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- 12.02.2004
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- Anmerkungen zum Text
Das ist die schwierigste Geschichte aus der Sammlung von Tiergeschichten, die im Sommer 2024 unter dem Titel „Hund beißt Mann ins Bein“ erscheinen wird. Nach dieser folgen noch eine oder zwei kürzere Geschichten, zu denen ich auf Feedback neugierig bin. Danach werde ich längere Zeit nur kommentieren – um nicht das Forum zu sehr mit solchen Texten zu überschwemmen.
Danke an alle, die diese Geschichte lesen und etwas dazu sagen!
Mein Herz, es ist auf ewig dein!
Wenn das Herz eines Menschen kaputt geht, weil sich Plaques in den Arterien abgelagert haben, wenn es durch Stress aus dem Rhythmus gerät, oder wenn es zu oft gebrochen wurde, stirbt er normalerweise.
Die Fortschritte der modernen Medizin bieten jedoch verschiedene Möglichkeiten, unter enormem Aufwand und noch größeren Kosten das funktionsunfähige Herz zu ersetzen und dadurch den Tod zu verzögern.
Es gab künstliche Herzen, Schweineherzen, Spenderherzen. Seit kurzem experimentierten chinesische Wissenschaftler mit den Herzen des großen Pandabären (Ailuropoda melanoleuca).
Der während eines Auslandsjahres in China tätige Chemiker Dr. Peter Sinnhuber bekam von der Tsinghua-Universität ein Spenderherz angeboten. Er konnte es annehmen oder sterben: Fortgeschrittene Arteriosklerose und mehrere Infarkte kündigten das Ende seines Lebens genauso zuverlässig an wie der Fahrplan die neuen Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Beijing und Schanghai. Dabei war er erst 55.
Sinnhubers Spezialgebiet war die Forschung an Materialien für bessere Batterien: Superkondensatoren aus Kohlenstoff-Nanoröhren.
Normalerweise war er Professor für Materialwissenschaften an der TU Wien. Die chinesische Partneruniversität der TU lag im Stadtbezirk Haidian, in der ungeheuer großen, lauten und in gelben Dunst gehüllten Stadt Beijing. Sinnhuber hatte sich voller Eifer in sein Auslandsjahr gestürzt und sogar die Grundzüge der chinesischen Sprache gelernt, bis ihn der erste Infarkt wie ein Dolchstoß traf.
Einige Funktionäre der KPCh ergriffen diese Gelegenheit wie ein herrenloses Schaf, um eine Operation in die Wege zu leiten, die sehr viel Prestige versprach. Sie wollten der Welt zeigen, dass das alte Europa weder die Mittel noch den Willen hatte, seine bedeutenden Wissenschaftler zu retten, wenn diese einmal Hilfe brauchten.
Sinnhuber lag in einem Krankenhausbett. Die Mitte seiner Brust fühlte sich an wie versteinert. Er war blass und wirkte ausgezehrt. Um elf Uhr vormittags kam eine Gruppe förmlich gekleideter chinesischer Ärzte in sein Zimmer. Sie unterbreiteten ihm folgenden konkreten Vorschlag: Er konnte sich schon in zehn Tagen das Herz eines großen Pandabären einsetzen lassen. Sinnhuber dachte zuerst, er hätte sich verhört. Aber sie meinten tatsächlich einen Pandabären: Das Tier befand sich schon jetzt in einem Labor des Krankenhauses.
Sie zeigten ihm Fotos von dem Bären, der gemeinsam mit einer Artgenossin in einem durch Gitterstäbe abgeteilten Bereich saß und ein Büschel Bambus fraß. Die beiden Pandas wirkten wie Gefangene in einer Todeszelle.
„Sie werden ihn umbringen“, sagte Sinnhuber leise.
Doch er dachte sofort: Besser der Panda als ich. Alles in ihm sagte ja zu dem Angebot, das sein letzter Ausweg war. Danach kroch das schlechte Gewissen hoch und verursachte einen schalen Geschmack im Mund. Es widersprach eigentlich seinen Wertvorstellungen, ein intelligentes Tier zu töten, nur um bestenfalls einige Jahre zu gewinnen. Der Drang, weiterzuleben, wischte alle Bedenken beiseite.
Eine Assistentin reichte ihm eine Mappe mit einem Umschlag aus Kunstleder, die sich kühl anfühlte. Er hatte keine Kraft in den Händen und Mühe, sie zu halten.
Das Projekt der Xenotransplantation war als ausführliche Präsentation mit über 50 Blättern beschrieben: von der Vorbereitung des Organs über das Verbinden der Blutgefäße mit dem Spenderherz bis zur langfristigen Nachsorge. Die Präsentation wirkte wie ein Prospekt für ein neues Automodell. Durch neuartige Techniken lag die Erfolgswahrscheinlichkeit angeblich bei 90 Prozent.
Während die Chinesen enthusiastisch und in englischer Sprache auf ihn einredeten, dachte Sinnhuber noch einmal, als abschließende Feststellung, wie ein Punkt hinter einem unschönen Satz: Sie werden diesen Pandabären umbringen, damit ich leben kann.
Mehrere hundert Journalisten aus China, Europa und Nordamerika fanden sich eine Woche später bei einer Pressekonferenz im gläsernen Bau des Beijing Marriott Hotel Northeast ein, um die Einzelheiten der Transplantation zu erfahren.
Sinnhuber selbst durfte nicht teilnehmen, um zu vermeiden, dass die Aufregung ihn tötete oder dass er es sich doch noch anders überlegte. Diese Auffassung der Verantwortlichen verbreitete sich wie Ringe, wenn man einen Stein in einen Teich wirft, von den höheren Kreisen über die Ärzte und das Pflegepersonal bis an sein Krankenbett.
Zwei freundliche Damen schoben das OP-Bett mit dem erschöpften und von Befürchtungen gebeutelten Chemieprofessor durch einen langen Korridor. Vor ihnen gingen mehrere kräftige Pfleger, ein Assistenzarzt begleitete das Bett und die Nachhut bildeten mit einigem Abstand einige Herren in Anzügen und eine Gruppe Uniformierter.
Sinnhuber hatte eine rosa Pille geschluckt. Er spürte schon, wie ihm die Augen zufielen. Einige ausgewählte Journalisten machten Fotos, als das Bett an ihnen vorüberglitt. Die Bilder zeigten einen großen und steif wirkenden europäischen Mann mit bläulicher Gesichtsfarbe.
Das blütenweiße Bett bildete einen seltsamen Kontrast zum hellgrünen Boden des Korridors.
In ebendiesem Moment rieb Fu-Long der Pandabär ein letztes Mal seinen Kopf am Kopf seiner Gefährtin Fu-Chin, die traurig brummte. Die Tierpfleger gaben dem Bären eine Injektion, schnallten auch ihn auf ein fahrbares Bett.
Er starb eine Stunde später, weil die Chirurgen ihm das Herz herausschnitten. Niemanden im Operationsteam kümmerte der Tod des Bären. Sein behaarter und steifer Körper mit gebrochenen Augen erregte kein Mitleid. Er war für ein nahe gelegenes zoologisches Institut bestimmt. Einige seiner Knochen, die Krallen und die Galle fanden den Weg zu privaten Abnehmern.
Sinnhuber erwachte. Er blinzelte in einen weißen Raum. Es dauerte eine Weile, bis ihm einfiel, wo er war. Jalousien dunkelten das Tageslicht ab. Schwer zu sagen, wie spät es war oder auch nur, welcher Tag.
Der ganze Brustbereich fühlte sich an wie eine schwere Verwundung. Das Herz des Pandabären in ihm schlug schwach, aber gleichmäßig.
Es war so seltsam und fühlte sich so falsch an, als hätte man ihn selbst in einen neuen Körper verpflanzt. Das Herz arbeitete: ba-bum, ba-bum, ba-bum.
Kortikosteroide und Calcineurin-Inhibitoren mit schweren Nebenwirkungen verhinderten, dass sein Immunsystem das fremde Organ zerstörte.
Eine Krankenschwester eilte auf den Gang, um eine Chirurgin aus dem Operationsteam anzurufen. Einige kurze Telefongespräche des frisch Operierten richteten sich an seine Mutter und seine Ex-Frau. Ja, er lebte!
Doch er fühlte sich scheußlich. Es dauerte eine ganze Woche, bis er sitzen, essen und unter großen Schmerzen in einen Rollstuhl klettern konnte, damit ihn jemand durch die Gänge schob. Daran, selbst auf die Toilette zu gehen, war nicht einmal zu denken.
Irgendwann fiel ihm auf, dass er nur mehr sehr selten an die chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffs dachte.
Der vergitterte Bereich für die Pandabärin maß sechs mal drei Meter. Das Personal füllte einmal am Tag frische Blätter, Stängel und Sprossen des Bambus in eine Futterkrippe und entfernte den Inhalt einer Kiste mit Sand, die der Pandabärin als Latrine diente. Eine Reihe von Kugeln und Röhren, sowie ein Klettergerüst sollten der Pandabärin etwas Abwechslung bieten. Sie machte kaum Gebrauch davon, sondern saß einfach da, während sie Bambus kaute und schaute den Menschen mit ihren dunkel umrandeten Augen zu, wenn sie ihre Arbeit taten oder geschäftig telefonierten.
Sie stand als Nächste auf der Todesliste. Sinnhubers Pfleger vermuteten, dass sie in einigen Monaten fällig war.
Der frisch Operierte äußerte den Wunsch, sie zu sehen. Es dauerte mehrere Tage, die Erlaubnis dafür zu bekommen.
Eine Pflegerin schob ihn vor das Gitter des Käfigs. Als die traurigen Augen der Pandabärin ihn erblickten, spürte Sinnhuber in sich eine starke Reaktion. Das Herz in ihm weitete sich wie ein Fluss, der über die Ufer trat.
Ich muss sie retten, koste es, was es wolle!
Sein ganzer Organismus richtete sich auf dieses Ziel aus, auch wenn es der herkömmlichen Logik widersprach. Neue Antriebe und Wünsche wuchsen aus dem fremden Herzen wie aus einem Samenkorn. Alte Gefühle, die eigentlich nicht zu ihm gehörten.
Stunden, Tage, Wochen vergingen. Jeder einzelne Tag war angefüllt mit Arzt-Konsultationen, Blutabnahmen, Medikamenten und Physiotherapie.
Sinnhuber dachte wieder manchmal an die Umsetzung verschiedener Verfahren, mit denen man die Oberflächen von Kohlenstoff-Nanoröhren vergrößern konnte. Er las Berichte über Experimente, malte Skizzen in seinen Block.
Das hiesige Institut hatte ihm vor Monaten zwei Assistenten zugeteilt: Dr. Choi, einen kräftig gebauten Nordchinesen mit Erfahrung in der Industrie und Dr. Fang, einen feingliedrigen kurzsichtigen Mann, der oft ironisch lächelte. Er schien eher ein Theoretiker zu sein. Beide waren sehr kompetent und fast übermäßig bemüht, seine Anweisungen zu befolgen. Als Lohn winkten ihnen Einblicke in Sinnhubers außergewöhnliche Denkweise.
Konnte er ihnen auch bei Angelegenheiten vertrauen, die über das Gebiet der Materialwissenschaft hinausgingen? Soviel Sinnhuber wusste, hatte ihr Dekan die beiden Assistenten angewiesen, dem ausländischen Professor jeden Wunsch zu erfüllen. Etwas kindisch fragte er sich, ob Dr. Fang für ihn eines der unzähligen Fahrräder stehlen würde, die auf einem Vorplatz der Klinik herumstanden.
Meistens dachte er an die Pandabärin.
Er malte sich einige Szenarien aus, die zu ihrer Rettung führten.
Im ersten Szenario verlieh die Volksrepublik China die Pandabärin Fu-Chin dauerhaft an den Wiener Tiergarten Schönbrunn, um etwas für die Völkerverständigung zu tun. Sie lebte fortan in einem großen Gehege, wo Sinnhuber sie nach seiner wundersamen Genesung und Rückkehr regelmäßig besuchen konnte. Eine Plakette vor dem Gehege und viele Berichte in den Medien wiesen auf die Großzügigkeit der Chinesen hin.
Sinnhuber gab seinen beiden Assistenten den Auftrag, eine schriftliche Bitte zu verfassen:
„Alle lieben den Tiergarten Schönbrunn, der über ein großes Gehege für Pandabären verfügt. Sie gelten als Publikumslieblinge. Die Presse berichtet regelmäßig über sie.“
Die Bitte wurde höflich abgelehnt.
Das Krankenhaus formulierte ein alternatives Szenario, in dem ein hoher verdienter Funktionär der KPCh das Herz der Pandabärin erhielt. Wollen Sie einem Anderen verwehren, was Ihnen selbst das Leben gerettet hat?
Warum wollen Sie diese Pandabärin überhaupt mitnehmen, Herr Professor?
Die Antwort lag unter der immer noch geröteten und mit Verbänden bedeckten Narbe, die sich über Sinnhubers Brust zog. Dort schlug nun in seinem Fleisch das Herz eines Pandabären und erzeugte ein warmes Gefühl, das in seinen gesamten Organismus ausstrahlte. In der Politik existierte dieses Gefühl nicht. Auch die moderne Medizin kannte es nicht.
Weder die Ärzte noch die Staatsführung rechneten deshalb mit Sinnhubers wilder Entschlossenheit.
Nach Mitternacht erschien der gewaltige Organismus des Krankenhauses von außen wie ein schlafender Riese in einer Dunkelheit, die nur von Lichtern in einigen Fenstern unterbrochen wurde. Auch in den weitläufigen Gängen schimmerten Lichter: Hinweisschilder in Mandarin, Kontrolleuchten hinter den Türen der Räume für das Wachpersonal und einladende Lampen in Schwesternzimmern, wo einsame Nachtschwestern ihre Dienstpläne erfüllten.
In einen weißen Mantel gekleidet, das Gesicht mit einer Brille und einer Atemschutzmaske verdeckt, schlich Sinnhuber unter Schmerzen hinaus auf den Gang, wo seine als Pfleger verkleideten Assistenten Dr. Choi und Dr. Fang auf ihn warteten.
Sein Ultimatum an die beiden Männer war drastisch gewesen: „Entweder Sie helfen mir, oder ich bringe mich um!“
Und hier waren sie: Dr. Choi trug eine Brille, Dr. Fang einen falschen Schnurrbart.
Wenn man sich ein neues Organ einsetzen lässt, ist es nicht zu empfehlen, drei Wochen später durch lange Gänge zu eilen oder eine lange Reise zu unternehmen.
Er musste einige Male stehen bleiben und sich gegen eine Wand lehnen, weil ihm schwindelig wurde.
Kurz vor der Forschungsstation fanden die Drei auf dem Gang ein fahrbares OP-Bett mit seitlichen Schienen und Gurten, das sie kurzerhand mitnahmen. Sinnhuber mit wackeligen Knien unterdrückte den Drang, sich hineinzulegen.
Die Forschungsabteilung mit der gefangenen Pandadame Fu-Chin war nicht besetzt, aber abgeschlossen. Die beiden Assistenten hatten einen Ersatzschlüssel besorgt.
Sinnhuber schaltete das Licht ein. Es war viel zu grell.
Die Pandabärin erwachte. Sinnhuber näherte sich ihr. Sein neues Herz füllte sich mit Wärme. Es zuckte einige Male schmerzhaft.
Die Tür zum vergitterten Bereich ließ sich von außen ohne Schlüssel öffnen. Die Pandabärin war zuerst scheu, doch auch ihr Herz regte sich, als der geschwächte bleiche Mann mit dem Geruch nach Tod auf sie zuging. Sie umarmten sich ungeschickt.
Die beiden Assistenten beobachteten sie mit ungeduldigen Gesichtern.
Dr. Fang holte einen Plastikbehälter aus seinem Rucksack und reichte ihn weiter an Sinnhuber, damit dieser mit zitternden Händen den Lappen mit der Chloroform-Lösung vor die Schnauze der Pandabärin hielt, um sie zu betäuben. Dieser Moment war kritisch: zu viel und die Pandabärin konnte sterben, zu wenig und sie schlief nicht ein oder geriet schlimmstenfalls in Panik. Sinnhuber musste den Atem anhalten, damit er nicht selbst etwas von den Dämpfen inhalierte.
Die Bärin ließ es geschehen. Sie brummte schläfrig. Obwohl sie zu zweit waren, ächzten die beiden Assistenten, als sie den über 80 Kilo schweren Körper der Pandabärin auf das OP-Bett wuchteten.
Mit der Pandadame Fu-Chin im OP-Bett, während ein Bündel Kleidung und einige Kissen in Sinnhubers Bett seine Abwesenheit kaschierte, brachten sie das Bett bis zu einem der Ausgänge. Dort saß ein Wachmann, der anscheinend nichts besonderes dabei fand, dass einige Pfleger und ein ausländischer Arzt einen Patienten verlegten. Er machte eine Notiz und öffnete das Tor.
Das Ziel der drei weißgekleideten Männer mit dem OP-Bett war ein unter falschem Namen gemieteter nachtblauer Buick GL8 auf einem Parkplatz außerhalb des Krankenhausgeländes. Sinnhuber keuchte und schwitzte. Die kühle Nachtluft belebte ihn, doch er musste sich setzen, sobald Dr. Fang die hintere Tür des Kleinbusses aufgerissen hatte. Der Buick erinnerte Sinnhuber an einen VW-Bus, war jedoch kraftvoller und luxuriöser. Ein Fahrzeug für Neureiche.
Die beiden Assistenten beförderten die schlafende Pandadame mit viel Mühe auf die erste Rücksitzbank und bedeckten sie mit einem weißen Leintuch. Sinnhuber setzte sich daneben. Er hoffte, nicht allzu schnell zu sterben.
Sie hatten einen weiten Weg vor sich: Bis in die Hügel der Provinz Shaanxi brauchte man mit dem Auto mindestens zwölf Stunden. Dort lebten wilde Pandas, denen sich Fu-Chin anschließen konnte – so der verwegene Plan.
Der Kleinbus brauste die ganze Nacht lang immer nach Westen. Hinten saßen Sinnhuber und die Pandadame, die eine Viertelstunde nach der Abfahrt wieder erwachte. Sinnhuber und die Bärin verständigten sich mit Brummen und Streicheln. Normalerweise erwarten wir etwas anderes, wenn wir von der romantischen Liebe träumen. Doch Sinnhuber hatte nie in seinem Leben ein solches Hochgefühl erlebt. Sie, mit ihrem runden und behaarten Körper, die da neben ihm saß, war das Ziel all seiner Fürsorge und Zärtlichkeit.
Die beiden Assistenten zeigten durch Blicke und Gesten, dass sie der Pandadame misstrauten. Das wilde Tier konnte den wertvollen Professor beißen oder mit den Krallen verletzen.
Sinnhuber wusste nicht genau, warum er die Pandadame entführte. Das fremde Herz wies ihm den Weg wie ein Kompass voller Leben und Blut. Der ebenso wild entschlossene, wenn auch von Ehrgeiz getriebene Dr. Fang lenkte den Kleinbus über fast leere Straßen. Die Nacht war lang und kalt. Im Inneren sorgte die Heizung mit leisem Summen für Wärme und Schläfrigkeit.
Als die Sonne golden im Osten aufstieg, füllten sich die Verkehrswege mit hupenden Autos.
Erst gegen sieben Uhr morgens entdeckte das Klinikpersonal Sinnhubers Abwesenheit. Bei den flüchtigen Kontrollen vorher war das Bündel aus Kissen und Kleidungsstücken nicht aufgefallen. Die diensthabende Stationsschwester verständigte die Polizei.
Von den vielen Autofahrern und anderen Verkehrsteilnehmern, denen der Kleinbus begegnete, sahen manche die Pandabärin und lachten. Kinder auf Rücksitzen zeigten mit Fingern auf sie. Aufmerksame Beifahrer machten Fotos mit dem Handy. Doch nichts davon führte zu einer Meldung bei der Polizei.
Die österreichische Botschaft im Stadtbezirk Chaoyang erhielt die Nachricht erst am Nachmittag. Polizisten suchten das Institut für Materialwissenschaft auf und befragten das Personal. Niemand wusste etwas. Sinnhubers Assistenten Dr. Choi und Dr. Fang waren nicht zu erreichen. Die Polizei schrieb sie einige Stunden später zur Fahndung aus.
Allmählich verschlechterte sich der Zustand der Straßen. Die Landschaft wurde hügeliger. Das staubige Gelb der Hauptstadt wich Laub- und Nadelwäldern, die sich mit weitläufigen Wiesen abwechselten.
Sinnhuber rechnete damit, jeden Moment zu sterben. Aber das durfte er nicht! Die beiden Assistenten hätten die Pandabärin in diesem Fall zurückgebracht.
Seine wissenschaftliche Arbeit kümmerte ihn nicht mehr. Er lag mit großen Schmerzen auf der zweiten Rückbank, als Dr. Fang den Kleinbus an einer Tankstelle der Kette Sinopec auftankte, während Dr. Choi etwas abseits eine Zigarette paffte. Sie wollten kein Aufsehen erregen: „Halten Sie den Kopf unten, Herr Professor!“
Er hörte viele Stimmen in abgehacktem Chinesisch und unzählige vorbeifahrende Autos. Der runde Körper der Pandabärin bewegte sich vor ihm. Auch sie sollte flach liegen bleiben, wie er ihr immer wieder durch sanften Druck mit der Hand vermittelte. Wenn sie brummte, brachte es den ganzen Kleinbus zum Vibrieren.
Schwer zu sagen, warum die beiden Assistenten bei der Entführung überhaupt mitmachten. China war ein Land der Opportunisten. Vielleicht brachte sie die seltsame Logik ihres Landes dazu, Sinnhubers Wissen genauso heftig zu begehren wie einst die Bestnoten, die ihre Studien ermöglicht hatten. Die Aussicht, unschätzbare Einsichten zu gewinnen, wog schwerer als ein paar Gesetzesbrüche.
Möglicherweise hätten sie gemeinsam mit dem von seiner Herzkrankheit gezeichneten Sinnhuber eine Bank überfallen, wenn es dazu geführt hätte, die Sache mit der Pandabärin schnell hinter sich zu bringen?
Es war eine Frage des Standpunktes. Vielleicht war er es, der wie der Kaiser in einer alten Geschichte getäuscht wurde, um eine große Reise anzutreten.
Sie halfen ihm, weil sie von ihm profitieren wollten, doch als Chinesen verstanden sie, dass der innerste Kern eines Menschen in seinem Herzen lag.
Viele Stunden später rumpelte der Buick GL8 über einen Feldweg bis an den Rand eines Bambuswaldes, wo grünes Blätterdach das Licht abschirmte. Dort hielt er an. Die Reifen waren in den lehmigen Untergrund eingesunken. Es dämmerte. Dr. Choi kletterte aus dem Fahrzeug und öffnete die hintere Tür.
Sinnhuber und seine Pandadame umarmten sich lange. Die Umarmung ihres runden Körpers mit Sinnhubers schlanker Figur bot einen seltsamen Anblick: ein alt gewordenes Kind mit einem riesigen und unförmigen Teddybären.
Die Bärin kletterte hinaus. Mit traurigen Augen betrachtete sie den kranken Menschenmann, in dem das Herz ihres Gefährten lebte.
Was fühlte er? Es war gleichzeitig das größte Gefühl der Befreiung und der größte Trennungsschmerz. Beides überlagert von heftigen physischen Schmerzen.
Schwerfällig, doch mit sanften Bewegungen entfernte sich Fu-Chin in den Wald. Sinnhuber winkte ihr. Seine Augen folgten ihr, um nicht eine Millisekunde ihres Anblicks zu verpassen.
„Sind wir fertig und können dann zurückfahren? Wie geht es Ihnen eigentlich?“
Zum Teufel mit euch!
Nach dem ersten Impuls seines Ärgers spürte Sinnhuber Dankbarkeit. Er verstand, dass die beiden jungen Männer die Befreiung der Pandabärin nur als lästige Verzögerung für den Fortgang ihrer gemeinsamen Arbeit sahen. Sie hatten für ihn die Gesetze eines autoritären Staates gebrochen, der immer noch gerne die Todesstrafe durch Genickschuss verhängte.
Sinnhuber betrachtete die beiden: Pragmatische und mutige junge Männer mit dunklen Frisuren. Hätte er an ihrer Stelle dasselbe getan?
Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Der untere Teil ihrer Gesichter war mit Bartstoppeln bedeckt. Sie waren die ganze Nacht und die Hälfte des folgenden Tages abwechselnd gefahren und hatten nur dreimal an einer Tankstelle Halt gemacht, um den endlosen Durst des Kleinbusses nach Benzin zu stillen, auf die Toilette zu gehen und hastig ein paar Zigaretten zu rauchen.
Es war noch längst nicht vorbei. Beijing lag 1.200 Kilometer im Osten.
Sinnhuber sagte verlegen: „Danke, dass Sie das für mich tun!“
Dr. Choi, der auf dem Fahrersitz saß, nickte kurz. Dr. Fang klemmte sich eine Zigarette hinter das linke Ohr. Die beiden Assistenten waren fast so kaputt wie er. Sie fuhren wieder los.
Die Notaufnahme eines Provinzkrankenhauses fünf Autostunden vor Beijing war der Anlaufpunkt, den sie gerade noch erreichten, bevor Sinnhuber wieder einen Herzinfarkt erlitt.
„Cha bu duo!“, murmelte Dr. Choi.
Dem Personal in der Notaufnahme erzählte er eine abenteuerliche Geschichte von einer plötzlichen wissenschaftlichen Eingebung und einem Treffen weit außerhalb der Stadt, um eine großartige Forschungsarbeit anzustoßen. Dr. Fang schmückte die Erzählung mit einigen Details aus.
Natürlich glaubte niemand ihre blumigen Worte, doch die Geschichte erfüllte den Zweck, das Gesicht aller Beteiligten zu wahren.
Tage später brachte eine Wagenkolonne den ausländischen Wissenschaftler Dr. Peter Sinnhuber zurück an den Ort der Transplantation.
Die Polizei verhörte die beiden Assistenten sehr lange und setzte sie danach auf freien Fuß. Möglicherweise verschonten die unberechenbaren Götter der Justiz sie. Man brauchte sie.
Sinnhuber überlebte bis auf weiteres.
Eine Woche später, als er aufrecht in seinem Bett saß und gerade zu Mittag aß, besuchte ihn ein Agent des Inlandsgeheimdienstes, der sich als Inspektor Choi vorstellte.
Das Essen im Krankenhaus sollte seine Lebensgeister anregen. Auf ein wärmendes Hauptgericht aus Rindfleisch folgte ein kühlendes Gericht mit Bittergurke.
Der Inspektor fragte über das Tablett mit den Tellern hinweg: „Was haben Sie dort draußen gemacht?“
„Wir haben die Pandadame Fu-Chin entführt und sie in einem Bambuswald ausgesetzt“, gab Sinnhuber zu.
„Sie sind fast dabei gestorben.“
Der Inspektor lächelte über die mutige und aus seiner Sicht sinnlose Aktion.
„Ich musste es tun.“
„Dabei haben Sie eine Reihe von strafbaren Handlungen begangen.“
Sinnhuber nickte.
„Was wird jetzt passieren?“
Der Inspektor überlegte kurz. Dann sagte er: „Vermutlich gar nichts. Es ist ja wieder alles, wie es sein soll. Wir erwarten allerdings, dass Sie über diese Vorfälle schweigen.“
Bei allen Interviews und Berichten über die großartige Arbeit der Chirurgen und Sinnhubers Erholung kamen die Flucht und die Entführung der Pandadame nie zur Sprache.
Sinnhuber starb zwei Monate später, bevor er etwas Wesentliches zur Verbesserung der Synthese von Kohlenstoff-Nanoröhren beitragen konnte. Das Herz des Pandabären geriet aus dem Takt, bevor es stehen blieb wie ein defektes Uhrwerk.
Vorher konnte er seinen Assistenten allerdings einige Hinweise mit auf den Weg geben, was ihre Karrieren förderte.
Über tausend Kilometer entfernt spürte die Pandadame Fu-Chin, die noch immer in den Hügeln von Shaanxi lebte und den ganzen Tag Bambus fraß, seinen Tod.
Sie war gefangen und entführt worden, doch ihr Liebster hatte sie gerettet. Nun war der letzte Teil von ihm gestorben.