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Mein Raum
Während ich die Tür hinter mir schließe, denke ich: „Ein Mensch ist um so reicher, je mehr Dinge zu entbehren er sich leisten kann.“
Wo hatte ich diesen Satz noch gelesen?* Auf dem Tisch stapeln sich die Bücher. Ich lächle und freue mich darüber, dass mir dieses Zitat wieder in den Kopf gekommen ist.
Ich setze mich an den kleinen Esstisch, und die letzten Sonnenstrahlen des Tages scheinen wärmend auf meinen Rücken. Was mache ich heute Abend? Das Gefühl von Freiheit lässt ein weiteres Lächeln über mein Gesicht huschen.
Ich nehme mein Tagebuch in die Hand und blättere durch die beschriebenen Seiten, bis ich die nächste freie finde:
Dienstag, 14.04.2024
Die Tage gehen wie eine Folge von Theaterstücken dahin. Am Morgen werden die Vorhänge geöffnet und allabendlich fallen sie wieder zu. Währenddessen sitze ich auf der Bühne an meinem kleinen Tisch.
Die Uhr an der Wand kennt nur zwei Zeiten: den Beginn und das Ende der heutigen Vorstellung - dazwischen steht sie still.
Wo sich früher noch die Angst vor dem Erwachen über meine Brust und die letzten wachen Sekunden des Tages gelegt hatte, tauche ich jetzt in einen ruhigen Schlaf.
Das Gefühl der sicheren Beständigkeit hat mir gegeben, was ich mit eigenem Willen nicht geschafft habe. Nun habe ich endlich Ruhe im Kopf und kann mich ganz meiner Selbst widmen.
Je mehr Abstand ich zu meiner Vergangenheit kriege, desto einfacher fällt es mir sie mit Klarheit zu sehen. Auch wenn es nicht immer leicht, ist sich selbst ohne Reue zu betrachten, so zeigt es mir doch die Momente von größter Bedeutung.
Hatte ich mir früher noch jede Form der Zeit zum Feind gemacht, so begrüße ich sie heute mit einer wohligen Zufriedenheit, die meinen Atem befreit.
Wäre mein Leben damals ein Bühnenspiel gewesen, so hätte die Handlung jeden Zuschauer in Verwirrung und Verzweiflung getrieben.
Hätten sie denn überhaupt etwas durch den dichten Nebel über dem Schauspiel erkennen können?
Einzig das schwache Licht des Automaten gab mir die Illusion von Sicherheit und das Geräusch der Münzen übertönte das Ticken der Uhr.
Der Strom der Zeit kann nicht gehalten werden, aber er wurde in einen Kanal geführt. Links und rechts vor Überschwemmungen geschützt.
Schreckt diese Tristheit doch die meisten ab, sehe ich die Möglichkeit einer vollen Entfaltung. War mein Alltag früher noch reißend und blieb mir nur die Reaktion, so konnte ich ihn jetzt mit dem Gegenteil schmücken.
Heute ist meine Bühne hell erleuchtet, jeder Schritt lässt sich mühelos überblicken.
Ich denke so ist es leicht zu verstehen, dass mich die Entbehrung, in der Tat, reicher fühlen lässt.
…Heute ist ein guter Tag.
Ich schließe das Tagebuch und wende mich der Abendsonne zu. Ihre letzten Strahlen erhellen meinen Raum und werden nur durch die Schatten der Gitter an meinem Fenster unterbrochen.
- Quellenangaben
- * Zitat aus „Walden“ von Henry David Thoreau