Was ist neu

Meine Erfahrungen mit dem AO-Programm – im Juni 2037

Mitglied
Beitritt
22.10.2020
Beiträge
6

Meine Erfahrungen mit dem AO-Programm – im Juni 2037

Meine Augen schmerzen immer noch. Dabei haben sie mir von Gagloo erklärt, dass es sich spätestens nach zwei Wochen natürlich anfühlen würde. Die finale Linse würde bis zu diesem Zeitpunkt mit der Hornhaut der Augen verwachsen sein. Das kann aber nicht sein, denn es gibt immer noch Stellen in meinem Gesichtsfeld, die zwischendurch kein Bild übertragen.

Als die Alpha-Linse (A) vor Jahren auf den Markt kam, rechnete niemand mit einem solchen Erfolg. Sie wurde eingeführt, um die Kommunikation zu vereinfachen und Abläufe zu harmonisieren, und ist ausschliesslich zusammen mit dem Omega-Hörgerät (O) erhältlich. Seither ist es möglich, virtuell mit Freunden zusammen zu sitzen, ohne Distanzen überwinden zu müssen. Als Treffpunkte stehen verschiedene Kulissen zur Verfügung, die per Live-Cam übertragen werden und einen Hintergrund gestalten, der visuell und akustisch nicht mehr von der realen Erfahrung unterschieden werden kann. Letzthin sass ich mit zwei Freunden, mit denen ich mich online verabredet hatte, auf dem Markusplatz in Venedig. Nur der Geruch fehlte noch zum hundertprozentigen Erlebnis, derjenige einer erfrischenden Meeresbrise und eines frisch gebrühten Kaffees. Den Kaffee hat sich jeder zuhause selbst gemacht; meiner stand bei diesem Ambiente einem echten italienischen in nichts nach!
Ein spannendes Detail dieser öffentlichen Plätze (E-Places): Man kann mit den Menschen dort in Kontakt treten! Vorausgesetzt natürlich, dass sie zustimmen. So kann man mit ihnen über AO kommunizieren. Fehlt nur noch die Möglichkeit der physischen Begegnung. Aber auch da ist die Gagloo-Forschung dran mit interaktiven Anzügen, die über’s Netz verbunden werden und Berührungen übertragen.
Jedenfalls hatten wir eine gute Zeit zusammen, an jenem Samstagmorgen auf der Piazza in Venedig. Ich bin mit einer bildhübschen Italienerin ins Gespräch gekommen und konnte so meine Italienisch-Kenntnisse ein wenig auffrischen!

Zugegeben, ich bin echt überwältigt von den Möglichkeiten, die das AO-Programm bietet. Und das Geniale ist: Obwohl die Geräte fest eingebaut sind, kann ich sie völlig kontrollieren. Das heisst, ich kann sie einzeln ein- und ausschalten sowie beliebig hoch- und runterfahren. Bei den Linsen geht das so, dass ich sie von undurchsichtig bis transparent stufenlos regulieren kann. Somit bleibt es mir überlassen, wie viel von der Übertragung und wie viel vom realen Umfeld ich mitbekomme. Wenn ich zuhause an der Arbeit am Bildschirm sitze, kann ich dazu über die Linsen einen Fussballmatch anschauen. Ich regle A so, dass ich das Spiel nur schwach sehe und in meiner Arbeit nicht behindert werde.
Wenn ich abends ein Bad an einem Strand in der Karibik nehmen will, steige ich in die Badewanne und lasse die Live-Übertragung des E-Places an der Half Moon Bay von Antigua so dominant über die Linsen flimmern, dass ich meinen Caipirina neben der Wanne gerade noch erkennen kann.

Die reale Welt erleben, wer will und braucht das noch?! Die Maschinen haben uns ja die physische Arbeit abgenommen. Menschen, die heute noch arbeiten, tun dies meist vor dem Bildschirm. Und alles Lebensnotwendige wie Nahrung und Medikamente werden uns mit selbstgesteuerten Geräten nach Hause geliefert. Wenn wir uns noch in der Öffentlichkeit fortbewegen, etwa um zu einem E-Place zu gelangen, tun wir dies mit selbstfahrenden Elektro-Autos.
So ist die Welt viel sicherer geworden. Und was will man schon draussen in der Stadt? Viele Quartiere sehen völlig unansehnlich aus. Sie zerfallen, da ihre Geschäfte nicht mehr benutzt werden. Denn die ganze Ware wird ja von riesigen, vollautomatischen Produktionszentren ausserhalb der Stadt direkt zum Konsumenten gebracht. Auch die Beizen sind praktisch alle zugegangen, da sich die Menschen nur noch online mit ihresgleichen treffen. Ausser an den von Gagloo finanzierten E-Places wie etwa dem Bärenplatz und dem Rosengarten in Bern hat sich das Ortsbild gegenüber vor 20 Jahren massiv verschlechtert.
Früher, als jeder noch offline unterwegs war, sei es in den Städten ja kaum ruhig gewesen. Man stelle sich vor, was da alles noch vor Ort erledigt werden musste. O.K., Telefone hatten sie bereits. Aber die gesamte Ware musste eigenhändig besorgt werden! Dagegen wurden anscheinend im gleichen Zug zwischenmenschliche Bedürfnisse gedeckt, wenn man mit anderen Menschen zusammenkam. Doch zum Glück haben wir diese Kontakte heute nur noch in geringem Masse nötig. Viele Studien haben uns klargemacht, dass wir uns fortwährend höher entwickelt haben. Dass wir im Unterschied zu früher im menschlichen Körper die höheren Regionen, das heisst unseren Intellekt ausgebaut, dagegen die unkontrollierbaren, niederen Instinkte und Bedürfnisse (vor allem Bauch-, aber auch Herzgegend) deutlich heruntergefahren haben. Es ist erwiesen, dass für einen normalen Menschen ab dem 12. Altersjahr der ausschliessliche Online-Kontakt mit seinen Mitmenschen völlig ausreichend ist. Das hat den Vorteil gebracht, dass das Leben auf unserem Planeten insgesamt vernünftiger, planbarer und effizienter geworden ist.

Was in unserer Stadt noch relativ rege öffentlich genutzt wird sind die Fitnesscenter, obwohl mit dem neuen Konzept der Krankenkasse jeder sein persönliches Gerät zuhause hat. Dieser Home-Trainer lässt sich perfekt auf meinen Körper abstimmen und gibt mir das optimale tägliche Fitnessprogramm vor, welches sich aus verschiedenen Faktoren berechnet wie Alter, Gewicht, bestehende Fettreserven, Blutwerten, usw.. Ich finde dies nun wirklich mal ein guter Beitrag seitens der Krankenkassen! Denn nun weiss jeder genau, warum er beim Bonus-Malus-System aufs neue Jahr anders eingestuft wird und wie er es beeinflussen kann. Ich persönlich spare damit viel Geld, indem ich die Fitness-Vorgaben übertreffe. Klar, gewisse Risikofaktoren spielen mit rein, wie zum Beispiel Rauchen und Alkoholkonsum. Und da ich gerne zwischendurch ein Gläschen Rotwein trinke, (was mir durch die monatliche Haarprobe nachgewiesen wird,) nimmt mir das wiederum fast die Hälfte der Einsparungen weg.
Das Bonus-Malus-System für Krankenkassen wurde damals aufgrund einer Volksinitiative eingeführt, die mehr Kostengerechtigkeit im Gesundheitswesen verlangte. Dadurch wurden diese zusätzlichen Erhebungen von Persönlichkeitsdaten natürlich notwendig. Doch dank dem neuen individuellen Fitnessgerät haben wir bezüglich der Kosten nun wieder vieles selbst in der Hand.

Um wieder auf das Programm zurückzukommen: Ich persönlich habe AO völlig in den Vordergrund gestellt, das heisst die Regler meiner Fernbedienung stehen die meiste Zeit auf dominant. Für mich lohnt sich die Wahrnehmung des realen Umfeldes höchst selten. So nehme ich sie kaum mehr wahr: Ich brauche die reale Umgebung meist nur noch für’s Essen und Trinken und für den Gang auf die Toilette.
Was ich trotzdem noch gern mal real tun würde: Einen echten Ausflug auf’s Land! Da habe ich noch so meine Kindheitserinnerungen. Zum Beispiel an eine Frühlingswiese voller Blumen und dem Duft davon, wenn man sich ins Gras legt. An einem Sommermorgen den frischen Windhauch und die wärmenden Strahlen der Sonne auf Gesicht und Armen spüren. Der weiche Boden unter meinen nackten Füssen. Und diese Stille! Sie war ganz anders als die Stille in meiner Studiowohnung in der Stadt. Sie war so lebendig und erfüllt, wenn auch geräuschlos. Es lag eine Art von Leben und Erwartung in der Luft. Die Stille hier in meiner Wohnung ist ganz anders, irgendwie leer, echofrei, tot. Zum Glück gibt es hierfür O.
Manchmal frage ich mich aber schon, wenn ich von Kollegen höre, die O gar nicht mehr abschalten, nicht einmal mehr nachts. Es gibt ja diverse Nachtprogramme, die ununterbrochen senden. Obwohl der Rhythmus der Musik verlangsamt und der Ton der Sprecher weicher ist, könnte ich nicht ruhig schlafen, auch wenn ich O auf dem Minimum halte. Es gibt aber viele Menschen, die die Stille nicht mehr aushalten – vielleicht gerade wegen O? Ich jedenfalls stelle O auch tagsüber zwischendurch ab. Bin ja immer noch visuell zugeschaltet und im Notfall für Nachrichten empfänglich. So geniesse ich die Ruhe. Aber ich weiss, dass ich mit meinem Drang zu gelegentlicher Stille zu einer kleinen Minderheit gehöre. Glücklicherweise ist dies in den Foren noch nicht zum Thema gemacht worden, denn ich fürchte mich ein wenig vor einem Ausschluss oder so. Klar, ich brauche nicht gerade Angst zu haben, dass es deswegen zu einem Mob gegen mich kommt. Das ist kürzlich einem passiert, der sich stur geweigert hat, sein Profilbild auf das Gesicht zu beschränken. Er erfüllt die erwünschten Masse nicht, die es für ein Oberkörper- oder Ganzkörperprofil benötigt. Doch wollte er partout ein Bild belassen, das ihn in jungen Jahren zeigt, mit kurzen Hosen und schwulstigen Armen und Beinen. Ich fand ebenfalls, dass er uns davor hätte verschonen sollen. Aber ich habe mich da rausgehalten. Jedenfalls wurde in den Foren eine solche Stimmung gegen ihn gemacht, dass ihm letzten Samstag anonym eine Mob-Attack angedroht wurde. Was dann wirklich geschehen ist weiss ich nicht, aber seither habe ich keinen Online-Move mehr von ihm gesehen. Ich denke, er ist einfach zu weit gegangen mit seinen Provokationen.

Das Abschalten der Linsen tagsüber ist hingegen völlig out. Da gehörst du schnell nicht mehr dazu, wenn deine Mitsurfer merken, dass du blau machst und ihre Beiträge nicht mitkriegst!
Auch vom Staat wird dringend davor abgeraten, A tagsüber auszuschalten, da dadurch wichtige Informationen verpasst werden könnten. Dabei geht es vor allem um die täglichen Neuigkeiten, die gegen Abend gesendet werden, aber auch um wichtige Eilmeldungen während des Tages. Ich finde diese Informationen schon sehr nützlich. Im Übrigen können sie so eingestellt werden, dass sie lautlos und relativ klein im linken oberen Rand des Sichtfeldes laufen. So ist man über die wichtigsten Dinge immer auf dem Laufenden, und eine weitere Informationssuche zum Weltgeschehen wird unnötig. Es ist absolut peinlich, wenn jemand sich in unseren Foren unterhält und nicht weiss, welcher Schauspieler nun welchen Oscar gekriegt hat oder was die neusten Finanzzahlen von Gagloo ergaben!

Und doch, so ein Ausflug aufs Land... Aber wenn man die Nachrichten verfolgt, sieht man ein, dass es unvernünftig ist, real auf Reisen zu gehen. Ausserhalb der Stadtzone laufen diese Unregistrierten umher. Und sie können gefährlich sein, weil sie vom ganzen System ausgeschlossen sind und daher wahrscheinlich Mangel an diversen Gütern haben. Ich habe Gerüchte gehört, dass sie punkto Lebensmittel zwar gut zurecht kämen, auf viele Annehmlichkeiten jedoch verzichten müssen, auf technische Geräte und so. Wie kann man heute nur so leben wollen? Das kann ich nun wirklich nicht verstehen. Warum verzichtet man freiwillig auf all jene Möglichkeiten, die man gerade auch mit AO haben kann? Jedenfalls hatten wir alle nach der Volksabstimmung ein ganzes Jahr Zeit, AO zu implementieren. Da diese Leute jedoch die Frist verstreichen liessen und sich somit AO verweigert haben, müssen sie nun die Konsequenzen tragen. Was ich eigentlich ganz richtig finde. Denn immerhin war es ein Volksentscheid, den es in einem demokratischen Land wie in unserem zu akzeptieren gilt. Zum Glück entscheidet in unserem Land immer noch die Volksmehrheit. In den meisten Ländern wurde AO vom Staat verordnet.

À propos Ausflug aufs Land: Vorletzten Sonntag habe ich tatsächlich vorgehabt, einen solchen Ausflug zu wagen, obwohl ich bisher nichts Gutes davon gehört habe. Da war ein Freund von mir, Alonso, der bei der Einführung von AO dorthin abgehauen ist und nun wohl da draussen als Unregistrierter lebt. Irgendwie schwebt mir im Hinterkopf, dass ich ihn eines Tages wieder treffen werde. Wir haben die Kindheit zusammen verbracht; er wuchs im Block neben uns auf und wir haben uns oft in unseren Wohnungen getroffen und sind mit unseren damaligen Smartphones durch die Welt gesurft. Wir hatten verrückte Pläne: Wir wollten zusammen die Welt entdecken gehen und sie nicht nur über die Bildschirme erfahren. Mit einem Ford Mustang über die alten Fernstrassen Europas fahren, grosse Weiten erkunden und unendliche Freiheit einatmen! Doch vielleicht waren unsere Träume ganz einfach Kinderkram... Jedenfalls entwickelte sich die Welt in eine andere Richtung, und die Möglichkeit, unsere Pläne zu verwirklichen, schien hinter einer immer höher werdenden Mauer zu verschwinden. Und plötzlich verschwand auch Alonso.

Als ich also mit meinem Vorhaben und meiner Rückentasche (oder wie heissen diese Dinger schon wieder?) durch die Stadt wanderte, spürte ich eine immer schwerer werdende Last in mir. Es war, als wollte mich mein Körper von meinen Plänen abbringen. Ich lief durch ein Gebiet, das ich nie vorher betreten hatte. Ich sah leere, graue Gassen, hörte mir völlig unbekannte Geräusche aus düsteren Korridoren, die von wilden Katzen stammen konnten oder vielleicht auch von Menschen, die sich entgegen meinen Erwartungen in äusseren Bereichen aufhielten. Ich war froh, als ich endlich das Ende der letzten Häuserreihe und somit die Stadtgrenze erkennen konnte. In dem Moment fing A an, mir im linken oberen Rand meines Sichtfeldes eine Warnung zu zeigen: „Achtung Gefahr: Sie nähern sich der Stadtgrenze!“ Die Meldung erschien erst gelb, dann rot, und wurde mit immer höherer Frequenz angezeigt, je näher ich kam. Nun sah ich den Maschendrahtzaun, den sie kürzlich ums Stadtgebiet errichtet hatten, um uns vor Übergriffen durch Unregistrierte zu schützen. Dieser bereitete mir keine Sorgen, denn wie ich gehört hatte, gab es genügend Durchgänge. Und prompt, am Zaun entlang nach 100 Metern kam der Erste. Die Gefahrenmeldung leuchtete unterdessen durchgehend und verdeckte fast die Hälfte meines Sichtfeldes, dazu ein fast ohrenbetäubendes Sirenengeheul über O! Da entdeckte ich die Kameras oberhalb des Tores. Sie hielten alles fest, was sich in die eine oder andere Richtung bewegte. Ich wollte gerade durchgehen, als über O eine autoritäre Stimme mir eine letzte Warnung zu geben schien: „Achtung: Ausserhalb der Stadtgrenze kann nicht mehr für Ihre Sicherheit gesorgt werden! In diesem Monat sind bereits 52 Menschen nach aussen gegangen und nicht wieder zurückgekehrt!“ Über A wurden mir Bilder eingeblendet, und zwar in aller Deutlichkeit, obwohl ich für meinen Ausflug A mit 75% Transparenz in den Hintergrund gestellt hatte: Tote Körper, manchmal nur Teile davon, die angeblich draussen in der Wildnis aufgefunden worden waren. Gedanken schossen mir durch den Kopf: 52 Menschen, das waren täglich zwei! Heute könnte ich einer der beiden sein. Mein Leben will ich nicht dafür riskieren. Ich drehte um und rannte zurück. Nichts sehnte ich mir mehr herbei als die vertrauten vier Wänden meiner kleinen Studiowohnung!
Dies also zu meinem Wunschtraum nach einem Ausflug in die Natur.

Ob Alonso wohl auch so geendet hat und seine Leiche irgendwo verwest oder von wilden Tieren aufgefressen wurde? Leider kann ich nicht mehr mit ihm kommunizieren, seit sie das Telefonnetz ausgeschaltet haben und jegliche Kommunikation nur noch über AO möglich ist. Klar, das war vor allem eine Kostenmassnahme. Warum sollte das alte Kommunikationsnetz unterhalten werden, wenn es kaum mehr gebraucht wurde?
Alonso hat der ganzen Sache nie ganz getraut. Er war ein grüblerischer, skeptischer Geist und stand von Anfang an auf der Seite der Gegner von AO, als das Programm noch ein reines Vergnügungs-Werkzeug war und teilweise gratis angeboten wurde.

Die Gegner räumten ein, dass dieses Programm der vollständigen Kontrolle über die Bürger diene. Doch auch wenn mein ganzes Online-Verhalten registriert wird: Was soll’s? Ich tue nichts Verbotenes. Verbotenes gibt es mit AO nicht. Alles was über AO läuft, ist von der Staatengemeinschaft abgesegnet worden. Und somit gibt es nichts zu verbergen. Sowieso, wen würde das meinige schon interessieren. In einer Welt mit etwa fünf Milliarden AO-Mitgliedern!

Die Gegner haben auch etwas von Gleichschaltung gesagt. Doch ich sehe nicht ein, was dies mit Gleichschaltung zu tun haben sollte. Durch AO eröffnet sich uns eine ganz neue, eine riesige Welt! Und die ist so viel unterschiedlicher und abwechslungsreicher als die reale. Ich kann Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen treffen, das ist Vielfalt! Nicht wie früher, als man nur die Menschen im selben Wohnblock, höchstens im selben Dorf traf. Das war Gleichschaltung!

Klar muss ich mir überlegen, was ich auf AO rauslasse, damit ich keine Probleme bekomme. Aber solches ist selbstverständlich und war schon immer so. Ich finde es richtig, dass solche, die mit ihren Kommentaren die virtuelle Welt verpesten, einen Abrieb verpasst bekommen. Nun, da der Staat mehr Polizisten im Netz hat als auf den Strassen und die Zusammenarbeit mit Gagloo gut funktioniert, ist es meistens ein Geringes, solche Kerle zum Schweigen zu bringen. Auch hier ist die Welt besser geworden. Es braucht keine Gefängnisse mehr und keine physische Gewalt. Die Täter erhalten elektronische Fussfesseln und ihnen wird – hier macht AO eine Ausnahme – ein Programm aufgebrummt. Dieses gibt ihnen je nach Vergehen zu gewissen Zeiten zwingende Inputs, die sie weder abschalten noch beeinflussen können. Worum es dabei geht, weiss ich nicht. Muss wohl eine Art „Umerziehung“ sein. Die restliche Zeit haben sie auf einen reduzierten Teil der virtuellen Welt freien Zugriff. Und bei guter Führung werden sie ihr Zwangsprogramm auch schnell wieder los.

Um nochmals zum Thema Gleichschaltung zurückzukommen. Ich denke, das Programm fördert Individuen mehr denn je. Bereits der Schulunterricht wird sehr individuell gestaltet, und der Lernstoff kann zum grossen Teil selbst bestimmt und aus einer breiten Auswahl ausgesucht werden. Dabei wird das Wissen so unterhaltsam vermittelt, dass die meisten Kinder gar nicht mehr mit lernen aufhören wollen. Für Erwachsene steht die gesamte E-World zur Verfügung, und zwar stets und überall, zudem vollkommen in eigener Kontrolle und nach eigenen Wünschen. Dazu kommt, dass AO völlig kostenlos ist! Das wurde möglich, indem es an das bestehende bedingungslose Grundeinkommen gekoppelt wurde. Hierzu haben die Gegner eingewandt, dass das bedingungslose Grundeinkommen somit seinen Namen nicht mehr verdiene. Ich finde aber, dass dieses Grundeinkommen auch schon vorher nicht ganz bedingungslos war, weil nämlich auch andere Dinge wie Essen und Trinken sowie letztendlich auch Atmen und Leben Bedingungen für dieses Grundeinkommen sind. Und Kommunikation gehört hier definitiv dazu! Als Hinweis: Vor Jahrhunderten fand man durch (wahrlich grausame) Experimente mit Kleinkindern heraus, dass diese trotz Essen und Trinken, aber ohne Zuwendung und Kommunikation zugrunde gingen und starben... Das sagt doch alles.

À propos Zuwendung: Alonso und ich, wir standen uns wirklich nahe. Wir waren so etwas wie «dicke Freunde», wie man früher zu sagen pflegte. So etwas kenne ich heute nicht mehr. Mit Alonso, und nur mit ihm, habe ich mich zwischendurch auch über schwer fassbare Themen ausgetauscht, über Dinge gesprochen, die auch von der heutigen Wissenschaft noch nicht vollständig abgehandelt worden sind. Wie zum Beispiel über die «Seele des Menschen». Alonso hatte immer Angst, dass AO seiner «Seele» schaden würde. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem inneren Kompass, den er verspüre, und dass er befürchte, dass dieser mit dem ständigen Input durch AO verstummen würde. Und dass er sodann fortan fremdbestimmt durch’s Leben gehen würde.
Irgendwie vermisse ich diesen Typen. Er hat etwas Tiefes in mir berührt, wenn ich das so sagen darf. Unsere Gespräche kurz vor der Abstimmung zu AO haben mich damals intensiv beschäftigt. Zumal auch, da dieser Schritt nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Aber da liefen diese Umfragen, die ergaben, dass 89% der Bevölkerung von AO mehr Gutes als Schlechtes erwarteten, und dass die Vorteile des Programms deutlich überwogen. Viele hatten bereits Vorgängerversionen im Gebrauch und wussten, wovon sie sprachen. So dachte ich mir einerseits, dass so viele Menschen nicht irren konnten. Andererseits spürte ich, dass meine innere Unsicherheit rein instinktiv war. Ich konnte sie nicht vernünftig begründen, es war ein mulmiges Gefühl, das ich aus der Kindheit kannte. Warum hätte ich aufgrund eines solchen instinktiven Eindrucks mein ganzes Leben über den Haufen werfen sollen? Zum Glück konnte ich es schlussendlich als animalischen Flucht-Trieb erkennen und mich doch für AO entscheiden.

Seither läuft mein Leben eigentlich problemlos. Und wenn ich höre wie es früher war mit all den körperlichen Mühen, den existenziellen Unsicherheiten, und in anderen Ländern mit Unterdrückung und Elend, da müssen wir doch wirklich von einem grossen Fortschritt für die Menschheit sprechen. Da kann und will ich einfach zufrieden sein. Und wir haben ja wirklich auch Spass damit. Oder?

 

Hallo @ematti,

den Einstieg fand ich spannend, auch sehr gut geschrieben. Ich will wissen, was es mit diesen ominösen Linsen auf sich hat und in welche Welt ich hier entführt werde. Auch die Beschreibung der AO-Linse in Verbindung mit dem Hörgerät finde ich noch wichtig, um mir ein Bild zu machen.

Aber spätestens ab hier:

Als Treffpunkte stehen verschiedene Kulissen zur Verfügung, die per Live-Cam übertragen werden und einen Hintergrund gestalten, der visuell und akustisch nicht mehr von der realen Erfahrung unterschieden werden kann.
war es mir zu viel Beschreibung und die eigentliche Geschichte sollte losgehen. Statt die Charaktere zu beschreiben, könntest du sie agieren lassen, in Szene setzen, so dass sie ein Gesicht bekommen. Von da könntest du einen roten Faden spinnen, der sich durch die Geschichte zieht, vielleicht will eine der Personen, die er virtuell trifft, auch ausbrechen oder ähnliches.
Du konzentrierst dich aber zu sehr auf die technische Beschreibung des AO, ab einem gewissen Punkt habe ich gedacht, dass du es mir verkaufen willst.
Das ist schon gut beschrieben wie das funktioniert. Ich gebe zu, dass ich tatsächlich gegoogelt hab, ob es das Ding gibt. Also verkaufen konntest du mir diese Zukunftswelt sehr realistisch, nur die Menschen darin nicht. Eine Geschichte sollte aber von den Figuren leben, was sie antreibt, wovor sie sich fürchten. Du beschreibst das zwar, aber eben so, als wolltest du mich für AO begeistern und nicht so, dass ich mit der Figur mitfühlen kann.

Vorletzten Sonntag habe ich tatsächlich vorgehabt, einen solchen Ausflug zu wagen, obwohl ich bisher nichts Gutes davon gehört habe.
Hier beginnt erst die Geschichte.

Alonso hat der ganzen Sache nie ganz getraut. Er war ein grüblerischer, skeptischer Geist und stand von Anfang an auf der Seite der Gegner von AO, als das Programm noch ein reines Vergnügungs-Werkzeug war und teilweise gratis angeboten wurde.
Und hier ist sie wieder vorbei.

Also das Thema finde ich spannend. Auch die Beispiele, die Totalüberwachung, dass die Menschen sich freiwillig fügen, weil sie abhängig von diesem AO sind, zwischen virtueller und greifbarer Realität nicht mehr unterscheiden können, bzw. die virtuelle vorziehen, weil sie sich dann weder vom Fleck bewegen noch dem Leben aussetzen müssen. Die sinnliche Ebene, der Geruch, die Atmosphäre, die körperliche Verbundenheit, geht völlig verloren und wird nicht mal vermisst.
Das ist schon eine gruselige Vorstellung, die sehr real wirkt, auch die Beispiele sind gut.
Trotzdem ist da nichts, wo ich mitfiebern kann, denn alles ist sehr allgemein gehalten, es wird beschrieben, wie die Leute reagieren, in Angst gehalten werden, aber nicht wie sie untereinander agieren.

Ich würde dir vorschlagen, ein paar Charaktere herauszuarbeiten (Alonso z.B., dann natürlich deine Hauptfigur und vielleicht einen Arbeitskollegen) und in Szenen und Dialogen zu zeigen, wie sie sich in dieser Welt zurechtfinden. Alonso der Aussteiger, deine Hauptfigur der Zweifler und noch eine dritte Person, die vielleicht völlig paranoid und systemkonform ist. Dann könnte da sicher eine interessante Geschichte draus werden. Im Moment ist es aber noch keine.

In diesem Sinne: Herzlich willkommen bei uns.

Viele Grüße,

Chai

 

Hallo @ematti ,

ich habe deinen Erfahrungsbericht mit dem AO-Programm gerne gelesen. Ich bin nach wie vor unschlüssig, ob der Erfahrungsbericht wirklich als Kurzgeschichte definiert werden kann (Handelnde Charaktere, Spannungsbogen, Lernkurve des Protagonisten), aber ehrlich gesagt fand ich deinen Ansatz, anstatt einer Geschichte eine Produkt-Rezension zu schreiben, ziemlich kreativ :)
Mal ehrlich, es gibt viel zu wenig gute Produkt-Rezensionen! Die einzige, die mich bisher wirklich mitgenommen hatte, war die Rezension zu einem Eiskugelportionierer. Das ist eigentlich ziemlich traurig.
Was ich an deinem Bericht sehr gut gelöst finde, ist, dass du es schaffst eine Geschichte im Rahmen des Erfahrungsberichts zu übermitteln, ohne dass man das Gefühl bekommt, der Rezensent wäre sich dessen tatsächlich bewusst. Das ist dieser kreative Ansatz, den ich oben schon erwähnt habe.
Dein Ausbau der nahen Zukunft gefällt mir ebenfalls wirklich gut. Du denkst aktuelle Trends, Technologien und gesellschaftliche Entwicklungen weiter, ohne dass du es dem Leser zu sehr aufdrängst, aber damit den eigentlich gewünschten Effekt - des Nachdenkens - beim Leser erzeugst. Ein wenig mehr Bezug zur direkten Kommunikation zwischen Neuronennetz und Geräten hätte ich mir gewünscht, aber das ist wohl meinen eigenen SF-Vorlieben geschuldet :)

Kommen wir zum kritischeren Teil:
Aktuell frage ich mich, an wen der Protagonist den Erfahrungsbericht richtet. Alle haben sich für AO entschieden, es gibt niemanden mehr der überzeugt werden muss. Und es ist ja schon "versuchte" Produktwerbung, aber mit zuviel Zweifel, als dass er den Bericht offen in ein Forum posten würde. Und selbst wenn er das tun würde, fehlt mir der Grund, warum er das tun sollte. Es gibt ja niemanden, der anderer Meinung wäre und wenn ja, würde er das nicht sagen.

Möglicherweise wäre der Erfahrungsbericht stärker, wenn du ihn zeitlich anders platzieren würdest. Als einen Erfahrungsbericht von einem frühen Benutzer des AOs, zeitlich vor dem Volksentscheid platziert. Allerdings wären manche Passagen dann zwar eher Spekulationen für zukünftige Entwicklungen und interessante Erfahrungen wie der gescheiterte Ausflug schwierig umzusetzen.
Er könnte natürlich auch einer der genannten Verbrecher sein, und die Verfassung des Erfahrungsberichts gehört zu seinem "Umerziehungs"-Programm. Das könnte dann an verschiedenen Punkten durchscheinen und nochmal die Welt deutlicher darstellen.

Mit der aktuellen Platzierung - normaler Benutzer, der noch nicht ganz im Netz gefangen ist - bleibt halt letztendlich doch die Wahrheit hängen: es ist nur eine Geschichte, die an einen Leser gerichtet ist und das ist letzlich schade, denn es nimmt der Geschichte Kraft.

Ein paar wenige Anmerkungen habe ich noch zu einzelnen Passagen.
Der erste Absatz. Für sich betrachtet, fand ich ihn einen guten Einstieg, allerdings finde ich nicht, dass der Rest sich irgendwie auf diesen Satz bezieht. Eventuell wolltest du damit einbauen, dass er halt noch nicht ganz im AO-Sumpf versunken ist, aber nachdem er im Erfahrungsbericht bisweilen von völligem Eintauchen spricht, z.B. hier:

Für mich lohnt sich die Wahrnehmung des realen Umfeldes höchst selten. So nehme ich sie kaum mehr wahr
vergisst man den ersten Absatz doch recht schnell wieder und ich glaube nicht, dass ich den Bericht ohne den erste Absatz anders lesen würde, zugegebenermaßen hat er mich beim zweiten Lesen sogar eher überrascht, da ich ihn nicht mehr präsent hatte.

Die Gegner räumten ein, dass dieses Programm der vollständigen Kontrolle über die Bürger diene.
Ich denke, "einräumen" ist hier das falsche Wort. Das steht ja für "zugeben". Sie wiesen wahrscheinlich eher darauf hin, oder klagten an.

Aber solches ist selbstverständlich und war schon immer so. Ich finde es richtig, dass solche, die mit ihren Kommentaren die virtuelle Welt verpesten, einen Abrieb verpasst bekommen.
solches und solche ist eine unnötige Wiederholung, vor allem, da ich "solches" im ersten Satz irgendwie unpassend finde.

Strassen
Straßen

Ich danke dir für diesen inspirierenden Spaß,
feurig

P.S. Und jetzt lasse ich Alexa meine Playlist aus der Cloud abspielen.

 

Guten Morgen lieber @ematti

eine interessante Geschichte! Erinnert mich ein wenig an Olsbergs Mirrors. Für eine Kurzgeschichte sind mir zu viele Detailerklärungen drin. Das wäre angebracht, wenn Du einen Roman draus machen würdest. Teilweise hab ich die Detailerklärungen nur überflogen.

Hier ein paar Anmerkungen:

So kann man mit ihnen über AO kommunizieren. Fehlt nur noch die Möglichkeit der physischen Begegnung. Aber auch da ist die Gagloo-Forschung dran mit interaktiven Anzügen, die über’s Netz verbunden werden und Berührungen übertragen.
Jedenfalls hatten wir eine gute Zeit zusammen, an jenem Samstagmorgen auf der Piazza in Venedig. Ich bin mit einer bildhübschen Italienerin ins Gespräch gekommen und konnte so meine Italienisch-Kenntnisse ein wenig auffrischen!

Das finde ich sehr gut beschrieben. :thumbsup:

Die reale Welt erleben, wer will und braucht das noch?! Die Maschinen haben uns ja die physische Arbeit abgenommen. Menschen, die heute noch arbeiten, tun dies meist vor dem Bildschirm. Und alles Lebensnotwendige wie Nahrung und Medikamente werden uns mit selbstgesteuerten Geräten nach Hause geliefert. Wenn wir uns noch in der Öffentlichkeit fortbewegen, etwa um zu einem E-Place zu gelangen, tun wir dies mit selbstfahrenden Elektro-Autos.

Und hier schrillen bei mir die Alarmglocken. Schrecklich, wenn ich mir vorstelle, dass die Menschheit nur noch zuhause hockt und virtuell kommuniziert. Beklemmend ist das.

So ist die Welt viel sicherer geworden. Und was will man schon draussen in der Stadt? Viele Quartiere sehen völlig unansehnlich aus. Sie zerfallen, da ihre Geschäfte nicht mehr benutzt werden. Denn die ganze Ware wird ja von riesigen, vollautomatischen Produktionszentren ausserhalb der Stadt direkt zum Konsumenten gebracht.

Auch das kann ich mir bildlich gut vorstellen.

Was in unserer Stadt noch relativ rege öffentlich genutzt wird sind die Fitnesscenter, obwohl mit dem neuen Konzept der Krankenkasse jeder sein persönliches Gerät zuhause hat.

Ah, das beruhigt mich. Wenigstens dürfen sie ab und an noch unter Menschen.

usserhalb der Stadtzone laufen diese Unregistrierten umher. Und sie können gefährlich sein, weil sie vom ganzen System ausgeschlossen sind und daher wahrscheinlich Mangel an diversen Gütern haben.

Interessanter Aspekt. Da könnte ich mir in einem Roman gut eine Rebellion der Unregistrierten vorstellen.

Seither läuft mein Leben eigentlich problemlos. Und wenn ich höre wie es früher war mit all den körperlichen Mühen, den existenziellen Unsicherheiten, und in anderen Ländern mit Unterdrückung und Elend, da müssen wir doch wirklich von einem grossen Fortschritt für die Menschheit sprechen. Da kann und will ich einfach zufrieden sein. Und wir haben ja wirklich auch Spass damit. Oder?

Das Ende ist gut. Mit diesem "oder" zeigst Du die Zweifel, die Dein Protagonist hat.

Ich danke Dir für die Geschichte.

Ganz liebe Grüße und einen schönen Tag,
Silvita

 

Lieber @Chai, lieber @feurig, liebe @Silvita,

herzlichen Dank für eure Rückmeldungen! Ich finde es echt grossartig, grosszügig und wertvoll, was ihr da tut und was ihr mir geschrieben habt!

Mal sehen ob ich auch was daraus mache resp. machen kann. Ich sehe ein, dass es da an Handlung und Handelnden mangelt. Leider ist es mir nicht wirklich gegeben, Geschichten zu erzählen, hab ich eigentlich auch nie gemacht. Ich bin eher ein wortkarger als ein Wortkrieger-Typ. Hatte vor Jahren diese Zukunfts-Idee und wollte sie nun auf Papier bringen. (Was ich hingegen gerne tue sind Versuche, möglichst viel Gehalt & Sinn in kurze Reime zu packen. Aber hierfür ist bei den Wortkriegern keine Kategorie vorhanden, soweit ich sehe.)

Euch einen guten Wochenstart,
lieber Gruss
ematti

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom