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McMurphys Lektion
„Er weiß, dass du über die Dinge lachen musst, die dich verletzen, nur um dich im Gleichgewicht zu halten, nur um die Welt davon abzuhalten, dich in den Wahnsinn zu treiben.“
–Ken Kesey
Bücher, die zum richtigen Zeitpunkt auf einen offenen, einen suchenden Geist treffen, verändern das eigene Leben, Bücher, die uns ergreifen, spenden Trost in der dunkelsten Stunde, wenn jede Anstrengung, jedes Aufbäumen, hoffnungslos erscheint, wir an unserer Existenz zweifeln, uns wünschen, die eigene Persönlichkeit in Flammen aufgehen zu lassen, um wie ein Phönix aus der Glut neugeboren zu werden. Ich weiß, wovon ich rede, auch wenn ich mir wünschte, es wäre nicht der Fall.
An einem regnerischen Septembermorgen saß ich nach einer gescheiterten Beziehung auf dem Sofa meiner Wohnung in Rheinbach, eine Studentenbude, bei der im Badezimmer eine der kleinen blauen Kacheln unterhalb der Dusche herausgebrochen war, was mir tagtäglich mein Versagen vor Augen führte, die Vermieterin noch immer nicht angerufen zu haben. Ich starrte in mein Smartphone, hoffte, dass mich die bunten Videos mit all den fröhlichen, erfolgreichen Menschen ablenkten, mir neue Motivation schenkten, aber ich dachte immer nur zurück an Vergangenes. Doch weder das Smartphone noch die Erinnerungen halfen mir, mit der Einsamkeit zurechtzukommen, Einsamkeit, die an mir zerrte, als würde eine fremde Kraft nach und nach meine Substanz abtragen, Einsamkeit, die physisch schmerzte wie bei den Nachwirkungen einer Operation.
Vor mir auf dem Tisch reihten sich Raviolidosen aneinander. Die Fenster hätten dringend eine Reinigung benötigt, das einfallende Morgenlicht verdeutlichte den Schmutz nur zu deutlich und aus dem Badezimmer wehte mir ein unappetitlicher Geruch entgegen. Wie dringend müsste ich abwaschen, aufräumen und putzen, stattdessen saß ich einfach nur da. Mir fehlte jegliche Kraft. Ich musste an meinen Vater denken, einen renommierten Rechtsanwalt, der sich letztes Jahr mit Burnout in eine Klinik hatte einweisen lassen. Ob ich dem gleichen Schicksal entgegenblickte? Mit zweiundzwanzig Jahren schon nicht mehr lebensfähig, ausgebrannt, depressiv?
Ich griff nach einer Packung Käse, die neben den Raviolidosen lag, Brot hatte ich keines mehr: Ein widerlicher Geschmack breitete sich in meinem Gaumen aus, milchig und verfault. Alles ging den Bach runter. Meine negativen Gedanken, meine Antriebslosigkeit, würden mich in den Ruin führen und obwohl ich selbstreflektiert genug war, um diese Erkenntnis zu haben, konnte ich nichts dagegen unternehmen. Oder war auch das ein dysfunktionaler Gedanke?
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es kurz vor zehn war. Ich öffnete meinen Laptop, wählte mich in die Onlinevorlesung ein, schaltete Ton und Bild aus, um wenigstens das Gefühl der Anwesenheit zu haben, und fragte mich, was ich als nächstes machen sollte. Netflix schauen? Es gab keine Serie mehr, die mich interessierte. Playstation? Skyrim war bis zum Exzess durchgezockt, auf Call of Duty hatte ich keine Lust und bei Dark Souls verzweifelte ich an den Bosskämpfen. Was also tun? Meine Augen blieben am Bücherregal haften und ich erinnerte mich an das Buch, was mir mein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Wie war der Titel noch mal? Es machte mich kirre, dass ich nicht darauf kam. Nach anstrengenden, vergeblichen Versuchen, mich an den Autor zu erinnern, robbte ich an die äußerste Kante des Sofas, streckte meinen Arm aus und zog das Buch aus dem Regal. Einer flog über das Kuckucksnest von Ken Kesey. Ich roch daran, so wie immer, und schlug die erste Seite auf und während sie da draußen waren, zog mich die Geschichte in ihren Bann, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, ohne, dass meine negativen Gedanken intervenierten. Es war an der Zeit für McMurphy und Bromden. Immer tiefer versank ich in die Lektüre, war selbst in der Anstalt, stellte mir die große Schwester vor, die Maschinen und Kabel, die unterirdische Gefahr; dann das Schwimmbad, sah McMurphy, der sich seiner Situation bewusst wurde, erlebte den tragischen Vorfall mit dem Gitter, um schon die Passage auf dem Boot zu verschlingen, bei der sie einen kühnen Plan ausführten, um in Freiheit Fische zu fangen.
Draußen wurde es langsam dunkel, mit einer kurzen Unterbrechung, um auf Klo zu gehen und mir Bananen einzuverleiben, las ich weiter, bis die Stelle mit den Elektroschocks folgte, die Party, die ausartete und dann erfasste mich Trauer, als ich realisierte, was mit McMurphy passierte. McMurphy. Er war der Edle, der sich für alle anderen opferte, ihnen wieder Hoffnung schenkte, er war der Held, der den Insassen Träume vermittelte, Häuptling Bromden wieder groß machte, ihm damit indirekt zur Flucht verhalf und der auch mir wieder Mut verleihte.
Mittlerweile war es stockfinster, ich hatte Tränen in den Augen und drückte das Buch an meine Brust. Was wohl McMurphy zu mir sagen würde, wenn er mich treffen könnte? Er würde wahrscheinlich auf dem Standpunkt beharren, dass ich jederzeit aktiv werden könnte, egal wie schlimm die Umstände auch immer seien. Ich musste grinsen, wischte mir die Tränen weg und trug zwei Erinnerung in mein iPhone für den nächsten Tag ein.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war das Wetter noch immer trüb, aber ich merkte, dass es mir nichts mehr ausmachte. Ich rief meine Vermieterin an und sagte, dass die Kachel im Badezimmer beschädigt sei und bat sie, einen Handwerker zu beauftragen. Daraufhin spülte ich das herumstehende Geschirr, schmiss die Raviolidosen und die sonstigen leeren Verpackungen in den Gelben Sack, rief meinen Vater an (er ging nicht ran), schrieb bei uns in die WhatsApp Gruppe und fragte, ob jemand Lust hätte, heute Abend vorbei zu kommen (was der Fall war) und ging einkaufen.
Die kalte Luft tat gut, ich kam an dem griechischen Imbiss vorbei und ging etwa 500 Meter weiter bis der Kreisel kam, dort überquerte ich die Straße, bog nach links ab und vor mir tauchte der große Parkplatz von ALDI auf. Mir fiel ein roter Toyota Aygo auf, der in der Nähe des Eingangs stand und ich fand ihn dermaßen hässlich, dass ich lachen musste. McMurphy und Bromden hatten recht gehabt: Selbst wenn die Welt ins Chaos stürzt, ist Humor noch immer die beste Antwort.
Nachdem ich eingekauft hatte und wieder in meiner Wohnung angekommen war, räumte ich weiter auf. Meine Jungs würden gegen 19 Uhr kommen, bis dahin musste alles klar Schiff sein. Als ich fertig war, setzte ich mich auf das Sofa, dachte wieder an meine Ex, was höllisch weh tat und holte mein Smartphone hervor. Doch diesmal surfte ich weder auf Instagram noch auf Youtube, sondern suchte nach einer Zeichnung von McMurphy, die ich downloadete und mir als Hintergrundbild einstellte. Mir gefielen die roten Haare und sein verschmitzter Gesichtsausdruck. In diesem Moment erkannte ich, weshalb Bücher niemals aussterben und selbst in einer hochtechnologisierten Welt einen Platz in dieser Welt haben. Zumindest bei mir.
- Quellenangaben
- Kesey, K.(2021) Einer flog über das Kuckucksnest. Rowohlt Verlag GmbH.