so ähnlich sagt, ich würde die Sache innerlich verdrängen, und deshalb würde ich mich nur im Traum an einiges erinnern. Tja, wer weiß.
„Mikey!“ Das war Mrs. Mellbring. Ich nenne sie jetzt Mutter.
Dafür, dass sie und ihr Mann mich nach dem Unglück adoptiert haben, bin ich ihnen sehr dankbar, ich hätte sonst in ein Heim gemusst. Auch haben sie mir viel bei dem ganzen Theater mit den Reportern geholfen. Es ist ja auch schon eine große Sensation, wenn ein kleines Kind so eine Sache überlebt.
Seit drei Tagen habe ich Kopfschmerzen über dem linken Ohr, und wenn ich dranfasse, spüre ich eine kleine schmerzende Beule. Vielleicht habe ich mich irgendwo gestoßen. Ich glaube, ich muss mal mit Mutter zu Dr. Mattle, oder wie er auch immer heißt, gehen.
ENDE