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Mein Bruder
Weiße, dicke Flocken fielen vom Himmel, an dem Tag, als Justus starb. Weich wie Watte schienen die einzelnen Kristalle zu Boden zu schweben, wurden vom Wind wieder aufgewirbelt, tanzten in unregelmäßigem Rhythmus vor meinem Fenster. Ich weiß, Justus hätte diesen Tag genossen. Er liebte den Winter, den Schnee, die Kälte. Fast kann ich sein heiseres, glückliches Lachen, an das ich mich früher doch so gewöhnt hatte, neben mir hören.
Justus war immer mein Vorbild gewesen. Nicht nur großer Bruder oder bester Freund, nein, solange ich denken konnte, hatte ich ihn bewundert. Doch es schwang keinesfalls Neid in diesem Gefühl, kein Konkurrenzdenken oder Rivalitätsverhältnis, vielmehr war es ein ehrliches, aufrichtiges Aufsehen.
Ich wollte so sein wie er. Nicht in allem, aber doch in den meisten seiner Eigenschaften versuchte ich ihm zu ähneln. Er war der größere von uns beiden und das nicht nur des Altersunterschiedes wegen.
Auch sonst glichen wir uns in Gestalt und Gesicht wie eine Tanne, einer Birke gleicht. War er schlank, hatte dunkelblaue Augen, tiefbraunes welliges Haar und wirkte auf eine unaufdringliche Art überlegen, den anderen voraus, so stellte ich das genaue Gegenteil da, war schon immer blass, hatte langweilig nichts sagende braune Augen und dazu helles, feines Haar.
Am meisten bewunderte ich an meinem Bruder jedoch, dass er immer ruhig zu bleiben schien, nie die Kontrolle verlor, in jeder erdenklichen Situation wusste, was zu tun war und mit seiner fröhlichen, offenen Art jeden in seinen Bann ziehen konnte. Ich glaube schon, dass er um seine Wirkung wusste, doch schien er sie nie auszunutzen und vielleicht war gerade das sein Geheimnis. Wie auch immer.
Trotz der Unterschiede und Unähnlichkeiten, waren wir unzertrennlich, verbrachten ganze Ferien zusammen im Freien, bauten uns Höhlen, Baumhäuser, und waren, soweit ich das heute sagen kann, glücklich. Bis zu jenem Tag. Justus wurde krank. Keiner konnte es sich so richtig erklären, doch von einem Tag auf den anderen hatte sich dieser lebhafte Junge, in einen schwachen und gebrechlichen verwandelt. Die Ärzte waren ratlos, mit ihren Erklärungen am Ende. Innerhalb von nur zwei Monaten, verschlechterte sich sein Zustand so dramatisch, dass die Ärzte uns keine Hoffnungen mehr machten. Er würde sterben, hieß es.
Es war kurz vor Weihnachten, Justus durfte zum Fest nach Hause. Zum Abschied nehmen, so schien es mir. Wir, meine Eltern und ich, versuchten uns nichts anmerken zu lassen. Und auch Justus witzelte in den wenigen Stunden, in denen er bei Bewusstsein war auf diese, für ihn so typische Art. Die Festtage vergingen, doch es war einfach nicht dasselbe. Die Luft roch falsch, die Weihnachtsplätzchen fehlten und auch über mein, schon lange gewünschtes, Fahrrad konnte ich mich nicht freuen. Am zweiten Weihnachtstag dann, draußen schneite es schon seit Stunden, ich saß bei Justus am Bett, öffnete er langsam die Augen, hielt meine Hand und sagte leise: „Filip, ich werde sterben...“.
Schon wollte ich zum Protest ansetzten, doch er unterbrach mich: „Nein, sag nichts. Ich weiß es. Ich weiß es schon lange. Ich spüre es, mein Körper ist leer, meine Kraft verbraucht“.
Ich begann gegen meinen Willen zu weinen. Da streichelte er mir übers Haar: „Ach, kleiner Bruder. Du musst doch nicht weinen, nicht um mich. Ich habe keine Angst, nein wirklich nicht. Ich weiß nämlich, dass es nicht wehtun wird. Ein Engel begleitet mich. Er wacht schon seit langem an meiner Seite, redet mit mir, manchmal, wenn ihr nicht da seid. Du siehst, ich bin nicht alleine.“
„Aber du kannst mich doch nicht einfach verlassen. Ich brauch dich doch“, sagte ich, noch immer mit bebender Stimme.
„Aber was redest du denn da?“, er schien wirklich aufgebracht, „Ich werde dich nie verlassen. Hörst du? Niemals. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht mehr genau hier sein kann. Aber vom Himmel aus werde ich dich beobachten können, immer an deiner Seite bleiben. Und in deine Träumen werden wir uns treffen, sooft du willst!“
„Meinst du wirklich?“, erinnere ich mich ihn unsicher gefragt zu haben.
„Ganz sicher“, bestätigte er.
Seine Augen schienen unglaublich müde zu sein, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er musste seine gesamte Kraft aufbringen, um mich noch einmal anzuschauen, sein Gesicht ein wenig zu heben.
„Ach mein kleiner, großer Bruder nie werde ich dich vergessen….“, seine Stimme versagte ihm, mit einem Lächeln im Gesicht fiel er zurück ins Kissen.
Noch immer hielt ich seine Hand, sein Atem wurde langsamer, sein Puls schleppender und hörte schließlich ganz auf zu schlagen. Ich wusste, dass er nun von uns gegangen war, wusste, dass er nicht wiederkommen würde und wollte es doch nicht glauben. Unfähig mich zu bewegen, blieb ich sitzen. Stille Tränen rannen mir ins Gesicht bis irgendwann meine Eltern ins Zimmer traten und mich von ihm lösten.
Es war das letzte Mal, dass ich ihn, meinen Bruder, gesehen habe, das letzte Mal, dass ich geweint habe, um ihn und generell, das letzte Mal, dass ich direkt zu ihm hinaufsehen konnte. Nein, nicht nur er war gestorben, auch ich war innerlich tot. Und doch, eines Nachts irgendwann im Januar, löste er sein Versprechen ein und wartete im Traum auf mich. Ich hatte ihn wieder.