- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Mein Freund
Ich habe einen Freund. Das wird Sie vielleicht wundern, aber es ist so. Nicht, daß er der einzige wäre. Freund nämlich. Da habe ich noch einen. Aber heute meine ich ihn.
Ich habe einen Freund, sagte ich? Falsch! Das sagt er. Ich sage, er hat mich.
Er ist das komplette Gegenteil von mir und dafür liebt er mich. Das gibt seinem Leben einen Sinn. Ich gehe nie vor drei Uhr morgens ins Bett, außer wichtige Gründe verleiten mich dazu, ich halte Sport zwar für eine ehrenhafte Tätigkeit, Schwitzen aber für äußerst unelegant, und ich befinde mein Leben für so aufregend, daß ich an anderen Privatleben nicht unbedingt in aller Tiefe teilhaben muß.
Verstehen sie mich nicht falsch: für meine Freunde bin ich immer da. Die Klagemauer ist eine matte Gemüsebeeteinfassung gegen mich. Aber er?
Was würden sie in meiner Situation sagen: unregelmäßig, unangekündigt, aber mindestens zwei mal pro Woche steht mein mich habender Freund vor der Tür, unverschämt fit, vor allem aber unverschämt früh. Dann will er laufen. Richtig laufen. Nicht dieses schwachmatische Getrappel, bei dem man sich selbst auf die Zehen steigt aus lauter Angst, alles über 1 km/h würde die Fönfrisur zerstören und mehr als fünf Promille Steigung könnten zum Führerscheinentzug führen.
Nein, wenn gelaufen wird, wird gelaufen. Vorzugsweise durch die westliche Peripherie der Stadt, die sich durch einige verdammt steile, verdammt waldige und im Herbst auch noch verdammt schlammige Berge auszeichnet, und vorzugsweise schnell. Wegen des Trainingseffektes (er benutzt wirklich den Genitiv).
Und während hinter mir die Daunen verwehen, die kalte nebelige Waldluft langsam den Polsterabdruck aus meinem Gesicht bügelt und ich schwer damit beschäftigt bin, meine Zunge nicht in den Schlamm zu treten, versorgt er mich mit intimen Details über seine inzwischen dritte Ehe, die ich in angemessenen Intervallen je nachdem mit zustimmendem Keuchen oder entrüstetem Röcheln quittiere.
Nach einer Stunde geleitet er mich dann wieder nach Hause, hat keine Zeit für einen schnellen Saunadurchgang (sein Mausi wartet – ja, das mit den intimen Details), lehnt sogar einen naturtrüben Weichselsaft von unserem bevorzugten Obstbauern ab und "wegen heute Abend, da rufen wir uns zusammen, aber allzu spät sollt's nicht werden".
Schließlich muß er um acht Uhr morgens wieder unverschämt fit sein und mir oder einem anderen unbescholtenen Abendmenschen den Tag verderben…