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Mein anderes Ich
Ich weiß nicht wie lange ich ihn schon hatte. Was spielen Jahre für eine Rolle?
Immer hatte er in der Ecke im Zimmer gestanden. Hoch, hölzern, hell.
Die glatte Fläche im Herzen des Buchenrahmens glitzerte bei jedem Sonnenstrahl.
Er war mein Liebstes. Der große Spiegel, der Decke und Boden verband.
Wie oft hatte ich schon vor der Eitelskeitsmaschine gestanden und meine Kleidung zurechtgezupft? Saß die Bluse auch nicht zu tief? Passten die Schuhe zum Abendkleid?
War es auch nicht zu viel Lippenstift?
Und nun stand ich wieder vor dem Spiegel. Nackt.
Ließ meine Blicke über Arme und Beine schweifen.
Systematisch kritisierte ich die bloße Haut.
Die Beine waren nicht lang genug, der Bauch zu dick, dafür der Busen zu klein.
Alle Ecken und Kanten die ich vorzuweisen hatte, zeigte er mir mit grausamem Wohlwollen.
Eine kleine Kommode zierte mein Schlafzimmer.
Ein babyblaues Etikett strahlte mich an und pries überschwänglich den weißen, wohl duftenden Inhalt.
Pflegelotion für anspruchsvolle Haut. Meine Mutter hatte immer gesagt, ich sei ein genügsames Kind gewesen.
Finger umschlossen kaltes Plastik, klickten den blauen Verschluss nach oben und halfen der wabernden Creme ans Tageslicht.
Mein Zeigefinger berührte kalten Untergrund.
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.
Jeder Fehler, jede noch so kleine Unebenheit bemalte ich mit einem weißen Fettfilm. Schnell waren Beine und Arme ausgebessert. Augen und Ohren, Hals und Haar.
Was nicht passte, machte ich mir neu.
Lange starrte ich den Schemen an, versuchte mich zu sehen. Meine Gedanken konnten den schweren, dicken Film nicht durchbrechen.
Die Flasche fiel mir aus der Hand. Schlug laut auf den Boden.
Weiße Chemie eroberte meinen Parkett.
Ich wich einen Schritt zurück. Vor mir selbst.
Die Gestalt, die ich sein sollte – sie machte mir Angst. Ich machte mir Angst.
Es war mein Körper, aber nicht ich. Eine völlig fremde Person offenbarte sich mir.
Ein Schlag. Tausend Scherben.
Auf meinen Lippen bildete sich zögernd ein Lächeln.
Ich hatte mich zerstört.