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Mein Nachbar
Mein Name ist Michael Bergmann, ich arbeite für die Post, wiege 92 kilo und neben mir wohnt der Tod. Ich habe mir angewöhnt, mich auf diese Weise vorzustellen, weil ich die Reaktion der Leute interessant finde. Es gibt solche, die lachen, andere die es ignorieren und schließlich die Menschen, die "Was?" fragen obwohl sie mich genau verstanden haben. Meistens treffe ich Letztere an. Die meisten Menschen fragen zu viel.
Ok, ein Teil meiner Beschreibung ist gelogen; Sie ahnen vielleicht welches. Ich wiege eigentlich 98 kilo. Einer der größten Unterschiede zwischen 92- und 98-Kilo Menschen ist, das der 92er in der Vorstellung der meisten Menschen eine Kappe trägt und dadurch doch irgendwie sportlich wirkt. 98er sind fast 100er und die sind dick.
Die Sache mit dem Tod. Er wohnt seit knapp drei Jahren neben mir. Es ist ein recht kleines Haus und die Pforte muss mal geölt werden. Damit das Törchen nicht immer so geräuschvoll zufällt, hat der Tod irgendwann mal ein Seil um das Schloss gewickelt. Als Dämpfer. Der Tod ist handwerklich nicht besonders geschickt aber ihn zeichnet eine liebenswerte Tüchtigkeit aus.
Eines Tages klingelte es bei mir und vor der Tür stand ein gepflegter Herr in den besten Jahren. Nadelstreifenanzug, grau meliertes Haar. Sein Name sei Tod, ja einfach Tod und er freue sich auf die neue Nachbarschaft. Es wäre ihm unangenehm direkt so forsch zu fragen aber ob ich nicht ein Seil hätte. Ja, jetzt war mir etwas mulmig. Ich zögerte nicht und spurtete in den Keller. Ich fand tatsächlich ein Stück Leine und wieder an der Haustür angelangt überreichte ich es dem Tod generös, wobei ich vermied so schnell zu atmen wie mein rotes Gesicht es vorraussetzte. Er zwinkerte. Normalerweise würde er die Leute noch mehr erschrecken aber ich sei ihm irgendwie sympathisch und das Seil brauche er wirklich. Er werde sich bestimmt revanchieren aber jetzt müsse er schnell was erledigen. Der Tod hat Prinzipien.
Das Nebeneinanderleben routinierte sich schnell und nach einer Weile zog ich auch eine gewisse Freude daraus. Eines Tages nämlich gingen der Tod und Ich zur selben Zeit aus dem Haus. Ich blickte wie üblich rüber und sah wie der Tod in seinen Briefkasten lugte. Ich war etwas fasziniert und schreckte auf als ich begriff, dass er mich nun auch bemerkt hatte. Er formte seine Hand zu einem Colt und richtete sie schlagartig auf mich worauf er imaginären Rauch von seinem Zeigefinger blies. Sie können sich vorstellen, dass ich etwas verunsichert war aber ich fing mich wieder. Viel zu spät mimte ich ein Ausweichmanöver, zeigte auf ihn und nickte kurz. Der Tod hat Humor.
Das Spielchen wiederholte sich wenige Tage später. Beim dritten Mal war ich immer noch kurz paralysiert aber beim vierten Mal konnte ich schnell genug reagieren. Der Tod nickte. Ab da war es ein Ritual, was sich immer öfter wiederholte. Teils lag das daran, dass ich manchmal am Fenster wartete, bis der Tod losging, um ihn abzupassen. Wenn das Ritual zuende war, würde ich mich umdrehen, leicht den Kopf schütteln, lächeln und leise sagen: Dieser Tod.