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Meine Freundin
Sie greift nach meiner Hand. Fordernd.
Verzweiflung überkommt mich. Ich weiß nicht, was ich machen soll.
„Samy...“, fange ich an, stocke, dann aber kurz - wird sie sauer werden? Ich gebe mir die Antwort selbst.
„Ja?“, sie lächelt eines ihrer Enttäusch-mich-jetzt-nicht-Lächeln.
Verdammt!
Zögernd kreuze ich meine Finger mit den ihren. Es ist so vertraut, aber unter den Augen der Anderen erscheint es mir doch fremd.
Die Blicke einer alten Frau begegnen meinem.
Plötzlich fühle ich mich bei etwas Verbotenem, etwas Anrüchigem erwischt. Unsinn, denke ich, aber das Gefühl lässt sich einfach nicht beiseite schieben, wird sich auch nie beiseite schieben lassen.
Schnell lasse ich ihre Hand wieder fallen. Ich weiß, sie wird wieder enttäuscht sein, wird mir wieder Vorwürfe machen, doch meine Angst ist größer.
Feigling! Schallt es in meinem Kopf.
Feigling! Aber es geht einfach nicht.
Ihr Lächeln verschwindet, ich sehen es aus den Augenwinkel.
„Willst du ein Eis?“, fragt sie leise. Es ist eine so unbedeutende Frage, doch trotzdem spüre ich den anklagenden Ton, der aus ihr spricht. Ich schüttele langsam meinen Kopf. Ich bin mitten in der Saison. Leistungssport. Ich muss auf mein Gewicht achten - und das weiß sie auch. Ein kurzes Schnauben ist die Antwort. Sie lässt ihr blond-gefärbtes Haar über ihr Gesicht fallen. Ich soll sie jetzt nicht sehen, darf sie nicht sehen.
Langsam schlendern wie weiter durch das Einkaufzentrum, so als wäre nichts passiert, als wären wir zwei ganz normal Freundinnen, doch das sind wir nicht. Es liegt hinter uns und ich weiß nicht, wie ich es wieder zurückholen könnte.
Jemand sagte mal zu mir, man kann nie zurückgehen, unser Weg liege vor uns, nicht hinter uns. Und ich glaube, er hatte Recht.
Vorsichtig schiele ich wieder zu ihr rüber. Die wallende Pracht ihrer Haare verdeckt immer noch ihr Gesicht. „Samy?“, frage ich vorsichtig. Keine Antwort. Natürlich.
Ein leiser Seufzer entringt sich mir, ich hoffe, sie hat es nicht gehört, aber es würde keinen Unterschied machen. Sie würde so oder so nicht zu mir schauen.
Heute Abend würde es wieder Streit geben.
Mal wieder.
Sie und ich... wir streiten mittlerweile den ganzen Tag. Wenn wir zusammen sind, ist es am schlimmsten, da verletzt sie mich nicht nur mit ihren Worten, sondern auch mit ihren Blicken. Es ist jedes Mal wie ein Schwert, das durch mich hindurch, in mein Herz fährt. Doch auch wenn wir getrennt sind, ist es unerträglich. Sie ruft an. Wir streiten. Ich drohe, dass ich auflege. Ich lege auf. Sie ruft wieder an. Wieder streiten wir.
Es ist ein Kreis, aus dem wir beide nicht ausbrechen. Sie will es nicht und ich kann es nicht.
Oft frage ich mich nach so einem Streit, wie ich es so weit kommen lassen konnte.
Warum denke ich, dass das Leben ohne sie nichts mehr Wert wäre? Warum hat eine einzige Person so viel Macht über mich? Warum tut es so verdammt weh, wenn sie mir sagt, ich würde nicht zu ihr stehen? Warum?
Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht. Wahrscheinlich will ich sie auch gar nicht kennen. Aber ich weiß, sie ist die einzige Person, die mich versteht, die meine Gefühle versteht, wo ich sie doch nicht einmal selbst verstehe.
Manchmal liege ich nachts wach im Bett und frage mich, wieso ich so bin, so anders als all die Mädchen in meiner Klasse, als meine Schwester, meine Mutter.
Ich weiß es nicht.
Aber sie greift wieder nach meiner Hand und ich weiß, dass ist die letzte Chance für heute und lasse es zu. Es ist nicht mein Wille, aber ich lasse es zu, und frage mich dabei, ob es richtig ist, frage mich, ob ich mich an irgendeiner Stelle meines Lebens falsch entschieden habe... aber hatte ich den überhaupt eine Wahl?