Mein Interview mit Gott
Auf diesen Tag hatte ich lange warten müssen, aber nun war er gekommen. In meiner langjährigen Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist hatte ich schon viele interessante Gesprächspartner, aber dieser würde meiner Karriere die Krone aufsetzen. Es war gar nicht so leicht, einen Termin zu bekommen.Nun war es gleich soweit.
Trotz intensiver, fast manischer Vorbereitung, der Recorder aufnahmebereit, Ersatzakkus dabei, den Photoapparat immer griffbereit, konnte ich meine Nervosität im Hinblick auf diese Ereignis nicht im Zaun halten.
Wartend in der Eingangshalle des Hotels 'Conti' in Münster, wie immer eine halbe Stünde zu früh, trank ich den dritten Tee, ohne Linderung der Unruhe zu erfahren, sitzend an einem kleinen Tisch mit Blick auf das Treiben am Hauptbahnhof. Wo blieb er denn?
In Gedanken versunken, malte ich mir schon das Layout dieser Reportage im Magazin „Wissen Aktuell“ aus und träumte vom Pulitzer-Preis, während mein Blick schweifte.
Plötzlich, ohne ein Geräusch zu erzeugen, saß er neben mir, so als ob er schon die ganze Zeit da gewesen wäre, nur unsichtbar. Ich erschrak und schrie laut auf, den Tee über meine Hose giessend. Das brachte ihn zum Lachen und ich schaute dabei in große, klare Augen eines kleinen Mädchens, vielleicht 12 Jahre alt, gekleidet in einer Bluejeans und einem schlichten Kapuzenpullover ohne Aufdruck.
Irritiert von dieser Erscheinung, stammelte ich fragend: „Du bist also Gott?“, dabei alle Begrüßungszeremonien außer acht lassend. Freundlich erwiderte das Mädchen: „Ja. Hast du etwas anderes erwartet?“. Ihre Stimme passte nicht ganz zur äußeren Erscheinung, da sie viel zu tief für ein Kind war. Ich war baff, hatte ich doch so etwas wie einen alten, weißbärtigen Mann erwartet, wie man ihn aus unzähligen Darstellungen kennt.
Nach einer längeren Pause hatte ich mich wieder gefasst und begrüßte ihn ordentlich: „Ja dann bedanke ich mich schonmal für ihre kostbare Zeit und ihr Erscheinen zu diesem Interview und heisse sie herzlich willkommen in Münster!“. Beim aussprechen dieser Worte kam ich mir irgendwie blöd vor. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er erwiderte die Begrüßung auf herzlichste. Das kleine Mädchen war scheinbar Gott.
Um mich zu beruhigen, schaltete ich den Recorder ein, öffnete den Objektivdeckel des Photoappartes und setzte mich in eine aufrechtere Position. Dies war eine Art Ritual, mit welchem ich jedes Interview begann; eine Art mechanisches Mantra, ein Ritual, um meine Gedanken zu ordnen.
Ich schaute ihm tief in die Augen und fragte nervös: „Können wir mit dem Interview beginnen oder haben sie noch Fragen zum Ablauf?“ Weise lächelnd, verneinte er und schaut mir, die erste Interviewfrage erwartend, genauso intensiv in die Augen.
Nun fing es also endlich an, 'Das Interview' meines Lebens. Sofort verengte das freigesetzte Adrenalin meine Pupillen, mein Herzschlag war im Hals zu spüren und mehr als ein stimmbruchartiges Quieken kam nicht aus meinem Mund, also räusperte ich erstmal kräftig.
Gut, die erste Frage war eine Standardfrage, wie bei allen meinen Interviews: „Machen sie bitte ein paar Angaben zu ihrer Person, damit der Leser sich ein Bild von ihnen machen kann.“
Die Antwort kam prompt: „Ich habe viele Namen, aber bleiben wir bei Gott. Da ich nie und an keinem Ort geboren wurde, verzichte ich auf sinnlose Zeitangaben. Ich bin auch keine Person und gehe keiner geregelten Tätigkeit nach, habe nie studiert und auch sonst keine Referenzen. Die beste Umschreibung wäre wohl 'arbeitsloses, transzendentes Wesen jenseits der vierdimensionalen Raumzeit'.“ Begleitet wurde diese Antwort von einem stetigen Lächeln.
Konsterniert fuhr ich fort: „ Ah ja, dann erübrigt sich wohl auch die Frage, was sie den ganzen Tag lang so machen?“. „ Auf jeden Fall würfle ich nicht! (Gott kichert dabei) Nein, Spaß beiseite, so etwas wie Zeit sehe ich zwar, aber ich bin nicht an eine Zeitrichtung gebunden. Der universelle Zeitpfeil, das Prinzip 'actio = reactio', ist ein Produkt des menschlichen Geistes, eine Illusion.“
Soviel Humor und Lockerheit hatte ich gar nicht erwartet. Warum eigentlich? Er saß mit geradem Rücken auf seinem Stuhl und strahlte eine immense Ruhe aus, ähnlich eines meditierenden Yogis.
Ich fuhr fort und versuchte einen professionellen Eindruck zu machen: „Gut. Dann kommen wir zu den interessanteren Fragen. Gibt es ein Leben nach dem Tod?“. Diese Frage wollte ich eigentlich erst gegen Ende des Interviews stellen, aber meine Neugier siegte. „Nein. Warum stellen immer alle diese Frage? Diese Frage ist an sich unlogisch.“ Diese kurze Antwort hatte ich nicht erwartet. Was meint er mit 'unlogisch'? Scheinbar störte er sich am Wort 'Leben', welches das Gegenteil von 'Tod' ist und demzufolge nicht nach Eintreten des Todes folgen kann. Das wäre unlogisch. Erstaunt von meiner Gerissenheit formulierte ich diese Frage um, wie ein Anwalt in einer billigen, amerikanischen Gerichtsserie.
„ Gut, ich formuliere die Frage anders: Bleibt nach meinem Tod etwas von meiner Person, meinen Eigenschaften, erhalten?“. „Nein. Sie haben da was nicht verstanden. Der gute Einstein war der Lösung recht nahe, als er die Raumzeit verkündete und erkannte. Die Zeit ist eine Eigenschaft des Raumes und an sich nicht existent. Ohne Zeit gibt es kein Vorher, kein Jetzt und kein Nachher. Wie gesagt, ist das eine hartnäckige Illusion ihres Geistes. Deshalb sind alle Fragen diesbezüglich sinnlos. Ich z.B. sehe alles was war, was ist und was sein wird. Es ist strukturiert, aber zeitlos. Sie glauben nur, dass sie leben und danach sterben. Bitte ersparen sie mir weitere religiöse Fragen! Das ist alles Humbug!“.
Diese Antwort schockierte mich und ich konnte meine Irritation nicht verbergen. Die Konsequenzen dieser Aussage liessen mein bisheriges Weltbild plötzlich schwanken. Kein Himmel? Keine Hölle? Keine Wiedergeburt? Keine Auferstehung? Kein jüngstes Gerich?. Gut, ich war nie besonders religiös, aber tief in meinem Herzen wäre mir ein Paradies schon recht gewesen. Da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Er bemerkte, was in mir vorging und erkundigte sich, ob alles in Ordnung mit mir sei. Nach einer Weile fasste ich mich wieder: „ Sie schockieren mich! Was bedeuten denn all die religiösen Erkenntnisse der Menschheit? Ist das alles Quatsch?“ „Die Religion dient dem Menschen zur Ausübung von Macht und zur Regelung des Zusammenlebens von größeren Gruppen. Dort hat sie, im Sinne der Menschheit, gute Dienste geleistet. Ihr habt euch vermehrt und habt euch die Welt Untertan gemacht. Das Konzept der Moral macht euch das Leben angenehmer. Das Konzept der Sünde und des Jüngsten Gerichts soll dafür sorgen, dass der Mensch sich auch an diese Moral hält, wenn er sie selbst nicht einsieht. Wer nicht freiwillig moralisch lebt, wird halt gezwungen. Das funktioniert, hat aber wirklich überhaupt nichts mit mir zu tun!“
Hat Gott etwa Karl Marx gelesen? Obwohl er keine weiteren religiösen Fragen wünschte, konnte ich nicht anders: „Keine göttlichen Wunder? Sie greifen nicht manchmal ins Weltgeschehen ein, um den Gerechten zur Seite zu stehen? Was ist mit Jesus und der Dreifaltigkeit? Irgendeine Religion muss doch Recht haben?“. Auf einmal kam mir ein Geistesblitz. Das war eine Prüfung. Wenn er mit mir redetet, was ja einem Eingriff in unsere Welt bedeutet, einem Wunder, dann hat er bestimmt auch die Zehn Gebote an uns Menschen übergeben. Er prüfte meinen Glauben. Während mir diese Erkenntnis klar wurde, schaute er mich die ganze Zeit lang an, schien meine Gedanken regelrecht lesen zu können. Noch bevor ich diese Überlegungen in Worte fassen konnte, unterbrach er mich: „Bitte machen sie sich nicht die Mühe, darüber logisch nachzudenken. Glauben sie mir, das hat schon den armen Kurt Gödel in die Verzweiflung getrieben.Am Ende seines Lebens verweigerte er komplett die Nahrungsaufnahme und starb in einer Fötushaltung, in seinem Bett kauernd. Ich habe keine Wunder vollbracht oder Gesetze kreiert. Das, was ich ihnen sage, ist eine universelle Wahrheit, welche jenseits von mir existiert. Da würden sie auch irgendwann von alleine drauf kommen.“
Nun war meine Verwirrung komplett. Ich nahm einen großen Schluck Tee, wohl eine Übersprungshandlung, und hustete den halben Schluck auf den kleinen Tisch. Da ich die Biographie von Kurt Gödel recht gut kannte, ich hatte einen Artikel über ihn verfasst, wußte ich, was das Nachdenken über Logik in einem Menschen verursachen kann. Viele große Denker, welche über Logik und Unendlichkeiten nachdachten, erlitten danach schwere geistige Schäden.Man denke nur an Georg Cantor oder Gottlob Frege. Ich betrat gefährliches Terrain und wissenschaftliche Gebiete in denen ich mich nicht besonders gut auskannte.
Aus Respekt vor diesem Thema, Angst vor der Psychiatrie und in Hinblick auf meinen Fragenkatalog beschloss ich, mit einem anderen Thema weiterzumachen: „Ich glaube zwar nicht, dass ich da alleine drauf gekommen wäre, aber nun gut. Ist denn schon alles vorgegeben? Ist das Universum berechenbar? Ich denke an die Theorie von Pierre-Simon Laplace und seinem 'Laplaceschen Dämon', welcher eine komplett deterministische Welt beschreibt.“ Er zögerte etwas: „Nein, das kann man so nicht sagen. Die Aussage ist relativ und stimmt nur für mich zu, da ich eine andere Sicht auf das Universum habe. Da es keine Zeit gibt, ist da nichts zu ändern. Das Universum gleicht keiner Uhr, sondern eher einer vierdimensionalen Skulptur. Das ist das einzige, was wirklich 'ist'. Daher passt der Ausdruck 'Determinismus' grob, ist aber nicht korrekt. Auch dieses Interview ist schon in dieser Skulptur enthalten. Aber das kann ein Mensch nicht feststellen oder sehen. Daher ist das Universum für ihn quasi nicht-deterministisch.“
„Das ganze Interview? Dann kennen sie ja schon alle Fragen. Ist das nicht langweilig, wenn man schon alles weiss?“ “Nein. Schon das Wort 'Langeweile' beinhaltet eine zeitliche Dimension...“ Langsam begriff ich: „...die es nicht gibt! Langsam verstehe ich die Dummheit meiner Fragen! Ich lasse die Fragen über Zeit und die Philosophie mal weg. Ich kann die Geometrie der Raumzeit nicht erkennen. Anderes Thema: Physik. Was hat es mit der 'dunklen Energie' und 'dunklen Materie' an sich, aus der das Universum angeblich zu 95 Prozent bestehen soll?“. Ich hatte genug von philosophischen und religiösen Fragen. Seine Antworten verursachten in meinem Kopf eher Verwirrung als Klarheit. Durch den groben Schwenk zur Physik hoffte ich auf klarere Aussagen. Ich wollte meinem Leser immerhin ein paar neue, revolutionäre Tatsachen verkünden. Das würde nicht nur meinem Ego, sondern auch meinen Konto zu Gute kommen.
Wieder kam seine Antwort ohne Verzögerung: „Diese Theorie ist falsch. Die Menschheit hat ein falsches Standardmodell der Physik. Ihr habt es ja noch nicht einmal geschafft, die Masse des Elektrons und ihr Verhältnis zur Masse des Protons theoretisch herzuleiten. Das ist noch ein langer Weg. Aber mit irgendwas müsst ihr euch ja die 'Zeit' vertreiben...(kichern)“. Er schien sich einen Spaß daraus zu machen, mich zu enttäuschen. Mein geliebtes Standardmodell soll falsch sein? Gut es ist nicht komplett, aber vieles konnte anhand von Messungen bewiesen werden. So falsch konnte es doch gar nicht sein. Jetzt reichte es mir. Ich fragte nun herausfordernd direkt: „Gibt es denn eine Weltformel, eine theory of everything, und wie lautet sie?“ So, nun habe ich ihn in die Enge getrieben! Aber sein Dauergrinsen verschwand nicht. Im Gegenteil. Es wurde noch breiter und er konterte: „Wie fad wäre das Leben, wenn alle Fragen beantwortet wurden?“. Toll. Ein philosophischer Gemeinplatz als Antwort. Ich kam mir wie ein Kind vor, welches von einem Lehrer gedemütigt wurde, damit dieser seine eigene Unwissenheit verbergen konnte. Er wusste es bestimmt selbst nicht. Ich liess nicht locker. „Geben sie mir wenigstens einen kleinen Hinweis!“.
Er wurde sachlicher: „Gut. Einen kleinen. Glauben sie aber nicht, dass er hilft. Die Anzahl aller Teilchen im Universum beträgt genau eins.“ Stille. Dann ein großes 'Hä?' in meinem Kopf. „Das verstehe ich nicht!“. “Sag ich doch!“. Er grinste nun wieder wohlwollend. Ich machte keinen Hehl aus meiner Enttäuschung: „Das ist unbefriedigend....Gut noch ein Versuch. Was war vor dem Urknall?“ „Ich dachte, wir würden diese unlogischen Fragen auslassen?“ Mit großen Augen fragte ich: „Ist auch diese Frage dumm?“. Langsam wirkte er ungeduldig: „Auf jeden Fall! Da ist schon wieder 'Zeit' drin. Ich beantworte im übrigen auch keine Fragen zu Neutrinos, Gravitationswellen, schwarzen Löchern, Wurmlöchern oder Erich von Däniken!“
Das war doch mein Fragenkatalog. „Aber genau diese Fragen wollte ich doch stellen...“ „Ich weiß....“. Ich errötete. Klar 'kannte' er schon all meine Fragen. Immerhin ist das Gott und ich Trottel nerve ihn mit meinen dummen Fragen. Kleinlaut, schon ein wenig geduckt, war fast nur ein Winseln von mir zu hören: „Oh. Dann noch diese letzte Frage: Sind wirklich UFOs in Roswell gelandet?“ Ich weiß, dass UFO-Fragen eher in den pseudowissenschaftlichen Bereich gehören, aber viele Leser und der Verleger sind nicht von ihrem UFO Glauben abzuhalten.Mit wurde diese Frage 'nahegelegt', und da meine wissenschaftlichen Fragen zum größten Teil abgeblockt wurden, erhoffte ich mir wenigstens hier eine klare Antwort. Er hatte scheinbar schon so etwas erwartet (kann er was erwarten?) und unterlegte seine Antwort mit wilden Gesten und einem Kopfschütteln: „Also, das sollte doch ein wissenschaftliches Interview werden...Na gut! Die Antwort lautet auch hier 'Nein'! Gegenfrage: Was sollten die hier schon großartig wollen? Rohstoffe (grinst) oder intellektuelle Erkenntnisse (lacht)? Von den Menschen (prusten)? Guter Witz! Die Antwort auf diese Phänomene steckt in der unausgereiften Psyche des Menschen. Ihr sucht im Grunde einen Übervater, der euch die Sorgen und das Denken abnimmt, damit ihr euch eurer kindlichen Regression vollkommen hingeben könnt. Zur Not tut es halt auch ein Alien. Wäre das nicht so bemitleidenswert, könnte man darüber lachen!“.
Na immerhin, diese Antwort entsprach genau meiner Meinung zu diesem Thema. In einem Anfall von Eitelkeit dachte ich nur 'Gott ist wirklich klug'. Die Zeit war abgelaufen.
Ich stellte den Recorder aus und bedankte mich bei ihm für das Interview. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich ihm kein Getränk geordert hatte und er scheinbar auch keinen Durst hatte. Diese Unhöflichkeit wurde scheinbar wohlwollend ignoriert. Schon ein netter Typ, dieser Gott. Ich verabschiedete mich und wir verliessen das Hotel durch eine Drehtür. Eine kleine, allerletzte Frage konnte ich mir beim Rausgehen dann doch nicht verkneifen: „Warum haben sie die Form eines kleinen Mädchens gewählt?“.Es kam wie immer eine göttliche Antwort: „Warum nicht?“