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Mein jüngeres Ich

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13.02.2007
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Mein jüngeres Ich

Es war ein Morgen wie jeder Morgen und sollte ein Tag wie ein jeder werden, als ich heute in meinem Badezimmer vor dem Spiegel stand und mein Abbild betrachtete.
Doch bei der Umgebung, in der mein anderes Ich dort stand, handelte es sich nicht um mein Badezimmer, es war viel mehr nur eine tiefe, einnehmende Schwärze, die jeden Raum verschluckt hätte. An den Seiten im Innern des Spiegels schwebten gläserne Windspiele im Nichts. Sie gaben ein Klingeln von sich, wie tausend kleine Glöckchen, und schimmerten hellblau und rosa, wenn ein unsichtbarer Wind sie bewegte.
Die Windspiele waren mit ihrer unwirklichen Schönheit sogleich vollkommen fehl an diesem kalten Ort.
Aber wahrscheinlich, so versuchte ich mir einzureden, war dies sowieso alles nur Einbildung.
Denn wie sonst könnte es sein, dass ein Spiegel ein Klingeln wiedergibt?
Das Unspektakulärste an dem ganzen Geschehen war mein eigenes Abbild, das mir mit ungläubigen Augen entgegenstarrte und damit lediglich meine Bewegungen nachahmte.
Auch wenn mein Abbild, genau genommen, nicht mein wahres Ich, sondern mein Ich zeigte, wie es mit elf Jahren ausgesehen hat.
Plötzlich blinzelte das kleine Mädchen unerwartet und lächelte mich an, wobei ich erschrocken einen Schritt nach hinten machte und gegen die Badewanne stieß.
„Hallo?“, sagte sie in einem belustigten Ton.
„Wer bist du?“, fragte ich, obwohl ich gleich wusste, dass ich mir die Frage hätte sparen können.
„Ich bin du“, sagte sie. Anschließend sah sie verwirrt aus. „Das heißt: Ich bin ich. Auch. Ach, du weißt doch genau, was gemeint ist! Ich habe jedenfalls auf dich gewartet.“
„Warum?“, fragte ich hastig.
„Ist das nicht egal?“, sagte sie.
Dabei machte sie einen Schritt nach vorn und stieg aus dem Spiegel, so dass sie mit im Badezimmer stand.
So kam es, dass ich auf einmal nach all den Jahren wieder meinem jüngeren Ich gegenüberstand.

„Warum läufst du weg?“
Ich war vor lauter Panik in die Garage geflüchtet... vor mir selbst! Dabei bemerkte ich, dass ich noch immer meinen blauen Bademantel und die rosa Hausschuhe trug. Doch meine Bemühungen halfen nichts, denn mein jüngeres Selbst ließ sich nicht abschütteln.
„Du willst doch nicht so vor die Tür gehen?“, fragte sie und rümpfte die Nase.
„Und wieso gehst du nicht durch die Haustür?“
„Warum gehst du nicht?“, fragte ich genervt.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich so stur und hartnäckig gewesen bin.
„Ich bin doch gerade erst gekommen!“
„Aber wieso bist du gekommen? Und ausgerechnet jetzt? Du hättest doch auch schon früher kommen können.“
„Das hätte doch keinen Sinn gemacht, da wäre ich ja noch nicht so viel älter gewesen. Wie alt bist du jetzt eigentlich?“
„Ich bin 26.“ Stöhnend ließ ich mich rückwärts auf meinen alten Gartentisch fallen.
Mein jüngeres Ich kam bedrückt auf mich zu und setzte sich neben dem Gartentisch auf den dazugehörigen Gartenstuhl.
„Ich bin eine alte Frau“, meinte sie verzweifelt.
„Nein, eine alte Frau bist du, wenn du 50 bist.“
„Das dauert ja nicht mehr lange.“
Auf einmal kam mir eine Idee. „Du bist bestimmt nicht echt.“ Ich klopfte ihr ein paar Mal auf den Kopf, doch meine Hand ging nicht durch sie hindurch.
„Glaubst du mir jetzt, dass ich du bin?“, fragte sie ungeduldig.
„Weißt du, warum du hier bist?“, fragte ich erneut.
„Nicht wirklich. Aber ist das nicht schön, dass wir uns begegnen?! Ich wollte dich schon immer einmal treffen! Ständig habe ich mir vorgestellt, wie du bist und wie du aussiehst.“
„Es muss einen Grund geben, warum du hier bist“, beharrte ich.
„Bestimmt. Aber du musst mir erst einmal alles erzählen! Was machst du beruflich? Bist du verheiratet? Hast du einen Hund? Was ist dein Lieblingsfilm?“
Ich stand auf und ging in der Garage umher.
„Ich muss mich konzentrieren. Rede nicht dauernd!“
„Ich rede doch gar nicht viel!“
„Das habe ich auch gedacht!“
Beleidigt verschränkte das kleine Mädchen die Arme und sah mir zu, wie ich noch eine Weile schweigend umherging. Dann hob sie den Arm und zeigte in die rechte Ecke der Garage. „Das ist doch die Holzkiste von Papa, habe ich Recht?“
„Ja, das ist sie“, antwortete ich und wusste im ersten Moment nicht, worauf sie hinaus wollte, denn ich hatte die Kiste völlig vergessen. Doch nun kamen die Erinnerungen ganz plötzlich wieder. Schnell ging ich auf die Holzkiste zu und öffnete sie.
Mein alter Drachen lag ziemlich unordentlich zusammengelegt in der Kiste und sah mich mit den schwarzen Augen an, die ich ihm gemalt hatte. „Sieh mal, er ist violett! Das war schon immer meine Lieblingsfarbe!“, sagte ich erstaunt, während ich ihn behutsam aus der Kiste holte. „Mein Drachen, du bist also auch alt geworden!“, sagte das kleine Mädchen und lief lachend und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
„Du kennst ihn also schon?“, fragte ich.
„Ja, Papa und ich sind gerade dabei, ihn zu bauen. Du hast ihm sogar Augen gemalt!“
Sie sah den Drachen erwartungsvoll an.
„Hier, nimm ihn ruhig.“ Vorsichtig legte ich den Drachen meinem jüngeren Selbst in die Arme. Begeistert betrachtete sie ihn von allen Seiten, bis sie plötzlich den Kopf hob und mir verständnislos ins Gesicht schaute.
„Er... ist nicht fertig.“
„Wir haben ihn auch nie fertig gebaut.“
„Aber so wie er jetzt ist kann er nicht fliegen!“, stellte sie fest und fügte nach einer kurzen Pause resigniert hinzu „Er ist noch nie geflogen.“
„Nein, noch nie.“ Als ich in das enttäuschte Gesicht des kleinen Mädchens sah, das einmal ich selbst gewesen bin, wurde ich ganz traurig.
Ich wusste, wie viel Mühe ich mir gegeben hatte und nun stellten wir beide fest, dass all unsere Mühe vergeblich gewesen ist.
„Kannst du den Drachen denn nicht zu Ende bauen?“, fragte sie mich.
„Ich könnte“, antwortete ich unschlüssig.
„Wieso hast du es dann noch immer nicht getan?“
„Weil ich keinen Grund dazu hatte.“
„Musst du denn immer für alles einen Grund haben?“, schrie sie wütend.
In diesem Moment glaubte ich, zu verstehen. „Warte hier“, sagte ich und ging an ihr vorbei in Richtung Tür. „Ich zieh’ mich nur schnell an und hole ein paar Sachen. Dann können wir uns um den Drachen kümmern.“
Während sie unbeholfen in der Mitte der Garage stehen blieb und mir hinterher schaute, fing ich an zu lächeln.
„Wir bringen es zu Ende!“, rief ich beim Herausgehen.

Eine halbe Stunde später saßen wir auf dem Boden der Garage, umgeben von allerhand Materialen und Bauteilen, die wir zur Fertigstellung des Drachen benötigten. Sogleich machten wir uns zielstrebig an die Arbeit, wobei der Raum von unserem konzentrierten Schweigen erfüllt war, welches lediglich durch das dumpfe Hämmern, Klopfen und Knistern unseres entschlossenen Schaffens unterbrochen wurde. Wir brauchten auch gar nichts zu sagen, denn unser Lächeln reichte aus, um mehr zu sagen als tausend Worte.
Es war eine sehr angenehme Atmosphäre und ich fühlte mich nun sehr wohl in der Nähe meines jüngeren Ichs, das so viel Wärme ausstrahlte.
Nach einiger Zeit unterbrach die Kleine das Schweigen. Ich merkte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. „Freust du dich eigentlich gar nicht, dass ich dich besuchen gekommen bin?“, fragte sie. Es lag eine Unsicherheit in ihrer Stimme, die Mitleid in mir weckte. Mitleid darüber, dass ich sie nicht netter empfangen habe.
„Doch, ich freue mich, dass du hier bist“, antwortete ich wahrheitsgemäß und war über diese Tatsache in gewisser Weise selbst erstaunt.
„Weißt du, ich habe mich einfach erschrocken, als du aus meinem Spiegel gekommen bist. So etwas kommt schließlich nicht jeden Tag vor.“
Das Mädchen lachte. „Ich denke, das kommt häufiger vor, als du denkst. Aber ich verspreche dir, dass ich das nächste Mal ein wenig vorsichtiger und einfühlsamer bin!“
„Du kommst mich also bald wieder besuchen?“, fragte ich erstaunt.
„Vielleicht“, meinte sie und grinste spitzbübisch.
Im gleichen Moment nahm ich den letzten Handgriff zur Fertigstellung unseres Drachens vor. „Die Arbeit ist beendet. Er ist fertig!“, sagte ich freudestrahlend und zeigte der Kleinen sogleich unser Werk. „Er ist sehr schön geworden“, sagte sie glücklich, während sie ihn genau von allen Seiten betrachtete.
„Ich würde ihn zu gerne einmal fliegen sehen.“
Sie blickte mir fragend ins Gesicht. „Glaubst du, er kann überhaupt richtig fliegen?“
„Ich weiß es nicht...“. Vom Ehrgeiz ergriffen ergänzte ich hastig: „Aber lass es uns ausprobieren!“
„Ja. Das ist eine gute Idee.“
Wir packten den Drachen so schnell es ging ins Auto und fuhren ohne weitere Überlegungen zu dem Ort, den mein jüngeres ich am liebsten hatte.

Einige Zeit nach unserem ziemlich überstürzten Aufbruch erreichten wir schließlich die Rheinwiesen. Wir gingen direkt zu dem Ort, an dem wir den Drachen schon in meiner Kindheit haben steigen lassen.
Mein jüngeres Ich steuerte sofort die nächste Bank an und setzte sich vergnügt hin, während ich den Drachen flugbereit machte. Dieses Bild war mir sehr vertraut. Als ich in ihrem Alter war habe ich mich immer auf dieselbe Bank gesetzt und mein Vater hatte den Platz eingenommen, auf dem ich mich jetzt befand.
Ich hielt einen kurzen Moment inne und ließ den Ort auf mich wirken. Erinnerungen kamen in mir hoch und ich wusste wieder, wie sehr ich diesen Ort geliebt habe. Vor allem zu dieser Zeit, im späten Herbst, war er besonders schön.
Es ging ein leichter Windhauch durch die immergrünen Wiesen, der die Grashalme sanft hin- und herwog und das Wasser Wellen schlagen ließ. Außerdem brachte er eine herrlich frische Luft mit sich. In der Ferne färbte sich der Himmel langsam rot. Erst jetzt bemerkte ich, dass es schon später Nachmittag geworden war.
Ich hatte heute jegliches Zeitgefühl verloren.
Auch mein jüngeres Ich sah zum Himmel auf.
„Weißt du noch, dass Mama immer gesagt hat: `Wenn sich der Himmel rot färbt, bedeutet das, dass die Engel in Gottes Himmelsbäckerei Plätzchen backen`?“
„Die Himmelsbäckerei – wie könnte ich die jemals vergessen?!“
„Du hast ja auch den Drachen vollkommen vergessen.“
„Es stimmt. Ich habe viele Dinge einfach vergessen“, sagte ich traurig.
„Zum Beispiel diesen Ort hier. Es ist der Platz, an dem ich mich in meiner Kindheit am liebsten aufgehalten habe. Und wahrscheinlich ist er auch noch immer der schönste Ort, an dem ich jemals gewesen bin. Trotzdem habe ich ihn vergessen.“
„Das ist traurig.“
„Ja. Aber jetzt sind alle Erinnerungen wieder da. Dabei habe ich mir den Ort nur angesehen. Es ist erstaunlich, wie vertraut dies alles noch immer ist.“
„Dann hast du den Ort nicht wirklich vergessen“, meinte das kleine Mädchen.
„Wie meinst du das?“, fragte ich.
„Wenn du den Ort wirklich vergessen hättest, dann könntest du dich jetzt nicht einfach so ohne Weiteres daran erinnern. Ich denke, du hast die Erinnerung nur in eine Kiste gepackt und weggelegt. Genau wie den Drachen!“
Ich ließ mir die Worte kurz durch den Kopf gehen, dann sagte ich entschlossen: „Jetzt sieh zu, wie er fliegt!“ Ich rannte los und der Drachen hob von der Erde ab. Begeistert sprang mein jüngeres Ich von der Bank und lief mir hinterher. Als sie mich eingeholt hatte, blieb ich stehen und gemeinsam beobachteten wir, wie der Drachen durch die Lüfte schwebte.
In diesem Moment fühlte ich mich selbst wieder wie ein kleines Kind.

Nachdem wir genug vom Drachensteigen hatten, setzten wir uns zusammen auf unsere Bank. Der Drachen lag dabei ausgebreitet auf meinem Schoß. „Ich möchte nicht, dass du gehst“, sagte ich nach langem Überlegen.
„Aber ich muss irgendwann wieder gehen“, erklärte mir das kleine Mädchen.
„Wirklich? Ich dachte nämlich schon, dass du jetzt für immer bleibst. Ich dachte zuerst auch, dass der Grund für deinen Besuch darin läge, den Drachen zu Ende zu bauen und fliegen zu lassen und dass du danach verschwinden würdest. Aber da habe ich wohl falsch gedacht.“
Ich lachte.
„Darf ich dich etwas fragen?“, fragte die Kleine.
„Natürlich.“
„Warum brauchst du unbedingt einen Grund dafür, dass ich gekommen bin?“
Ich überlegte kurz und versuchte anschließend zu erklären: „Es werden noch viele Dinge geschehen, die du nicht verstehen wirst. Wenn du dir dann sagst, dass es trotzdem irgendeinen Grund dafür gibt, dann macht das vieles einfacher. Und manches kannst du nur auf diese Art ertragen.“
Danach stellte sie schließlich die Frage, auf die ich schon den ganzen Tag gewartet hatte.
„Warum hast du den Drachen nicht fertig gebaut?“
„Weil sich Mama und Papa haben scheiden lassen!“, entfuhr es mir plötzlich. Traurig und erstaunt zugleich fügte ich hinzu: „Eigentlich wollte ich dir das gar nicht sagen.“
„Ist schon gut. Ich weiß es schon“, antwortete sie bedrückt.
„Es ist schon passiert?“
„Nein. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie streiten sich ununterbrochen. Ich wusste, dass es geschehen wird, auch ohne dich. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Was hast du gemacht? Wie hast du dich verhalten?“
„Nachdem die Scheidung vorüber war, ist Papa ausgezogen. Ich habe sehr oft in meinem Zimmer gesessen und geweint. Niemand hat mich weinen sehen, ich war völlig allein.“
„Und dann?“
„Irgendwann habe ich festgestellt, dass es kein Zurück mehr gibt, obwohl ich noch nicht einmal den Grund für all das kannte. Da habe ich mir gesagt, dass ich am Besten ganz von vorne anfange und alles vergesse, was bisher geschehen ist. Ich war mir sicher, dass ich dadurch auch endlich den Grund verstehen würde. Dann habe ich den Drachen in Papas Holzkiste gelegt. Sie war sowieso das einzige, was von Papas Sachen im Haus geblieben war, so konnte ich direkt beides in die Garage verbannen. Aber der Drachen schien wohl nicht das einzige gewesen zu sein, was ich damals in die Holzkiste gesperrt habe. Es ist, wie du gesagt hast. Meine Erinnerungen waren auch dabei und heute bin ich sehr traurig darüber, dass ich sie weggelegt habe.“
„Aber jetzt ist die Holzkiste doch wieder offen. Darum müssten deine Erinnerungen doch auch wieder da sein!“
„Das sind sie. Aber wofür habe ich sie aufgegeben, nur um sie jetzt wiederzufinden?
Warum musste das alles überhaupt geschehen? Warum musste ich damals unglücklich werden? Warum? Aus welchem Grund?“
„Hör’ doch endlich auf, immer nach Gründen zu suchen und fang wieder an zu leben!“, schrie die Kleine und sprang auf.
„Du nimmst es nicht hin, etwas nicht ergründen zu können, darum bist du enttäuscht. Und darum siehst du auch nicht das Schöne, wie, zum Beispiel, dass deine Erinnerungen zurückgekommen sind. Aber ich verstehe das nicht. So bin ich nicht! Ich sehe das Schöne und ich brauche keine Gründe!“
„Das weiß ich nun auch“, sagte ich und wandte mich von ihr ab.
„So bin nur ich. Es tut mir leid, dass ich mich so verändert habe, dass du mich nicht mehr magst.“
„Wenn du auf diese Art glücklich geworden bist, dann ist es in Ordnung.“
Ich antwortete nicht.
„Bist du glücklich?“, fragte mein jüngeres Ich. „So, wie du jetzt bist?“
„Nein. Ich bin nicht glücklich, so wie ich jetzt bin.“ Ich sagte ihr die Wahrheit.
„Wie würdest du dich denn mögen?“
„So wie du bist.“
„Das ist ja nicht schwer!“
Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht.
„Du musst nur dort weitermachen, wo du aufgehört hast.“
„Es ist schön, dass du glaubst, es wäre leicht. Aber ganz ehrlich: Ich denke, ich kann nicht so einfach wieder zurück. Nicht nach all der Zeit.“
„Du kannst! Wie gesagt, die Holzkiste ist schon wieder offen. Und den ersten Schritt hast du auch schon gemacht.“ Ich sah nach unten. Mein jüngeres Ich zeigte auf den Drachen!
„Ganz nebenbei: Da, wo ich herkomme, spielt Zeit sowieso keine Rolle!“ vertraute sie mir flüsternd an und grinste dabei.
Ich musste auch lächeln: „Was meinst du? Jetzt, da wir wissen, dass der Drachen fliegt, wäre es da nicht an der Zeit für den tollsten Flug in der Geschichte des Drachenflugs?!“
„Und ob! Aber diesmal will ich auf dem Drachen sitzen!“
„Nein, das ist viel zu gefährlich! Außerdem bist du viel zu schwer. Als ich dich vorhin aus dem Wagen heben wollte, hätte ich das fast nicht geschafft.“
„Ich bin mir sicher, ich bin leichter, als du denkst“, sagte das Mädchen, während sie schon dabei war, auf den Drachen zu klettern.
„Das geht aber...“
„Noch etwas. Ich habe nie gesagt, dass ich dein jetziges Ich nicht so mag, wie es ist.“
„...okay,“ stöhnte ich.
„Versprich mir wenigstens, dass du dich gut am Drachen festhältst.“ „Mach ich.“ Als ich nun loslief, lief ich so schnell ich nur konnte.
Der Drachen hob ab und glitt noch viel leichter und schöner in der Luft als beim letzten Mal, obwohl mein vor Freude schreiendes jüngeres Ich obenauf saß.
Mit einem Mal fühlte ich mich so leicht, als wäre mir alle Last von den Schultern gefallen. Dieses Gefühl war überwältigend und schier unbeschreiblich.
Mein jüngeres Ich schrie ständig „Schneller!“, so dass ich gar nicht mehr anhalten wollte und einfach weiterlief, wobei ich dem roten Sonnenuntergang immer näher kam.
„Wenn du so weiterläufst, dann stehen wir gleich in der Himmelsbäckerei!“
„Die gibt es doch bestimmt gar nicht.“
„Doch, natürlich gibt es die Himmelsbäckerei!“
Nach kurzem Überlegen fügte die Kleine hinzu: „Lass den Drachen bitte los, damit ich zur Himmelsbäckerei fliegen kann. Ich möchte sie so gerne sehen!“
„Aber was ist, wenn dir etwas passiert?“
„Mir kann nichts passieren. Du bist schließlich schon erwachsen.“
„Das Risiko ist zu hoch. Ich lasse nicht los!“
„Bitte. Es ist nun soweit. Du musst mich jetzt gehen lassen.“
Die Kleine sagte diese Worte in einem so sanften Tonfall, dass ich nicht anders konnte und abrupt stehen blieb. Dann ließ ich die Schnur behutsam aus meinen Händen gleiten.
„Das ist dann wohl der Abschied.“
„Hab’ keine Angst! Wir werden uns wiedersehen! Bis dahin darfst du mich aber nicht mehr vergessen!“ „Ich werde dich nie wieder vergessen!“
Den ganzen Tag lang habe ich immer wieder gedacht, ich hätte verstanden, warum sie gekommen ist. Vermutlich, weil sie mir so viel gezeigt und beigebracht hat. Doch erst jetzt habe ich das ganze Ausmaß ihres Besuchs erfasst.
Es war nämlich so, dass ich mit der Zeit nicht nur das Schöne in meinem Leben, sondern auch das Schöne an mir selbst verdrängt habe und schließlich sogar mein ganzes jüngeres Ich.
Heute habe ich sie wiedergefunden, dieses kleine Mädchen, und ich werde sie nicht mehr verlieren. Das schwor ich mir an diesem Tag.
Außerdem habe ich beruhigt festgestellt, dass ich mich im Grunde gar nicht so stark verändert habe, wie ich dachte, und alles einfach nur von einem sehr dunklen Blickwinkel aus betrachtet habe. Denn sonst hätte mein jüngeres Ich nicht durch die unendlichen Weiten des Spiegels zu mir finden können. Und die Holzkiste stand schließlich auch die ganze Zeit über griffbereit in der Garage und musste lediglich geöffnet werden.
Ein wenig stolz auf mich selbst, musste ich allerdings noch die eine Frage stellen, die mir schon lange auf der Zunge brannte: „Wie konnte es eigentlich geschehen, dass ich mich so verändert habe?“
„Unsere Eltern haben sich scheiden lassen. Das war für dich ein so schlimmes Ereignis, dass du nur noch traurig warst und überhaupt nicht mehr darüber nachdenken konntest, was gut für dich ist. Du wusstest nicht mehr weiter und warst unsicher. So etwas verändert einen Menschen eben.“
„Zum Abschied gibst du mir noch einen Grund?!“
„Ich habe gesagt, dass ich keine Gründe brauche, nicht, dass ich keine hätte!“
Wir lachten beide. Mittlerweile mussten wir aus vollem Halse brüllen, um uns noch verstehen zu können.
Aber zum Glück brauchte ich nur noch eines zu tun.
„Guten Flug!“, schrie ich. „Ich vertraue dir meinen Drachen an!“
„Danke. Der Drachen und ich, wir beide werden in der Himmelsbäckerei auf dich warten. Und grüß’ die alte Frau von mir! Auf Wiedersehen“, brüllte sie.
Auf Wiedersehen. Damit flog mein jüngeres Ich mit unserem Drachen dem Sonnenuntergang entgegen, wo die Himmelsbäckerei sicherlich schon auf sie wartete.
Ich schaute ihr noch so lange hinterher, bis sie mitsamt dem Drachen im glühend roten Himmel verschwunden war.

Die alte Frau betrat ihr Badezimmer und sah in den Spiegel.
„Du hast dir aber Zeit gelassen, jüngeres Ich! Es ist schon fast Abend“, sagte sie und schaute mich an. Ich saß an einem wundervoll gedeckten Tisch in einem sonnendurchfluteten Raum im Innern der Spiegelwelt und wartete auf sie.
„Du weißt doch, in dieser Welt hat die Zeit keine Bedeutung. Mach mir das also nicht zum Vorwurf!“
„Das würde ich doch nie tun“, sagte sie lachend. In einem etwas ernsteren Tonfall fügte sie hinzu: „Es ist schön, dass du da bist. Ich habe dich auch nicht vergessen.“
„Und die Kleine?“, fragte ich. „Die auch nicht.“
„Sehr gut.“
Eine Weile betrachteten wir uns schweigend. „Ehrlich gesagt, weiß ich dann gar nicht, was wir jetzt tun sollen“, sagte ich anschließend.
„Wie wäre es mit einem Spaziergang? Ich lade dich ein. Wir könnten uns doch einfach einmal in Ruhe unterhalten“, schlug die alte Frau vor.
„Ja. Das ist eine gute Idee“, sagte ich.
Sie reichte mir die Hand und ich ergriff sie, so dass es für mich leichter wurde, aus dem Spiegel zu steigen. Daraufhin machten wir einen langen und ausgiebigen Spaziergang in der Abenddämmerung.

 

Mit dieser Geschichte feiere ich meinen Einstand.
Ich war mir mit der Kategorie nicht ganz sicher.
Ich freue mich darüber, Meinungen zu hören.
Viel Spaß beim Lesen!

 

Hallo SweetSakura,

und ein herzliches Willkommen auf kurzgeschichten.de.

Puh, Du hast Dir ja in mehrerer Hinsicht Großes vorgenommen mit Deinem Erstlingswerk hier. Sie trifft sich wieder, in jünger, und lässt sich von sich daran erinnen, daß da noch mehr im Leben ist als Angst und Absicherung.
Das ist als Plot geeignet, um literarisch eher die höheren Weihen erreichen zu wollen, so es gelingt, neben einer sicheren Sprache auch diesen fiesen Ebenendreher (ich bin ich) sauber hinzukriegen.
Und das schaffst Du leider nicht oder nur sehr selten. Sie ist nunmal sie, wieso sollte dann eine von beiden nicht alles über die "andere" wissen, spüren, ahnen ? Klar, dann gehen manche klassischen Kombinationen nicht mehr, wie das Erinnern an den Drachen, wie die Bank, wo sie (und nicht beide, es ist ja die selbe Person) natürlich gerne sitzt und saß, denn beide haben das selbe Bewusstsein.

„Du hast dir aber Zeit gelassen, jüngeres Ich! Es ist schon fast Abend“, sagte sie und schaute mich an.
Sowas meine ich, es funktioniert nicht, weil Dir die Logik hier im Wege steht. Die Depersonalisierung gelingt Dir auch vorher nicht wirklich, sie zu glaubwürdigen zwei Charakteren zu machen, vielleicht, weil sie einfach nicht klappen kann, ich bleibt ich. Alles andere wäre eine sehr seltsame Geschichte, und Du erzählst diese nicht. Sondern eine andere. Oder auch mehrere.

Und Deine Geschichte ist stellenweise zu lang, zu ausführlich, Du solltest sie dahingehend abklopfen, was eigentlich Dein Thema, Deine Botschaft ist und sie dann ausdünnen. Ist es das Seltsame, Surreale, daß sie sich selber trifft ? Dann lass das Märchen, das "ich zeige Dir den eigentlichen Sinn des Lebens wieder" raus, und wenn es Dir darum geht, dann kürz die Szenen vor dem Drachen, dampf sie ein und geh konsequent auf das Märchen zu, das Du dann erzählen willst.
Beides in einer Geschichte ist mir zu viel, weil beides nicht wirklich wirkt, die Ansätze sind drin, doch die Richtung fehlt, die Orientierung.

Genug gemäkelt, nicht nur für einen Erstling finde ich sie hoffnungsvoll, Du hast erlesbar Lust am schreiben und formulieren, am Geschichten erzählen der Geschichte wegen, das sind gute Ansätze. Und die zeigst Du hier auch, nur für meinen Geschmack halt zuviel in _einer_ Geschichte.

Grüße,
C. Seltsem

 

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