Meine "Fünfzehn"
Meine „Fünfzehn“
Ich hatte schon lange nicht mehr geschrieben. Und es hatte vor mir schon seit langem kein weißes leeres Blatt Papier mehr gelegen. Jetzt starrte ich es an. Wie sollte ich mit meiner Geschichte anfangen? „Schreibt den Schluss der Geschichte zu Hause. Ich werde die Hausaufgaben gleich nächste Woche Montag einsammeln, okay?“, hatte sie gesagt. Dabei hatten sich unsere Blicke für einen Moment gekreuzt. Graue Augen, die erbarmungslos die Schüler musterten. Ihre hellblonden Ringellocken wippten auf und ab, sobald sie sich bewegte. Früher hatte ich sie um ihre Haare beneidet. Früher. „Sie sollten mal wieder zum Friseur gehen.“, hätte ich ihr am liebsten gesagt. Aber das tat ich nicht. Stattdessen wandte ich mich wieder zum leeren Blatt vor mir. „Dürfen wir’s auch hinmalen, Frau Ruban?“, fragte einer hinter mir. Die Klasse kicherte. Ich nicht. Ich würde tausendmal lieber malen, anstatt zu schreiben. Aber meine Hoffnung wurde zunichte gemacht. „Natürlich nicht“, antwortete Ruban lachend, „wohin denkt ihr denn?“ Zähneknirschend senkten sich alle Köpfe, wie auf Kommando. Man hörte Stifte auf Blättern kritzeln, Papier rascheln, Worte murmeln oder flüstern. Meine Banknachbarin war ziemlich eifrig bei der Sache. Ihr Kulli schien zu fliegen. Meiner aber lag still und bewegungslos in der rechten Hand. Als Frau Ruban in meine Richtung schaute, tat ich so, als müsste ich kräftig überlegen. Neben dem blanken Papier lag eine gedruckte Seite, die jeder Schüler bekommen hatte.
Reiner Kunze – Fünfzehn
So viel. Wie konnte ein Mensch nur so viel schreiben? Dieser Kunze musste aus dem „Incredible“-Disneyfilm entsprungen sein. Ich war leider kein Genie. Woher sollte ich auch wissen, wie diese Geschichte aufhörte? Ich überlegte. Mir fielen Märchen ein. „Und sie lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Ende...“ , murmelte ich. „Was?“, horchte meine Banknachbarin auf. „Nichts.“, knurrte ich. Mit Spinnen unter dem Bett konnte man nicht glücklich leben. Obwohl Spinnen nicht so lange leben, wie wir Menschen. Mir fiel plötzlich etwas ein und eifrig setzte ich meinen Bleier auf’s Papier und – die Spitze brach ab. Es gab ein kleines Knackgeräusch. Ich sah zu, wie die gebrochene Miene einen kleinen Hopser machte und schließlich vom Tisch herunterrollte. Dann beobachtete ich, wie das Holz, das leere Holz, das Holz mit dem Loch, auf das Papier gedrückt wurde, Splitter sich um den Punkt verteilten und hörte dem Geräusch, das Krachen und Brechen des Holzes, zu. Niemand beachtete mich oder mein Spiel. Also machte ich weiter et voilà: Das Papier begann zu reißen und ich bohrte ein Loch hinein. Plötzlich stand Frau Ruban hinter mir. Ich konnte ihr ekelerregendes Parfüm riechen. Es umgab mich wie eine Wolke. „Was machst du da?“, fragte sie laut. Abrupt hörten die anderen auf zu schreiben. Sogar meine geliebte Banknachbarin. Frau Ruban griff nach dem ruinierten Papier, bevor ich etwas dagegen tun konnte und hob es in die Höhe, sodass es jeder sehen konnte. „Was soll DAS werden?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem zuckersüßen Lächeln. Sie stammte bestimmt auch aus diesem „Incredible“-Disneyfilm. Es herrschte Stille und Schweigen im Raum.
„Das ist das Ende der Geschichte. Das sind die Spinnen, Frau Ruban.“