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Mein Mitbewohner
»Okay, alle in einer Reihe aufstellen, jetzt werden die Gehirne verteilt«, sagte Gott und alle gehorchten.
»Hier, ich, ich«, schrie ein kleiner Mann.
»Bitte sehr«, sagte Gott.
»Ich will zwei, ich will zwei«, rief der Mann.
»Puh«, sagte Gott. »Ich weiß nicht so Recht, ich glaube, die Gehirne sind abgezählt.«
»Aber ich brauche zwei Gehirne, eins ist einfach zu wenig für meinen großen Kopf.«
»Na gut«, gab Gott endlich nach, »ich will mal nicht so sein, Einstein.«
Und dann, nach einer ziemlich langen Zeit, als die Reihe immer kleiner und kleiner wurde.
»Tja, mein Freund«, sagte Gott, »ich weiß ehrlich nicht, wie ich dir das beibringen soll, aber für dich ist leider kein Hirn mehr übrig.«
Und Peter guckte ziemlich traurig.
Ich schrecke aus dem Traum hoch.
Speichel rinnt aus meinem Mund und spinnt einen langen Faden, der bis zu meinem angespeichelten Kopfkissen reicht. Ich spüre die lähmende Schwere des alptraumgetränkten Schlafs und blinzle in die helle Sonne, die durch das vorhang- und rollladenlose Fenster dringt. Draußen zwitschern Vögel irre Melodien und mein Kopf dröhnt, als würde ein kleiner Mann mit Presslufthammer meine Gehirnfurchen nachfräsen.
Mühsam rapple ich mich auf und tapse in die Küche, um dort Wasser aufzusetzen. Heute werde ich stärkeren Tee brauchen als normalerweise. Ich werde den Beutel Grüntee mindestens drei Minuten im Wasser lassen - was jetzt ziemlich verwegen und aufmüpfig klingt, ist bitter notwendig, weil ich sonst nicht über mich bringen werde, was ich plane zu tun.
Heute wird Peter aus meiner Wohnung geschmissen und zwar hochkant. Ich werde mich vor ihm aufbäumen, Luft in meinen schmalen Brustkorb saugen, auf dass er sich aufbläht und kampfesbereit aussieht wie bei einem wütenden Kolibri und dann werde ich ihm Worte entgegenschleudern, Worte voller Grobheit und Boshaftigkeit, werde sein Selbst auseinandernehmen, es klein hacken und dann, nachdem ich es zerkaut und in meinem Magen verdaut habe, über meine Türschwelle in den schmutzigen Flur würgen.
Ich muss das zu Ende bringen.
Ja, das habe ich vor.
Huch! Schon vier Minuten. Jetzt wird der Tee bestimmt bitter schmecken.
Wie es zu dieser Party kam?
Naja, man will ja nicht gleich alles verraten.
Ich nehme jetzt noch flink einen schnellen Schluck bitteren Tee und dann geht's auf.
Alles begann vor zwei Monaten. Nach langer Zeit des Alleinseins hatte ich beschlossen, dass ein Mitbewohner meine schon leicht verkümmerten sozialen Ästchen wieder zum knospen bringen sollte.
Ich schaltete also eine Anzeige in der Zeitung.
Erste Bewerber fanden sich auch bald ein.
»Und du bist Nichtraucher?« fragte ich.
»Naja. Mehr oder weniger.«
»Was heißt das genau?«
»Es gibt schon mehr Gelegenheiten, bei denen ich weniger rauche.«
»Ist das eine Zigarette in deiner Hand?«
»Schön hier.«
»Oh, danke«, sagte ich artig.
»Und so sauber.«
»Ja, das ist mir wichtig.«
»Mir auch, musst du wissen. Oh! Und Milch ist auch im Kühlschrank?«
»Ja, klar«, antwortete ich.
»Ich mag übrigens Katzen.«
»Der Vermieter hat etwas gegen Haustiere«, sagte ich. »Also keine Katzen.«
»Das ist schlecht, weil... ich bin nämlich eine.«
»Soso.«
»Kann man ein Katzenklo ins Bad stellen?«
»Äh, eher nicht. Und würdest du bitte aufhören, mein Sofa zu zerkratzen.«
»Mmrrriauhh!«
»Huch!«
»Viel Licht hast du ja.«
»Ja, es ist sehr hell«, gab ich zu.
»Aber das könnte man ja abdunkeln.«
»Äh, wie bitte?«
»Naja, zuerst einmal die Fenster. Dazu benutze ich schwarzen Lack. Und dann die Wände. Tapeten in Nachtschwarz bewirken da Wunder. Natürlich müssen wir die Türritzen mit Silikon ausfüllen. Und Vorräte anlegen. Hast du Vorräte im Keller?«
»Wozu das alles?«
»Wegen der Nebelwesen! Sie kommen. Sie kommen, um uns zu holen!«
»Ich glaube, da war vorher schon eins da und hat sich auch das Zimmer angeguckt.«
»Waaahh!«
Schließlich kam Peter.
»Hi«, sagte er. Sein saloppes Auftreten war mir gleich etwas suspekt. Er trug weite Jeans und ich konnte über dem unbegürtelten Hosenbund seine wild mit Eseln bedruckten Boxershorts sehen. Er war nicht ungepflegt im wörtlichen Sinne, aber doch auf eine Art, die unterschwellig und eher auf unbewusster Ebene wirkte. Sein Haar war wirr, sein Bauch etwas überproportional und sein Grinsen ungnädig.
»Ich komme wegen dem Zimmer.«
»Ja, willst du es sehen?« fragte ich.
»Ach, lass mal. Wann kann ich einziehen?«
»Äh, ich überlege erst noch. Es gibt noch andere sehr vielversprechende Kandidaten.«
»Ach komm«, sagte Peter.
Hatte ich nicht auch deshalb nach einem Mitbewohner gesucht, um ein bisschen Abwechslung in mein Leben zu bringen? War es jetzt die giftgrüne Angst vor Neuem, die mich zögern ließ?
Schließlich beging ich den ersten Fehler auf der Straße der hundert Verfehlungen.
Ich sagte ihm zu.
Und um den etwas vernachlässigten Euphemismen zu frönen: es war eine Katastrophe in der Liga von Positron trifft Elektron.
Wir waren uns von Anfang an ungrün. Eigentlich hatten wir keine einzige Farbe gemeinsam.
Um es in der Sprache der Mathematik auszudrücken, wir waren zueinander windschief, hatten keine Gemeinsamkeiten, keinen Punkt, an dem wir uns trafen, wir waren bisher durchs Leben geirrt, ohne uns zu begegnen und wäre es nach mir gegangen, dann wäre es auch so geblieben.
Aber nein.
Peter züchtete fremde, neuartige Arten in unserem Kühlschrank und verbrauchte immer das warme Wasser beim Duschen, obwohl ich eine wasserfeste Stoppuhr mit Alarm in der Duschekabine montiert hatte.
»Du solltest doch das Wohnzimmer sauber machen«, sagte ich eines Tages zu ihm.
»Ja, mache ich nächste Woche.«
»Hast du den Arbeitsplan nicht gelesen?«, rief ich. »Nächste Woche bin ich wieder dran.«
»Auch gut.«
Aber der Gipfel kam erst noch.
Ein kurzer Schluck Tee, nur zur Beruhigung.
Als ich an jenem schicksalsschweren Abend mein Treppenhaus betrat, drangen von oben unheilschwangere Laute herab, Geräusche, die in sehr speziellen, kulturfernen Kreisen zuweilen als Musik bezeichnet werden.
Ich stieg vorsichtig und langsam, wie ein Jäger auf der Spur eines Raubtiers, die Treppen nach oben und meine Vorahnung bewahrheitete sich in einem Maß, das unmöglich gesund für mein Herz sein konnte.
Aus der offenen Tür meiner Wohnung drangen lautes Geplärr, wildes Geschrei und Gejohle und dichter, schwerer Qualm.
»...Party?« echote ich.
Peter machte eine ausweichende Handbewegung. »Nur mein engster Freundeskreis.«
Ich sah mich um. Hinter mir war ein älterer Mann in schmutzigem Tweed, der zahnlückig grinste und immer wieder eine Flasche Champagner an seine rissigen Lippen führte.
»Und wie heißt der da?« fragte ich Peter und deutete auf den Tweet-tragenden Trinkenden.
Peter kratze sich am Kopf. »Klaus?« sagte er.
Der Tweet-Typ grinste breit. »Hey, genau«, rief er.
Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du erraten, oder?«
Doch als ich mich umdrehte, war Peter weg. Erst nach einer Weile konnte mein suchender Blick ihn wieder ausmachen. Er stand bei einer Gruppe Frauen und ließ sich ein Clownsgesicht auf seinen haarigen Bauch pinseln. Die jungen Damen (ein Begriff, der möglicherweise falsche Emotionen weckt) kicherten wie eben nur junge Damen kichern (ein Ausdruck, der zwangsweise richtige Assoziationen weckt).
Die »Musik« war ohrenbetäubend, trotz ihrer einfachen Rhythmik. Hören konnte ich sie allerdings mehr mit meinen Dünndarm als mit meinen Ohren, weil sich der Klang eher durch meinen Körper ein Eindringen in mein Gehirn schaffte als durch meine Trommelfelle.
Ein Wunder, das sich unser Nachbar noch nicht beschwert hatte, der es eigentlich »partout - und ich meine das nicht böse, ich sage dies in tiefster, verbundenster Nachbarsfreundschaft - nicht verkraften kann, wenn Sie nach 22 Uhr abends ohne Hausschuhe mit nackten Sohlen über diese hellhörigen Dielen laufen«.
»Ach, Sie sind mir vielleicht ein Spießer«, sagte eben beschriebener Nachbar nun, während er sich mit dem einen Arm an meinen Hals hängte und mit dem anderen wild herumgestikulierte, dabei ziemlich viel Bowle verschüttend. »Ihr Mitbewohner ist ein hochsympathischer Mann.« Dann entdeckte er etwas, was interessanter war als ich und torkelte davon, nur um wenig später in meine Yuccapalme zu reihern.
Langsam verlor ich die Geduld. Ich stieg über ein paar delierende Leiber hinweg, die sich auf dem Boden ein Bettquartier aus unseren Küchentöpfen gefertigt hatten und wollte nichts lieber, als schleunigst meine Wohnung verlassen.
Da traf ich plötzlich auf ein bekanntes Gesicht - aber keines, dem ich einen Namen zuzuordnen in der Lage gewesen wäre, viel eher hatte ich die Frau schon irgendwann einmal gesehen, wusste aber nicht mehr wann und in welchem Zusammenhang.
»Äh, hi«, sagte die Fremdbekannte.
»Hallo«, erwiderte ich. »Woher kennen wir uns?«
»Ich war neulich schon mal hier«, erwiderte die Frau, während ich ihr Gesicht fieberhaft in meiner Erinnerung suchte.
»Ach ja?«
»Weißt du zufällig, wo hier die Toilette ist?«
Ein bärtiger Mann kam eben aus der Tür, die zu unserer Toilette führte, zwar mit einem Hemd, dafür aber ohne Hose bekleidet und kicherte irre. Ich deutete in seine Richtung.
»Aha, habt ihr einen Baum in eurer Toilette?«
»Ich habe eine Yuccaplame.«, erwiderte ich verwirrt.
Würg, hörte ich in der Ferne, zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnend, dass es meinen vorherigen Satz referenzierte.
»Ein Hydrant wäre auch okay«, meinte die Frau.
»Wie, bitte? Kennen wir uns eigentlich?« Und plötzlich musste ich an Katzen denken.
»Wuff, wuff!«
Es klingelte.
»Tür ist offen«, rief Peter.
Zwei Polizisten betraten den Flur. Der eine nahm zögernd die Kappe ab.
»Wer ist hier der Besitzer?« fragte er.
Ich, der ich mit hängenden Armen neben der Wohnungstür im Flur stand, hob die Hand.
»Aha«, sagte der Polizist und notierte etwas auf seinem Block.
»Name?« fragte er.
Ich sagte ihm meinen Namen.
Er kicherte leise, notierte ihn aber.
»Was ist daran so lustig?« fragte ich.
»Nichts, ich musste nur eben daran denken, dass irgendein Wahnsinniger im Treppenhaus schwarzen Lack an die Fenster streicht.« Er sah auf und kicherte wieder. »Sind Sie für diese Festivität verantwortlich?«
»Nein«, sagte ich.
»Aber es geschah mit Ihrem Einverständnis?«
»Nein.«
»War es eine Überraschungsfeier?«
»Es war schon eine Überraschung«, sagte ich.
»Aha«, sagte der Polizist und notierte das. Sein Kollege stand nickend daneben.
»Aber keine angenehme«, warf ich ein, weil ich glaubte, er hätte mich falsch verstanden. »Ich war überrascht, dass man einfach in meiner Wohnung eine Party feierte. Ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung.«
Der Polizist sah von seinem Block auf. »Wieso machen Sie dann falsche Aussagen?«
»Ich habe keine falsche Aussage gemacht.«
»Denken Sie, es wäre ein Spaß hier zu sein? Denken Sie, dass wir uns veralbern lassen? Mit unseren grünen Uniformen?«
»Ich habe nie etwas über Ihre Uniformen gesagt.«
»Das ist uns auch aufgefallen«, warf der andere Polizist ein. »Negativ«, setze er noch hinzu.
»Die Polizei«, grölte ein junger Mann, der eine Unterhose auf dem Kopf trug, »unser Freund und Helfer. Fesche Uniformen, Kameraden, weitermachen!« Er salutierte und torkelte wieder zurück ins Wohnzimmer.
»Sehen Sie?« fragte mich der Polizist. Dann wendete er sich an seinen Kollegen. »Du, Herbert, hast du einen Radiergummi dabei? Ich müsste da die Falschaussage von diesem Querulanten ausradieren.«
Herbert, der andere Polizist, schüttelte den Kopf.
Ich atmete schwer aus. Ein kleiner Ziegenbock hoppelte an mir vorbei und biss in die Mütze des Polizisten.
Die Party endete am nächsten Tag gegen 12 Uhr mittags.
Die zwei Polizisten hatten sich als Letzte verabschiedet.
Jürgen bat mich, ihm seine Waffe zu schicken, sollte sie denn wieder auftauchen.
Der Ziegenbock trabte zwischen all dem Müll herum, bis er auf Peter stieß, der in einer Ecke lag und eine Beinprothese mit der einen und meine Yukkapalme mit der anderen Hand umklammerte. Der Ziegenbock schnupperte an meinem Mitbewohner und begann dann zu würgen. Ein Bezoar rollte über den Teppichboden und schließlich landete das ekelhaft stinkende Haarknäuel zwischen Peters Füßen und der Ziegenbock hüpfte davon.
Die Wohnung war der reinste Schweinstall. Ich begann, die Bierdosen alphabethisch zu sortieren.
Peter stöhnte im Hintergrund.
Jetzt sitze ich hier an meinem Tisch und trinke bitteren Tee.
In meinem Traum hatte Gott die Gehirne verteilt. Das habe ich jetzt auch gemacht. In kleinerem Stil.
Aber in meinem Traum irrte ich. Der Beweis klebt nun an der Küchenwand.
Peters Gehirn rutscht mit saugenden Geräuschen langsam nach unten zu seinem leblosen Körper.