Mitglied
- Beitritt
- 31.01.2002
- Beiträge
- 41
Mein irres Paradies
"Das ist eine Übung"! sagte meine Therapeutin zu mir.
"Eine Übung für was?" entgegnete ich.
"Für Ihr Selbstbewußtsein", klärte sie mich auf.
"Mein Selbstbewußtsein ist in Ordnung!" entgegnete ich empört. Dr. Kaitslow lächelte wissend.
Nein, mein Selbstbewusstsein war nicht in Ordnung. Seit meiner Kindheit hatte es in meinem Leben eine gewisse Unsicherheit gegeben. Genauer gesagt: Meine Unsicherheit war einer der Grundsätze meines Lebens überhaupt. Jeder Schritt, den ich wagte, wurde von einer Reihe von Erwägungen begleitet. Ist es die richtige Entscheidung? Sollte ich es nicht besser lassen? Sollte ich nicht besser warten? Sollte ich nicht zuerst den Beweis erbringen, dass ich es wert war, eine Entscheidung zu fällen?
Die Themen waren austauschbar. Eingelullt in Unsicherheiten konnten selbst auf den ersten Blick so brillant erscheinende Vorhaben – wie die Küche in rot zu streichen, einen Kursus in Bildhauerei zu belegen oder spontan nach Brasilien zu fliegen – im Keim erstickt werden. Meine Untersicherheit war das Regulativ, das mich auf normal hielt – was immer ich darunter auch verstehen wollte.
Ich kenne mich leider nicht gut. Man müsste meinen, ich würde mich kennen. So wie jeder Mensch sich irgendwie kennt. Tatsache ist aber, dass ich mir in großen Bereichen fremd bin. Wenn ich so mit mir umgehe – und das tue ich den größten Teil des Tages – ist es immer so, als wäre da ein Teil in mir, an mir, der mir völlig fremd ist. Nein, ich bin nicht schizophren. Dieser fremde Teil scheint alle bunten, glitzernden Kugeln zu beherbergen. Hier wohnen meine Geheimnisse, meine Talente, hier lebt mein wahres Selbst in einem Loft mit Blick über die Themse. Oder über den Gardasee. Oder über Rimini. Oder über den Ganges. Oder auf die Brooklyn Bridge. Who knows?
Dr. Kaitslow hatte sich fest vorgenommen, mein wahres Selbst aufzuspüren. Zwar konnte ich ihr keine konkrete Aussage über meine Vermutung, wie phantastisch ich in Wahrheit sei, entlocken, doch sie hatte mir bisher auch nicht widersprochen.
"Die meisten Menschen halten sich für etwas Besonders", erklärte Sue, eine meiner besten Freundinnen. Klar war, dass Sue sich für etwas Besonderes hielt.
"Ich glaube eher, dass die meisten Menschen so normal und unauffällig wie möglich sein möchten", warf Stefan ein, der in seinem grauen Pullover und der Jeans so normal und unauffällig wie nur möglich war.
"Reden eigentlich alle nur von sich selbst?" fragte ich Dr. Kaitslow.
"Meistens, wenn es keine Therapeuten sind", lautete ihre Antwort.
Meine Übung bestand im Kauf und Tragen eines Kleides. Eines besonderen Kleides. Eines besonderen Kleides für einen besonderen Menschen. Hatte Dr. Kaitslow gesagt. Ich mag sie.
Seit drei Wochen hing das rosa Kleid im Schaufenster eines der exquisitesten Läden Berlins. Inmitten einer in Pastellfarben gehaltenen Dekoration, umrahmt von Tüll, Taft, Wattebäuschchen, künstlichen Blüten und kleinen Elfen.Ich hasste Elfen. Nicht nur das. Ich hasste Pastellfarben, Tüll, Taft und das ganze Wattebausch-Ambiente, das die zugekiffte Dekorateurin inszeniert hatte.Dennoch musste ich zugeben: ihr Arrangement stimmte. Jeden Tag blieb ich kurz vor dem Schaufenster stehen und bestarrte die Komposition. Das Schaufenster war wie ein Traum. Ein Frühling, geballt auf vier Quadratmeter hinter einer makellosen Scheibe. Inmitten dieser Traumwelt prangte ein ärmelloses Kleid aus rosa Seide, dessen runder, schwungvoll geschnittener Ausschnitt mit kleinen Seidenrosen verziert war. Besonders gut gefiel mir der hohe Schlitz, der diese bodenlange Ballrobe recht sexy erscheinen ließ.
Bei einer meiner Sitzungen – es ging um die Visualisierung positiver Momente im Alltag – hatte ich von dem rosa Kleid erzählt. Dr. Kaitslow war sofort darauf angesprungen. Nachdem ich ihr sämtliche Details beschrieben hatte, und zwar so lange, dass ich mir wie ein amerikanischer Sitcom-Teenager vorkam, lehnte sie sich zurück, kaute kurz am Bügel ihrer Lesebrille und klopfte energisch mit ihren knochigen Knöcheln auf die Platte des kleinen Marmortischs.
"Das ist es!" hauchte sie begeistert, um mit festerer Stimme fortzufahren. "Kaufen Sie dieses Kleid."
Ich weiß nicht, ob Dr. Kaitslow eine Vorstellung davon hat, wie viel Geld ich im Monat zur Verfügung hatte.
"Sehen Sie Ihre Unsicherheit als eine Art Hürde, die Sie zuerst überwinden müssen, bevor Sie das bekommen, was Sie wirklich wollen", sinnierte Dr. Kaitslow. Sie war wirklich gut. Wenn sie mich gefragt hätte, was ich mit dem Kleid wolle, hätte ich ihr keine Antwort geben können. Schon gar nicht, weil ich doch eher der Fallschirmspringertyp von Frau war, der wenig Wert auf eine erlesene Garderobe legte.
Meine Feuerprobe stand bevor. Ich betrat den Laden. Eine Verkäuferin, Mitte Vierzig, blondierte Haare, die zu einer Art Helm toupiert worden waren, mit silber-goldenen Ohrringen, einer ebenfalls im silber-goldenen Metallmix gehaltenen, klobigen Halskette und einer Überdosis Parfüm musterte mich verständnislos.
"Was kann ich für Sie tun?" säuselte sie von oben herab.
"Aus dem Laden rennen und sich vor ein Auto werfen?" säuselte ich zurück. Natürlich säuselte ich das nicht. Statt dessen piepste ich: "Ich würde gern das rosa Kleid im Schaufenster anprobieren." Nervös beobachtete ich die Helmfrau und fragte mich, ob sie mich wirklich verstanden hatte. Sie hatte.
"Das ist von MacCane", erklärte sie mir.
"Aha", nahm ich zur Kenntnis. Wer zur Hölle war MacCane?
"Kann ich es trotzdem anprobieren?"
Noch einmal musste ich ihren Ich-mustere-dich-von-Kopf-bis-Fuß-du-kleine-Schlampe-Blick über mich ergehen lassen. Dr. Kaitslow hatte recht: Mit meinem Selbstbewusstsein stimmte wirklich etwas nicht.
"Es ist eine Übung", murmelte ich und beobachtete Helmfrau dabei, wie sie ihren fetten Hintern in die Schaufensterdekoration schob.
Bei dem Versuch, das Seidenkleid schnell überzustreifen, eckte ich zuerst an der linken, dann an der rechten Kabinenwand an. Plötzlich ergriff mich Panik. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ein ungünstiger Moment, jetzt, wo der größte Teil des Kleides genau zur Hälfte über mich gestülpt war und nicht nur meinen Kopf, sondern auch beide Arme bis zur Hüfte fesselte.
"Alles in Ordnung?" fragte Helmfrau.
"Hmpfhmpf!" Ich bemühte mich, einen zustimmenden Tonfall zu produzieren. Das musste ihr als Antwort genügen.
Manche Dinge, von denen man denkt, man schaffe sie nie, schafft man dann doch. Und dabei stellt sich dann heraus, dass alles nur halb so wild war. Wie zum Beispiel der Gang in diese Boutique, das Überstreifen des Kleides und die Kommunikation mit Helmfrau.
Ich hatte es geschafft. Ich steckte in dem rosa Kleid. Ich schloss den seitlichen Reissverschluss und stellte zu meiner Befriedigung fest, dass ich immer noch atmen konnte. Mit einem mutigen Ruck riss ich den Kabinenvorhang zur Seite und entlockte Helmfrau ein kurzes, bewunderndes "Ahhh", das sie sofort abwürgte, als sie erkannte, was sie von sich gab.
Erhobenen Hauptes schritt ich zum Spiegel, achtkant, geschliffene Ränder. Jetzt war es an mir, in ein bewunderndes "Ahh" auszubrechen. Vor mir stand – Camerion Diaz im Brautkleid, Julia Roberts im Ballkleid, Brittney Spears im Konfirmationskleid – nein, vor mir stand etwas, das im Loft wohnte.
"Ich weiß nicht, was mich diese Übung gelehrt hat", sinnierte ich vor Dr. Kaitslow. Sie musterte mich.
"Aber Sie haben sich doch so verändert."
Ja das hatte ich. Seit acht Wochen trug ich ein rosa Seidenkleid, jeden Tag. Ich schlief in dem Kleid, ging damit zur Arbeit und fuhr sogar darin Fahrrad. Das Kleid war meine erste, zarte Funkverbindung zu meinem neuen Leben.
"Sie wollen es nicht mehr verlieren, nicht wahr?" fragte Dr. Kaitslow.
"Ganz genau", stimmte ich ihr zu und strich über die rosa Seidenblümchen am Kragen. Ich hatte mein irres Paradies gefunden.
[Beitrag editiert von: Endorphina am 15.03.2002 um 01:31]