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Meg und ich

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08.07.2003
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Meg und ich

Früher fanden die Menschen uns süß. Niedlich, riefen unsere Nachbarinnen, die im Garten Wäsche aufhängten, wenn wir von der Schule kamen. Meg und ich, Hand in Hand, in unserer identischen blau-weißen Schuluniform, die brauen Ledertaschen nachlässig an unseren Rücken hin-und herschlenkernd, mit dem teilweise abgenagten Glitzernagellack an unseren Fingernägeln, den wir uns gegenseitig zu Weihnachten geschenkt hatten-das Höchste an Schminke, was damals jungen unverheirateten Mädchen zustand.
Wir wurden so lange mit lächelnden Blicken bedacht, dass ich anfangs gar nicht merkte, wie sich ebendiese langsam in verwirrte und später dann in angeekelte oder schockierte Mienen verwandelten.
Nur ein Zwischenfall ist mir im Gedächtnis geblieben, die Erinnerung an einen bitterkalten Tag im Winter 1956. Meg und ich kamen wie immer gemeinsam aus der Schule, wie immer Hand in Hand. Wir hielten uns aneinander fest, während wir uns durch das heftige Schneegestöber zu Megs Elternhaus vorkämpften. Wir waren bereits am Anfang der Market Street, als ich eine bekannte Stimme meinen Namen rufen hörte. Es war Donnerstag, und wie in jedem Jahr waren in der Market Hall anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes unzählige Verkaufsbuden mit Süßigkeiten und anderen Leckereien aufgebaut worden. Aus ebendiesem Gebäude sah ich Mrs. Gloria Parker, unsere Nachbarin, von oben bis unten mit Einkaufstüten bepackt, kommen. In der rechten Hand hielt sie einen rot glänzenden kandierten Apfel. Sowie der jährliche Weihnachtsmarkt in Galway war es Tradition, dass ich von Mrs. Gloria kurz vor Weihnachten eine besondere Leckerei geschenkt bekam.
Nun kam sie auf mich zu, ihre Wangen von Wind und Kälte gerötet. Ich lächelte. Sie lächelte ebenfalls. Und plötzlich, von einer einzigen Sekunde auf die andere, erlosch ihr Lächeln. Sie blickte mich und Meg abwechselnd an, zuerst verdutzt, dann entsetzt. Ihr Blick fiel auf unsere ineinander verschlungenen Hände, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie murmelte einen knappen Gruß, ihre Stimme nicht wärmer als dieser frostige Wintertag, während sie den kandierten Apfel wieder einsteckte und schnell im nächstbesten Laden verschwand.
Meg und ich standen eine Weile regungslos da, bis mich meine beste Freundin in die Seite stieß. Wir sahen uns an. Und dann rannten wir. Wir rannten, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter uns her. Gute zwei Minuten rannten wir, bis wir bei Megs Haus am Ende der Straße ankamen. Ich hatte schreckliches Seitenstechen, mein Herz klopfte bis zum Zerspringen.
Der Wind war stärker geworden und peitschte uns die Schneeflocken ins Gesicht. Meg schloss die Haustür auf , trat ein und ging wortlos und ohne mich anzusehen voraus in ihr Zimmer im ersten Stock. Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, ihrem mit Seide und Chintz ausgekleidetem Refugium, ihrem persönlichen Reich, ihrem immer nach Rosen duftendem kleinem Traumschloss.
Ich schloss die Zimmertür hinter mir und merkte, dass ich immer noch zitterte. Und dann drehte sich Meg zu mir um. Ihre grünen Augen waren geweitet, ihre roten Haare hingen ihr wirr um die Schultern. Ich weiß nicht mehr, was mir in dem Augenblick durch den Kopf gegangen ist, als Meg sich zu mir beugte und mich küsste. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Mein Vater, der spätabends schreiend und fluchend von seiner Stammkneipe heimkam, das laute Klatschen, wenn er meine Mutter schlug, ihr leises Weinen, unser einstöckiges Haus am äußersten Rande der Stadt, durch dessen undichtes Dach der Regen hereintropfte-all das rückte in weite Ferne. In diesem Augenblick gab es nur noch uns beide. Meg und mich. Mich und Meg. Zwei durchgefrorene sechzehnjährige Mädchen, die sich küssten und sich verzweifelt aneinanderklammerten, jede von beiden in der Angst, sie würde die andere verlieren, würde sie ihre Hände auch nur ein bisschen lockern.
Ich weiß nicht, ob es fünf Minuten oder fünf Stunden waren. Ich weiß nur, wie nach einer unbestimmten Zeit eine Männerstimme laut „Margaret“ rief. Nahe. Der Besitzer der Stimme stand womöglich schon vor Megs Zimmertür. Hastig lockerte ich meine Umarmung. Panik ergriff mich, als ich die schweren Schritte auf dem Parkettboden hörte. Meg warf mir einen flehenden Blick zu.
Im nächsten Moment stand ihr Vater im Zimmer. Ich war kurz darauf, verzweifelt loszuweinen.
Natürlich hatte Mr. O’Bankett nichts bemerkt. Alles, was er sah, waren zwei Mädchen in Schuluniform, die wie versteinert nebeneinander standen.
„Guten Tag, Isabel. Möchtest du mit uns abendessen?“, fragte der korrekt gekleidete Mittvierziger mit den kurzen, leicht angegrauten Haaren und der blassroten Krawatte.
Ich musste wohl „ja“ gestammelt haben, jedenfalls saß ich fünf Minuten später zwischen Mrs. O’Bankett und Meg beim Esstisch und spießte mit zitternden Fingern Fleischstücke auf meine Gabel, während ich mechanisch Fragen nach meinen Eltern und der Schule beantwortete. Den ganzen Abend wagte ich es nicht, Meg ins Gesicht zu sehen. Panisch versuchte ich, irgendeine Veränderung im Ausdruck von Megs Eltern zu erkennen. Konnte man es mir ansehen? Stand mir das,was ich eben getan hatte, ins Gesicht geschrieben?
Verdreht. Abnormal. Pervers. Eine Invertierte. Bis jetzt hatte ich nur von den alten Frauen, die sich hin und wieder entsetzt und hinter vorgehaltener Hand über dieses Thema äußerten, darüber gehört.
Diese Nacht wälzte ich mich in meinem Bett hin und her, unfähig, einzuschlafen. Am nächsten Tag ging ich wieder mit Meg von der Schule heim. Dieses Mal jedoch berührten sich unsere Hände nicht.
Zwei Wochen vergingen, ohne dass ich mit meiner besten Freundin mehr geredet hatte als unbedingt nötig. Und dann fand ich Megs Brief in meinem Spind, zwischen den beiden Englischlehrbüchern.
Eigentlich war es mehr eine kurze Notiz. "Liebste Isabel",schrieb Meg in ihrer kleinen, geschwungenen Schrift,"es ist mir gleichgültig, was die anderen denken.Ohne dich bin ich nichts. Meg"

Tagelang lag ich zuhause und grübelte. Doch dann kam der Mittwoch, und ich wagte mich wieder aus meinem Zimmer hinaus. Nicht, weil ich unbedingt unter Leute wollte, sondern eher, weil ich den Eindruck erwecken wollte, ganz normal zu sein. Obendrein hatte ich am Mittwoch Klavierunterricht, was in Anbetracht der finanziellen Lage meiner Eltern ein großes Privileg war, nur ermöglicht dadurch, dass meine große Schwester Antonia drei Monate zuvor geheiratet hatte und mit ihrem Ehemann nach Dublin gezogen war. Ein Maul weniger zu stopfen. Während ich an diesem verschneiten Mittwochnachmittag die drei Blocks zu meinem Klavierlehrer in der Ford Avenue ging, erinnerte ich mich an Antonias Hochzeit im Oktober. Ich wusste, das war es, was meine Eltern früher oder später(besser früher) auch von mir erwarteten: Dass ich mir einen ordentlichen Mann mit passendem Beruf suchte, der mich für den Rest meines Lebens versorgen würde. Mit ihm in eine angemessene Wohnung, oder besser noch, ein kleines hübsches Einfamilienhaus, ziehen würde.
Ich erinnerte mich an meinen achten Geburtstag, an ein kleines schwarzgelocktes Mädchen, das auf die Frage, was sie machen würde, wenn sie einmal groß werde, Stein und Bein geschworen hatte: „Ich werde Meg heiraten!“ Mit einem wehmütigen Lächeln dachte ich in diesem Moment an jenen Tag zurück. Damals hatten alle herzlich gelacht, entzückt von dem kleinen schlaksigen Wildfang in zerrissenen Jungenklamotten, das vorhatte, seine hübsche rothaarige Freundin zu heiraten. Meine Mutter hatte mich und Meg lachend an sich gedrückt und Tante Augusta aufgefordert, sie umgehend mit ihren beiden „Goldstücken“ zu fotografieren.
Doch die Zeit war verstrichen, und viel zu schnell war ich in das Alter gekommen, in der sich damals ein junges Mädchen bereits Gedanken um ihre Zukunft mit einem passenden Ehemann machen musste. An meinem sechzehnten Geburtstag war alles so wie ein halbes Leben vorher: Meg war die erste, die zu meiner bescheidenen Geburtstagsfeier erschien, und die letzte, die ging. Nur mit dem Unterschied, dass zu diesem Zeitpunkt keiner mehr gelacht hätte, wenn ich wiederum meines festen Vorhabens, Meg zu heiraten, so ernsthaft wie damals mit acht Jahren Ausdruck verliehen hätte. Was würden all diese Leute sagen, wenn sie wüssten, was zwischen mir und meiner besten Freundin vorgefallen war? Wenn sie wüssten, wie warm mir ums Herz wurde, wenn nur von Meg die Rede war? Ich erinnerte mich an Mrs. Glorias angewiderten Ausdruck und zuckte innerlich zusammen.
Und dann sah ich sie. Sie war keine zehn Meter entfernt. Meg. Mein Herz schlug schneller, und ich blieb mitten auf dem Gehsteig stehen.
Meg hatte ihren Kopf gesenkt, und in ihrer Hand hielt sie eine kleine hellblaue Einkaufstüte. In einem Sicherheitsabstand von einigen Metern verfolgte sie ihr Verehrerschwarm aus unserer Klasse. Sie bemerkte keinen von ihnen.
Und dann sah sie mich. Doch sie bleib nicht stehen. Langsam, aber unaufhaltsam kam sie auf mich zu.
„Hallo Belle“, begrüßte sie mich leise. Ich nickte nur, unfähig, etwas zu sagen.
„Du hast seit Montag in der Schule gefehlt“, fuhr sie traurig fort. Und nach einer Weile: „Ich habe für dich mitgeschrieben.“ Wieder brachte ich nur ein wortloses Nicken zustande, wohl wissend, dass meine versäumten Aufgaben das letzte war, was uns beide jetzt interessierte.
Und Meg wusste es auch. Schweigend gingen wir beide zu ihrem Haus.

Als Mädchen ein anderes Mädchen zu lieben war zu dieser Zeit mit dem gesellschaftlichen Tod gleichzusetzen, vor allem in einer Kleinstadt in Irland. Meg und ich waren uns beide dieser Tatsache bewusst. Doch sowie ein anfangs zitternder und nervöser Amateureinbrecher nach und nach an Routine gewinnt, so ließ auch bei uns mit der Zeit die Angst nach. Mein Blick schweifte nicht mehr hastig zu Meg, wenn wir mit ihren Eltern um den Esstisch herum saßen und mechanisch Beiträge zu dem Thema, über das die Erwachsenen gerade redeten, lieferten. Ich fuhr nicht mehr panisch zusammen, wenn eine meiner neugierigen Tanten mich augenzwinkernd fragten, ob es denn jemanden gebe, der mir gefallen würde.
Und doch war die Angst, erwischt zu werden, von Anfang an unser Begleiter.
An dem Nachmittag, als ich mit Meg zu ihr nach Hause gegangen war, hatte ich von dort meinen Klavierlehrer angerufen und ihm berichtet, dass mir nicht gut sei und ich lieber zuhause bleiben würde. Da ich sonst immer ehrgeizig und fleißig gewesen war, entschuldigte mich Mr. MacPherson.
Nach dem Telefonat war ich mit Meg in ihr Zimmer hinaufgegangen. Dort, in ihrem roten Himmelbett, liebten wir uns zum ersten Mal.
Als ich später die Augen wieder aufschlug und in Megs glückliches Gesicht blickte, wusste ich, dass das, was wir taten, niemals falsch sein könnte. Und mir war klar, dass selbst Father Birmingstone nicht mehr das Gegenteil behaupten würde, könnte er auch nur andeutungsweise erahnen, was ich für Meg empfand, als ich an jenem Nachmittag ihren schlanken, weißen Körper über und über mit Küssen bedeckte, immer und immer wieder.
Und mit der Zeit wurden unsere Küsse, unsere Liebkosungen und Zärtlichkeiten weniger hektisch, und man hätte unsere damaligen Vorsichtsmaßnahmen schon fast als akribisch bezeichnen können. Wir fanden heraus, wann Megs Vater bei geschäftlichen Besprechungen und ihre Mutter bei Freundinnen zum Kaffee eingeladen war. Und selbst dann verschlossen wir die Haustür und ließen den Schlüssel im Schloss stecken, damit sie nicht mehr von außen geöffnet werden konnte. Megs Vater musste dann für gewöhnlich läuten, und Meg warf sich schnell einen Bademantel oder ein Tageskleid über und öffnete ihm,während ich mich in ihrem Zimmer versteckt hielt.
Manchmal fragte ich mich, ob wir mit dem, was wir taten, vielleicht alle hintergangen. Der unangreifbare katholische Glaube in unserer Stadt, die Predigten von Father Birmingstone-alles sprach gegen uns. Und doch konnte ich mich nie der Frage erwehren, wem wir eigentlich schadeten. Warum war es so wichtig, mit siebzehn zu heiraten und eine Familie zu gründen? In ein eigenes Häuschen zu ziehen und die perfekte Ehefrau abzugeben?
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dies der ein und einzig richtige Weg war, glücklich zu werden, auch wenn ich mit meiner Meinung wohl ziemlich alleine dastand.
Denn ich war glücklich. Manchmal war ich so glücklich, dass ich am liebsten auf die Straße gelaufen wäre und jedem, der vorbeikam,davon erzählt hätte. Doch gleich im nächsten Moment legte sich meine Euphorie, und ich wurde bedrückt wie nie zuvor. Ich wusste, niemand würde unsere Liebe akzeptieren. Man würde uns verachten. Man würde auch unsere Eltern verachten. Ich war verzweifelt.
„Unsere einzige Möglichkeit ist es, solange unverheiratet zu bleiben, bis wir offiziell als vertrocknete alte Jungfern gelten. Und dann irgendwo hinziehen, wo uns niemand kennt, wo wir den Eindruck erwecken können, bloß zwei einsame alte Schachteln zu sein, die eben niemand heiraten wollte“, sagte Meg, als wir an einem „unserer“ Nachmittage auf dem Teppich in ihrem Zimmer saßen. Sie blies einen beeindruckenden Rauchring aus. Meg rauchte seit etwa einem Jahr. Heimlich, versteht sich. Ihre Eltern hätten einen Herzinfakt bekommen.
So burschikos und drahtig wie ich mit meiner großen, schlaksigen Gestalt und den kurzen schwarzen Haaren wirkte, hätte es keiner für möglich gehalten, dass Meg diejenige war, der keiner unserer männlichen Schüler puncto Rauch-und Trinkfestigkeit das Wasser reichen konnte. Mir ist bis heute unklar, wo und vor allem wie sie sich als „Tochter aus gutem Hause“ diese Fähigkeiten angeeignet haben könnte.
Jetzt drückte sie ihre Zigarette aus und sah mich an. Ihre grünen Augen strahlten und blitzten, und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, nichts könne jemals schiefgehen. Wir gehörten einfach zusammen. Es wäre Betrug, Betrug an aller Gerechtigkeit, wenn man uns auseinanderbringen würde.
Es war 16.25 Uhr, als Meg und ich entschieden, noch alle Zeit der Welt zu haben. Als wir uns unserer eben angezogenen Kleidungsstücke wieder entledigten. Es war 16.25 Uhr, als Megs Vater, von der Arbeit befreit wegen fortdauernden schweren Hustens, die schweren Mahagonitreppen zum Obergeschoß hinaufstapfte.
Der Teppichläufer dämpfte die Geräusche seiner eigentlich schweren Fußtritte. Als das helle Flurlicht in Megs Zimmer fiel, war es bereits zu spät.

Ich erinnere mich genau an die nachfolgenden Stunden. Die Szenen haben sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Megs Vater packte sie wortlos und zerrte sie hinaus. Ich selbst blieb im Zimmer zurück. Die Tür fiel wieder zu, und ich verharrte wie erstarrt am Fußboden. Ich hörte Megs Vater unten im Wohnzimmer lautstark telefonieren, und zehn Minuten später hörte ich meine Eltern im Treppenhaus. Erst da wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass ich überhaupt nichts anhatte. Hastig zog ich mir meine Unterwäsche und meine verblichene Stoffhose über. Meinen Pullover konnte ich nicht finden, und so nahm ich kurzerhand Megs grünen Wollpulli.Diesen würde ich die darauffolgenden zwei Jahren wie ein Heiligtum beschützen, mich in ihn kuscheln, wenn ich einsam war, nur um ihn dann schnell wieder in einer Schublade einzuschließen, damit nichts von Megs Geruch entweichen würde.
Da standen auch schon meine Eltern im Zimmer. Meine Mutter weinte. Mein Vater starrte mich an. Er stand einfach nur da und fixierte mich mit seinen unbewegten grauen Augen. Und dann schlug er mich mitten ins Gesicht. Er hatte mich schon öfters geschlagen. Nicht die Tatsache, dass er mich schlug, machte mich wütend. Es war die Absicht, mich für etwas zu bestrafen, das mich glücklich wie nie zuvor gemacht hatte.
„Fahrt zur Hölle!“, rief ich total außer mir und sprang auf. „Fahrt doch alle zur Hölle mit eurer verdammten Moral! Es ist mir egal, was ihr von mir denkt!“ Die Hand meines Vaters landete ein weiteres Mal in meinem Gesicht, und diesmal spürte ich warmes Blut aus meiner Nase rinnen. Ich rannte wie eine Verrückte die Treppen hinunter. Meine Mutter schluchzte. Mein Vater tobte vor Wut und lief hinter mir her.
Im Hausflur stand Meg. Inzwischen hatte sie einen kurzen grünen Bademantel über ihre Schultern geworfen. Sie hatte den Kopf gesenkt und weinte.
„Meg!“, schrie ich. Ein Mal noch. Ich wusste, sie würde mir weggenommen werden. Ich wollte sie doch bloß noch einmal umarmen. Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen und weinten beide.
Die Zeit schien für ein paar Sekunden eingefroren zu sein. Dann riss mich eine starke Hand aus unserer Umarmung. Ich wehrte mich mit Armen und Beinen, während meine Mutter verzweifelt versuchte, mich zu beruhigen. Vor Megs Haus stand ein Wagen. Er gehörte unseren Nachbarn, meine Eltern hatten keinen eigenen. Mein Vater stieß mich auf die Rückbank und befahl mir, sofort mein dreckiges Maul zu halten.
Ich wurde aus der Schule genommen. Nicht, dass ich überhaupt dazu fähig gewesen wäre, hinzugehen. Offiziell hatte ich eine schwere Grippe. Und so ging es mir auch. Ich fühlte mich einfach schrecklich. Ich weigerte mich, zu essen. Die verzweifelten Bitten meiner Mutter und die oft von Schlägen gefolgten Tobsuchtsanfälle meines Vaters quittierte ich mit eisigem Schweigen. Nach drei Wochen wurde ich an eine andere Schule am äußersten Stadtrand versetzt. Ich hätte Probleme mit meinen Mitschülern, erklärte mein Vater dem Direktor. "Sie wissen ja, wie Kinder in diesem Alter so sind." Und so fuhr ich jeden Tag mit unserem Nachbarn in die St. Agnes-Privatschule. Eine Privatschule bedeutete zusätzliche Kosten. Ich musste das Klavierspielen aufgeben. Im darauffolgenden Jahr bestand mein soziales Leben darin, ältlichen Matronen mit ihren (männlichen) Kindern Tee und Kuchen zu servieren. Es war klar: Meine Eltern wollten einen Ehemann für mich. Damit ich normal werden würde. Je eher ich heiratete, desto besser.
Und so kamen Tag für Tag neue potenzielle Gatten, die alle dieselben verkappten Moralvorstellungen wie die ältere Generation hatten und mich drei Stunden mit ihrem Geschwätz langweilten, bevor sie erfolglos wieder von dannen zogen. Ich wusste, ich würde es nie schaffen, so zu sein, wie sie sich eine zukünftige Ehefrau vorstellten. Daran änderten auch die hübschen neuen Kleider, die meine Mutter mir gekauft hatte, nichts.
Fast zwei Jahre lang sah ich Meg kein einziges Mal. Ich hörte nur, wie die Mädchen an meiner Schule über sie schimpften. Eine Schlampe nannten sie sie. Eine billige Hure ohne jegliche Selbstachtung, die es seit etwa einem Jahr mit jedem treiben würde, der dem nicht abgeneigt schien. Rauchen und trinken würde sie, und das in aller Öffentlichkeit. Ob ihr denn nichts mehr heilig sei, fragten sich diese abscheulichen Biester hinter vorgehaltener Hand. Ich dagegen blieb an unserer Schule die ideale alte Jungfer in spe. Ich verkroch mich, ging nicht aus, schlug die rein aus Höflichkeit getätigten Einladungen meiner Klassenkameradinnen aus.
Wenn ich heute daran zurückdenke, hatten sowohl Meg als auch ich uns aufgelehnt. Wir hatten protestiert, jede auf ihre eigene Art.

Es wurde Frühling und wieder Winter. Das Jahr 1957 verging für mich wie in einem Wachkoma. Meine Eltern taten alles, um „diese Sache“, wie sie es immer nannten, geheim zu halten. Doch wie jedes Gerücht sickerte auch dieses zumindest teilweise durch. Gespräche verstummten plötzlich, wenn ich den Raum betrat. Man hielt sich von mir fern, doch das war mir egal. Ich wollte sowieso nichts mit diesen Menschen zu tun haben.
Im Sommer 1958 wurde ich achtzehn. Ich hatte die Schule abgeschlossen und zugesehen, wie meine Klassenkameradinnen nach und nach heirateten.
Meine Eltern wurden aufs Neue unruhig, weil ich deren Beispiel noch nicht längst gefolgt war. Und so erlaubten sie mir in diesem Sommer zum ersten Mal, alleine eine öffentliche Veranstaltung zu besuchen.
Im Madison Garden wurde das alljährliche Sommerfest veranstaltet. Massen an jungen Menschen kamen dorthin, bauten ihre Zelte auf und feierten das ganze Wochenende. Natürlich gingen alle dort auf Brautschau.
Ich hatte gerade mein Zelt aufgestellt, als ich sie sah. Jede Hoffnung, irgendwann doch noch „normal“ zu werden, waren mit einem Mal dahin. „Meg“, flüsterte ich. Und dann lachte ich. Meg umarmte mich.
Sie hatte sich wenig verändert. Ihre roten Haare trug sie immer noch lang, und sie war in den letzten zwei Jahren kaum gewachsen. Ihre Augen waren etwa auf meiner Nasenhöhe.
Wir setzten uns in mein Zelt und redeten stundenlang. Es war mir immer schon als Ungerechtigkeit erschienen, Meg nicht alles zu erzählen, was ich erlebt hatte. Und nun hatten wir fast zwei Jahre nachzuholen.
Als wir ins Freie traten, war es bereits dunkel. Es war eine angenehme, laue Sommernacht. Wir gingen zu einem der Buffettischchen, die überall aufgebaut worden waren. Nach einem Glas Bowle war meine Speicherkapazität erschöpft. Meg schaffte selbstverständlich mehr.
Und dann, als wir den kleinen Parkweg entlangschlenderten, nahm Meg zum ersten Mal seit langem wieder meine Hand. Wir setzten uns auf eine Bank und küssten uns. Ich würde studieren gehen. Weit weg. Ich würde nebenbei arbeiten, wenn meine Eltern mir ihre Unterstützung verweigern würden. Aber auf jeden Fall würde ich bei Meg sein. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben.
„Gehst du mit mir nach Dublin, Belle?“, fragte sie liebevoll. Ich nickte. Nur weg von hier. So bald wie möglich.
Wir lockerten unsere Hände nicht, als wir Schritte hörten. Die Zeit des Versteckens würde jetzt ein für allemal vorbei sein.
Im schwachen Licht sahen wir zwei Jungen aus Megs Klasse. Zu meiner Überraschung schien es sie nicht zu stören, dass wir uns gegenseitig an den Händen hielten. Jedenfalls ließen sie sich nichts anmerken. Als sie mir mit den Worten „Mädels, ihr seid sicher durstig“ jeweils ein Glas Wasser reichten, gab ich mich für wenige Minuten der Hoffnung hin, man würde uns nun endlich akzeptieren. Die Jungs verzogen sich gleich darauf und wünschten uns noch einen schönen Abend. Hätte ich damals auch nur über ein bisschen mehr Menschenkenntnis verfügt, hätte ich den falschen Unterton in ihrer Stimme sicherlich sofort bemerkt. Aber das Glas Bowle war mir längst zu Kopf gestiegen, und auch Meg hatte mehr als sonst getrunken. Und so nahmen wir nur dankbar die Wassergläser entgegen.

Ich erwachte von Megs schwachem Wimmern. Mein Kopf schmerzte entsetzlich. Das Wasserglas, schoss es mir durch den Kopf. Irgendetwas war darin gewesen, ohne dass wir es bemerkt hatten.
Auf dem Rücken liegend ließ ich meinen Blick über die Decke und die Wände wandern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befanden. Der Raum sah aus wie eine überdimensionale Garage. Es roch muffig.
Jetzt hörte ich auch die Stimmen der beiden, die uns die Gläser mit dem „Wasser“ gereicht hatten. Barry Redford und Joe...wie hieß er doch gleich? Panik stief in mir auf.
„Nein!!“, schrillte es von der gegenüberliegenden Seite. „Du Arschloch!“ Meg hatte ihre Stimme wiedergefunden. Die Jungen lachten grölend. Ich erkannte eine dritte männliche Stimme, die ich bis dato noch nie gehört hatte. Meg schrie noch immer. Jetzt hob ich meinen schmerzenden Kopf und versuchte, die tanzenden schwarzen Punkte vor meinen Augen wegzublinzeln.
Was ich sah, verursachte mir Übelkeit. Megs Handgelenke waren mit zwei groben Stricken an ein Tischbein gefesselt. Barry öffnete gerade die Knöpfe ihrer Bluse. Für jeden davon handelte er sich einen Biss oder einen Fußtritt von Meg ein.
Ohne zu überlegen, sprang ich auf. Offenbar war ich so weggetreten gewesen, dass man es nicht der Mühe wert befunden hatte, mich ebenfalls zu fesseln. Taumelnd bewegte ich mich einen Schritt nach vorn.
„Sieh an, Isabel ist aufgewacht!“, rief der unbekannte Junge, im nächsten Moment war er auch schon bei mir und drückte mir gewaltsam meine Hände nach hinten. Ich trat ihm gegen das Schienbein und rannte zu Meg. Ich verpasste Barry einen Stoß, bevor ich mich an den Fesseln an ihren Handgelenken zu schaffen machte.
Die Fesseln waren nicht besonders fest angezogen, doch als ich Meg davon befreit hatte, wurde ich mir die Nutzlosigkeit meiner Aktion bewusst. Mein Blick schweifte zu der einzigen Tür. Sie war mit einem großen Riegel verschlossen. Barrys Blick folgte meinem, und er lachte. Mir standen Schweißtropfen auf der Stirn.
Der Unbekannte kam näher und zog mich zu sich. Er war einen Kopf größer und sicher auch beträchtlich schwerer als ich. „Keine Angst, meine Hübsche“, flüsterte er mir ins Ohr. Sein Atem roch nach Alkohol.
„Was willst du von uns?“, fragte ich angewidert, während ich erfolglos versuchte, mich zu befreien.
Er grinste und zog mich noch fester zu sich. „Wir wollen euch doch nur helfen. Damit ihr wieder normal werdet. Seht ihr, verrückt nach einem anderen Mädchen zu sein ist nun mal ekelhaft.“
„Du bist ekelhaft“, zischte ich verachtungsvoll. Er lachte mich aus.
„Wenn wir hier mit euch fertig sind, seid ihr geheilt, das verspreche ich euch. Keine Angst, es dauert auch nicht lange.“ Er widerte mich an. Ich hätte ihm nur zu gerne ins Gesicht gespuckt, wenn ich auch nur irgendeine Chance gehabt hätte, dieses zu treffen. Denn er umklammerte mich weiterhin fest. Seitdem wusste ich, dass es zwei Arten von Umarmungen gab. Diese hier und die mit Meg.
Und plötzlich lockerte sich sein eiserner Griff. Er wankte und ging zu Boden. Blut sickerte zwischen seinen Haaren hervor. Hinter ihm stand Meg, die eine Minute zuvor noch hilflos und schwach auf dem Boden gelegen hatte. Hatte sie nur so getan? Oder waren bei ihr plötzlich übernatürliche Kräfte erwacht, wie bei einer zarten Frau, die sieht, wie der Kinderwagen mit ihrem Kind unter einem LKW-Reifen eingeklemmt ist und das tonnenschwere Gefährt hochhebt?
In der Hand hielt Meg ein langes, schmales Holzstück, und als ich den morschen, dreibeinigen Tisch hinter ihr sah, wurde mir klar, woher sie es hatte. Sie atmete heftig, und ihre halbgeöffnete Bluse bewegte sich mit jedem Atemzug auf und ab. Ihre Hand krallte sich um das Holzstück, sodass ihre Fingerspitzen weiß anliefen.
Barry näherte sich ihr von hinten. Meg hatte nicht mehr genug Zeit, ordentlich auszuholen. Statt auf den Kopf traf sie ihn am Knie. Das brüchige Holz in ihrer Hand zerbrach. Barry jaulte auf.
Ich rannte los. In der Hoffnung, der Holzriegel vor der Tür würde ähnliche Stabilität wie Megs Tischbein aufweisen, warf ich mich mit aller Kraft dagegen. Doch Barry war nicht vollständig außer Gefecht gesetzt, und Joe war auch noch übrig. Wir hätten keine Chance gegen die beiden gehabt, wären nicht in diesem Moment von draußen Stimmen ertönt, die nach Barry riefen. Die Besitzer der Stimmen waren männlich und offensichtlich alle betrunken. Raus hier, raus hier, raus hier, hämmerte es die ganze Zeit wie verrückt in meinem Kopf. Inzwischen war Meg bei mir. Einen Moment später schnappte das Schloss auf, und kalte Nachtluft schlug uns entgegen.
Wir rannten, genauso wie wir an dem Wintertag 1956 gerannt waren. Wir ließen alles hinter uns, was uns trennen wollte. Auf unserem Weg stießen wir mehrere betrunkene Männer beinahe um. Und dann beschlossen wir, uns nicht mehr an den Weg zu halten. Wir rannten einfach drauflos, hinein in das Gebüsch, durch Baumgruppen hindurch. Einmal strauchelte ich und stellte fest, dass ich in einem Bach gelandet war. Meg zog mich wieder hoch. Wir hörten eine entfernte Turmuhr Mitternacht schlagen, während sich unser Puls langsam wieder beruhigte. In wenigen Metern Entfernung konnten wir Straßenbeleuchtung ausmachen. Meg und ich sahen uns an und lachten. Wir waren in Sicherheit.
Hand in Hand wanderten wir schweigend die erleuchteten Straßen entlang. Wir waren durchnässt und nur um ein Haar einer Vergewaltigung entkommen. Doch nun waren wir zusammen. Ich war glücklich.
Meg und ich würden bald weggehen. So bald wie möglich. Vielleicht nach Dublin.

 

Hallo Capella,

deine Geschichte über gesellschaftliche Moral hat mir gut gefallen. Ein Leben lang war etwas in Ordnung, auf einmal ist es das nicht mehr - das hast du gut rübergebracht. Lediglich ein bißchen mehr Irritation der Mädchen darüber, dass aus Freundschaft plötzlich mehr wird, hätte ich mir gut vorstellen können. Ohne, dass ich mich damit auskenne, scheint mir die Situation in Irland in den fünfziger Jahren sehr realistisch zu sein, mit vielen glaubwürdigen Details.

Zwei Fehler sind mir aufgefallen:

Panik ergriff mich, als ich die schweren Schritte auf dem Parkettboden hörte.
Und dann irgendwo hinziehen, wo uns niemand kennt, wo wir den Eindruck erwecken können, bloß zwei einsame alte Schachteln zu sein, die eben niemand heiraten wollte.“, sagte Meg
der Punkt ist zuviel

Liebe Grüße und noch viel Spaß hier,
Juschi

 

eigentlich hatte ich gar nicht beabsichtigt gehabt, dass die beiden darüber irritiert sind....

 

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