Meine Kleine
Meine Kleine. Sie war nicht sonderlich hübsch und auch nur von durchschnittlicher Intelligenz – wenn überhaupt. Sie erinnerte mich jedoch an etwas...
Zu meinem 28. Geburtstag backte mir meine Verlobte einen Kuchen. Er war gut. Etwas trocken, aber gut. Wir verbrachten den Tag, den Abend und die Nacht miteinander.
Das war nun das vierte Jahr hintereinander, dass wir das taten.
In drei Tagen sollten wir in eine andere Stadt ziehen. In eine große Stadt. Dort würde das neue Leben auf uns warten. Eine 2-Zimmer-Wohnung und ein fünfstelliges Nettogehalt. Für den Anfang hörte sich das doch gar nicht schlecht an, oder? Das Studium war vorbei und zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich damit konfrontiert, mir mein eigenes Ziel zu setzen. Weder Schul- noch Hochschulabschluss gab es mehr zu erreichen. Ich konnte nun selbst entscheiden, in welche Richtung die Reise gehen sollte. Klar war das jetzt alles keine Ideallösung, geschweige denn genau der Weg, den ich einschlagen wollte, aber man sollte ja auch nicht zu wählerisch sein und die Messlatte auch noch nicht zu hoch legen. Die Ziele kamen morgen, heute war die Arbeit dran.
Ich gestaltete mir meine Umgebung selbst. Jeder tat das, oder? Und was ich sah war eine Stadt, deren Zeit vorbei war. Ihre Zeit war weitergezogen und hatte mich mitgenommen. Sah ich doch noch vor gerade einmal zehn Jahren volle und ausverkaufte Hallen bei diversen Livekonzerten, spielten heute dieselben Bands vor einem Publikum, das vielleicht aus 25 Menschen bestand. Keine Menschenmengen mehr, die sich schwitzend aneinander pferchten und im Chor mitsangen und mittanzten, sondern 25 Menschen, die alle davon schwärmten, wie sie dieselbe Band vor zehn Jahren spielen sahen, und damals die Hallen voll und ausverkauft waren; dass sie damals alle zusammen tanzten und sangen. Mit Tränen in den Augen goss man sich das letzte Bier in den Rachen. Schneller als sonst. Noch bevor das letzte Lied vorbei war, damit man sich nicht mit den Musikern dafür schämen musste, dass es heute keine tosende Menge gab, die nach einer Zugabe rufen würde. Das lauteste Geräusch nach dem Konzert würde das des Kabels sein, wenn es aus dem Verstärker gezogen wird.
Vor gerade einmal fünf Jahren wurde noch diskutiert zusammen mit ungebildeten, klugen Menschen. Heute wurde nur noch nachgeredet und zitiert zusammen mit intelligenten, dummen Menschen.
Es war Zeit zu gehen. Dorthin, wo auch die Zeit gegangen ist, um sie wieder einzuholen; um wieder mit ihr zu gehen. Keine Ahnung, wo das genau sein wird. Sollte ich es denn wissen? Ich glaube nicht … zu viele Informationen waren die Zerstörung eigener Ideen. Blöderweise konnten jedoch zu wenige Informationen dem Verstand einen Funken Angst entspringen lassen und ich bat Gott, die Natur, das Universum, das Schicksal, den Zufall, das Glück oder wie auch immer man die Macht schimpfen wollte, die die Fäden zog, dass dieser Funke nicht in die falsche Richtung springen und alles zu Staub und Asche verarbeiten würde. Ich hatte eine scheiß Angst. Vor allem, was kommen würde…
Wie ich hier landete, wusste ich irgendwie nicht mehr. Ich war in der Bar, in meiner Bar, von früher. Wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich hatte noch keine Lust auf diese verdammten Bars, in die sich keine jungen Leute verliefen. Auf diese Bars in die nur Leute mittleren Alters gingen; das eine Auge in das halbleere Glas auf dem Tresen gerichtet, das andere auf den sonnigen, imaginären Horizont, der doch noch das Glück versprach, dem all die verlorenen Seelen hinterrannten. Nein Danke.
„Hab heute Spaß und genieße die letzten Tage hier…“, gab sie mir durchs Telefon mit, als ich gerade dabei war, die Treppen des Hauses herunterzugehen, in dem sich unsere Studentenwohnung befand, „… und vergiss nicht.“
„Werde ich nicht.“
„Was wirst du nicht?“ Ich konnte hören, wie sie durchs Telefon lächelte.
„Vergessen, dass du mich liebst.“
„Richtig. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Ich stand an der Theke und stocherte mit einem Strohhalm in meinem Glas rum. Das Klirren der Eiswürfel konnte ich nicht hören, da die Musik zu laut war. Unterhalten hätte man sich auch nicht können. Eventuell wenn man sich angeschrien hätte, aber wer genoss sowas schon?
Gesellschaft hätte ich keine gewollt. Ich wollte mich in alkoholgetränkter Melancholie von dieser Stadt verabschieden. Ich würde sie vermissen – all das Bekannte – und auch froh sein, endlich hier weg zu können. Die Freiheit rief immerhin nach mir und ich wollte diesem Ruf folgen, oder? Mir wurde mal gesagt, dass es das war, was das Leben spannend machte…
Es war spät und die meisten Anwesenden waren schon stark betrunken. So wie ich … ich war ein paar Gläsern zu viel auf den Grund gegangen, war aber noch nicht am Limit.
Durch meine verschleierte Sicht und meinem leichten Tunnelblick sah ich sie etwas zu spät auf mich zukommen. Als ich sie bemerkte, befand sie sich schon fast unmittelbar vor mir. Sie blieb genau vor meinem Gesicht stehen, küsste mich auf den Mund und lächelte mich an. Ich kannte sie überhaupt nicht...
"Bist du nicht schon fertig mit Bars wie dieser, alter Mann?", sagte sie und grinste mich mit einer Art jugendlicher Überheblichkeit an. So als ob das hier ihr Revier wäre.
Vielleicht war ich wirklich schon fertig mit derartigen Bars, aber ich wollte eben noch einmal vorbeischauen, bevor ich mich in die große und weite Welt stürzte.
"Wen nennst du hier alt?"
Blöderweise musste ich in ihren Augen wirklich schon alt wirken. Ich versuchte sie, so gut es mir meine Sicht noch erlaubte, zu mustern und stellte fest, dass sie mindestens zehn Jahre jünger sein musste als ich – wenn nicht noch mehr. Kein Altersunterschied eigentlich, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich noch keine verfluchten 30 war, doch ein ziemlicher Altersunterschied.
Sie lächelte mich immer noch an, ging ein paar Schritte zurück und streckte ihre Arme seitlich aus, als wollte sie anfangen zu tanzen.
Ihr Getränk drückte sie irgendeinem Typen in die Hand. Bekannt oder unbekannt, war mir gänzlich unbekannt. Er schien jedoch irgendwie äußerst überrascht.
Sie schloss ihre Augen und fing an zu tanzen. Hier in dieser Bar, wo normalerweise niemand tanzte. Außer vielleicht einer Gruppe von Leuten, die regelmäßig vorbeischauten und ununterbrochen auf XTC waren.
Sie ließ fast unmerklich ihre Hüfte kreisen, ging leicht in die Knie, fasste sich mit ihren Händen langsam, wie in Zeitlupe, an den Hinterkopf. Ihre Bewegungen waren fließend. So fließend und so wunderschön anzuschauen, dass es fast unrealistisch wirkte und ich davon überzeugt war, dass mir mein Verstand im Bezug darauf, wie perfekt sie wirklich aussah, einen Streich gespielt haben musste.
Doch wie ihre Bewegungen in Zeitlupe abzulaufen schienen, so schien auch die Zeit immer langsamer zu werden. Immer langsamer, bis sie stehen blieb.
Es war nicht ihr Aussehen, das mein Verlangen nach ihr auslöste. Auch nicht die Tatsache, dass sie offensichtlich etwas auf mich stand. Das passierte eben. Solche Situationen waren nichts Neues für Menschen in Beziehungen. Man lernte damit umzugehen und nein zu sagen, wenn eine wunderschöne Person des anderen Geschlechtes auftauchte und einen Narren an einem fraß. Selbst wenn diese Person erst 17 Jahre alt war. Man verteufelte sie dann eventuell kurz dafür, dass sie nicht blicken ließ, als man noch Single war, aber nach frühestens zehn Minuten oder spätestens dem nächsten Tag hatte man die Situation vergessen und drauf geschissen.
Hier war es etwas anderes. Dieses tanzende Mädchen schilderte mir ein Szenario, wie ich es lange nichtmehr gespürt, gesehen oder erlebt hatte.
Sie tanzte, wie wir früher tanzten. An einem Ort, an man eigentlich nicht tanzte. Wieso hätte man hier auch tanzen sollen? Es war eine Bar, kein Club. Hier saß man auf Hölzernen Barhockern an der Hölzernen Theke, während man sich bei Folkmusik importiertes Bier in den Hals stellte, bis man von den Schwingtüren, die zu den Toiletten führten, niedergeprügelt wurde, weil man ihnen keinerlei Widerstand mehr leisten konnte.
Hier genoss man die Musik und das Beisammensein; hier forderte man die Ausdauer der Leber heraus, nicht die der Muskeln, die an den Knochen hingen. Wir tanzten hier früher nur wenn wir unsere Köpfe schon ausgeschaltet hatten; wenn der Verstand im Koma lag - nicht dorthin versetzt durch eine beruhigende Betäubung, sondern dreckig vom Stuhl gezerrt mit einem in Chloroform getränkten, dreckigen Lappen, der uns ohne Mitleid ins Gesicht gepresst wurde. Dann, nur dann, tanzten wir auch.
Irgendein Typ kam ihr näher und wollte offensichtlich, dass sie ihm mehr als nur den Sinn des Sehens stimulierte. Als sie ihn bemerkte, schlug sie ihm sein Glas aus der Hand, zeigte ihm den Finger und trat ihm zwischen die Beine, sodass er zusammenklappte, wie ein alter, nasser Sack und winselnd und wimmernd am Boden liegen blieb.
Ohne abrupte Bewegungen ging sie wieder in ihren Tanz über und bevor sie wieder die Augen schloss, schenkte sie mir noch ein Lächeln.
Sie benahm sich, wie wir früher, ohne Rücksicht, ohne gutes Benehmen. Einfach darauf scheißen. Und all das mit einem Stil, der in meinem Alter nicht mehr vorhanden war. Man schien diesen leider irgendwann zu verlernen oder einfach zu verlieren.
Ich konnte nicht wegsehen. Ihre Lippen, wie sie sich bewegte und wie sie sich mit den Händen durch ihre langen, dunklen Haare fuhr.
Um sie herum begann dichter, graublauer Rauch aufzuziehen und ich konnte schon bald nicht weiter als eine Armlänge sehen. Alles wurde undeutlich und verschleiert von einer dicken Schicht aus dickem Dunst. Ich konnte sie nur noch schemenhaft sehen, obwohl sie nicht weit von mir entfernt war.
Der Geruch von Zigarettenrauch stieg mir in die Nase und setzte sich in meinen Klamotten und in meinen Haaren fest. Er überdeckte all die restlichen Gerüche, die hier in der Bar vorhanden waren. Den nach getrocknetem Bier, den nach Schweiß und den nach festgetretener Kotze. War das besser? Ich fand schon. Egal.
Es war wie früher; wie in einer Zeit, an die ich mich nur noch sehr schwach erinnern konnte, da ich damals noch sehr jung war. Ich vermisste diese Zeit.
Ich nahm noch einen Schluck Whiskey und würgte ihn herunter. Er schmeckte irgendwie furchtbar. Whiskey war wie Kaffee. Ich lernte ihn erst zu genießen, als ich zum ersten Mal von seiner wunderschönen Wirkung gekostet und gelernt hatte, diese zu schätzen.
Mit meiner Zunge fuhr ich über meine Oberlippe, wo sich immer vereinzelte Tropfen in meinem Bart verfingen. Zu meiner Überraschung ertastete meine Zunge lediglich eine nackte Oberlippe. Dort befand sich kein Bart, noch nicht. Verwirrt sah ich in den großen Spiegel, der sich hinter der Bar befand. Ich blickte in das Gesicht eines Kindes. Die Wangenknochen noch nicht ganz so markant, noch keine ersten Fältchen unter den Augen. Meine Haare waren lang und das erste Tattoo am Arm juckte noch.
Ich war wieder jung. Ich stand vor einem Mädchen, für das ich in einer Zeit, in der die Entfernung zwischen meinen Füßen und meinem Kopf zwar schon ihr Maximum erreicht hatte, aber ich dieser Entfernung mental noch nicht gerecht wurde, gemordet, sie aber nie angesprochen hätte, weil ich den Mut dafür noch nicht aufbringen konnte. Ihre Unschuld, ihre Naivität und ihre - wenn auch nur überzeugend gespielte - Verruchtheit trafen mich wie Schläge ins Gesicht; von einer Hand geführt, die mit dem weichsten aller Samthandschuhe bekleidet war und dann, plötzlich, war ich wieder zurück.
Zurück, in einer Zeit, die sich anfühlte, wie der Anfang.
Ich ging zu ihr rüber und als ich vor ihr stand, riss sie mich an sich. Engumschlungen fing ich an, mitzutanzen. Am Anfang fühlte sich die Situation, in der ich mich befand, irgendwie komisch an; unangemessen und zum Teil auch falsch. Ich fühlte mich eingerostet; als ob ich die Schritte, die sie ging, lange nicht mehr gegangen war; als ob ich die Schritte niemals bewusst gelernt, aber trotzdem verlernt hatte.
Nach einiger Zeit – es konnten mehrere Stunden, oder auch nur wenige Minuten gewesen sein – fiel mir alles mehr und mehr wieder ein und meine Schritte glichen fast ihren. Wir lachten und alberten rum; wir tranken und feierten. Was wir feierten, wusste ich nicht ... es war auch egal. Alles war jetzt egal.
„Lass uns gehen.“ Wie sie es aussprach hörte es sich mehr nach einem Befehl als nach einem Vorschlag an.
„Wohin gehen?“, fragte ich.
„Egal. Werden wir sehen. Hauptsache raus hier.“
Als wir kurz unbeobachtet waren, klaute sie eine Flasche Whiskey von der Bar. Sie nahm mich lachend an die Hand und mit Augen, die vor Aufregungen nicht nur leuchteten, sondern strahlten, zerrte sie mich in Richtung Ausgang.
„Warte kurz!“, rief ich ihr nach und hoffte, dass ich lauter als die Musik war.
Sie drehte sich zu mir um und sah mich fragend an. „Warte kurz. Geh schon mal raus. Ich bin gleich da.“ Sie sagte nichts weiter, nickte mir zu und ging nach draußen.
Ich stand genau an der Stelle der Theke, an der ich die erste Hälfte dieser Nacht verbracht hatte, drehte meinen Kopf zur Seite und starrte in mein altes Gesicht. In das Gesicht mit den leichten Fältchen unter den Augen und dem Dreitagebart.
„Dein Ernst?“, fragte ich ihn und versuchte so herablassend wie nur möglich zu wirken.
„Was?“, gab er sichtlich überrascht zurück.
„Du. Das Alles… Ringring. Ich bin es. Heb ab, wir haben zu reden.“
Ich lief an ihm vorbei und rempelte ihn mit der Schulter an. Im Augenwinkel sah ich, wie er leicht taumelte und mir wehleidig hinterherstarrte.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich sie. Meine Augen brannten nachdem ich die verrauchte Bar verlassen hatte und plötzlich der klaren und frischen Luft hilflos ausgesetzt war.
„Überallhin! Wohin du willst! Suchs dir aus!“
Während sie das sagte, riss sie ihre Arme in die Luft und drehte sich lächelnd im Kreis. In der einen Hand eine Zigarette, in der anderen die geklaute Flasche Whiskey. Ich sah ihr dabei zu und es machte mich glücklich. Sie sah toll aus. Sie hatte ihre Augen geschlossen und ihre langen Haare flogen durch die Luft. Es war ein zauberhafter Anblick und erst als sie kurz davor war hinzufallen, zog sie die Bremse und kam wankend vor Schwindel auf mich zu.
„Und?!“, fragte sie mich.
„Keine Ahnung… Wir könnten. Ich weiß nicht.“ Sie lachte laut. Etwas zu laut und zu euphorisch für meinen Geschmack. Sie küsste mich und das Szenario stimmte: Die alte Straße war fast leer; kaum mehr Menschen waren unterwegs. Die Fachwerkhäuser, die hier seit einigen Jahrhunderten wachten, beugten sich mittlerweile, vom Gewicht ihrer eigenen Fassaden nach unten gezogen, zu uns, als wollten sie uns genau beobachten; als hätten wir ein Publikum, dass nur aus Gebrechlichkeit bestand. Eine surreale Vorstellung, die realer war, als ich es mir hätte vorstellen können.
Es roch nach Sommer und leichter Wind wehte uns um die Ohren. Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mich von sich weg.
„Ich wüsste da was.“
Ehe ich sie fragen konnte, hatte sie mich wieder an die Hand genommen und zerrte mich die Straße entlang. Die Straßenlaternen hier waren alt und spendeten nichts weiter als dieses orange-gelbe, warme Licht, das mittlerweile in den meisten Teilen der Stadt von weißglühenden Halogenlampen abgelöst wurde. Wir liefen von einem Lichtkegel in den nächsten.
Hell, dunkel, hell, dunkel …
Nach ein paar Minuten konnte ich den Fluss hören, der sich tosend seinen Weg durch unsere Stadt bahnte. Er gab gleichmäßigen Lärm von sich und noch bevor ich ihn sah, wusste ich, wo wir hingingen.
„Stopp hier.“, sagte sie, als wir die Mitte der schlecht beleuchteten Brücke erreichten.
Sie beugte sich über das Geländer. „Hier ist gut.“
Sie schüttelte sich ihre offene Jacke von den Armen und zog ihre Chucks aus, ohne die Hände zu benutzen.
„Komm schon!“, forderte sie mich auf, als sie merkte, dass ich zögerte. Sie boxte mir auf die Schulter und lächelte mich nach wie vor an. Dieses Lächeln …
Wir zogen uns komplett nackt aus und schwangen uns über das Geländer, auf einen schmalen Sims, der gerade breit genug war, um auf ihm stehen zu können.
Ich hielt mich mit beiden Armen am Geländer hinter mir fest und lehnte mich nach vorne. Unter mir tobte das Wasser. Ich wusste nicht wie tief es war und ich wusste auch nicht, wo mich die Strömung hintragen würde. Alles was ich wusste war, dass ich springen wollte.
Im Osten ging langsam die Sonne auf und ihre ersten Strahlen durchschlangen die verwinkelten Straßen der Altstadt wie riesige Tentakel.
„Was gibt’s zu verlieren?“, fragte sie mich und drückte mir den Whiskey in die Hand.
Ich sah sie an und sie sah mich an. Sie sah auf fast süße Art wahnsinnig aus. Ihre Haare wehten im starken Wind, der über dem Fluss lag und die aufgehende Sonne schien ihr mitten ins Gesicht, weswegen sie ihr rechtes Auge geschlossen hielt, das linke strahlte immer noch.
„Nichts eigentlich.“, entgegnete ich gelassen.
Ich nahm ihre Hand und wir sprangen.
Als ich aufwachte, merkte ich, dass ich nicht lange geschlafen haben konnte. Die Sonne stand nach wie vor nicht sonderlich hoch am Himmel und von der Straße her ließen sich noch kaum Geräusche ausmachen.
Während des Aufstehens fühlte sich mein Körper müde an, aber mein Verstand war vollkommen klar und frisch. Ich verließ das Schlafzimmer und ging ins Badezimmer, wo ich mir mein Gesicht wusch. Als ich meinen Kopf vom Waschbecken erhob, sah ich, wie mir ein altes Gesicht aus dem Spiegel entgegenstarrte. Es war mein Gesicht. Mein bärtiges Gesicht mit den kleinen Fältchen unter den Augen.
Sie schlief noch, als ich zurück ins Schlafzimmer schlich.
So leise wie möglich begann ich, meine Klamotten zusammenzusuchen. Ich wollte sie nicht aufwecken.
Nachdem ich jedes einzelne Stück zusammen hatte, zog ich mich an. Auf dem Weg nach draußen sah ich an der Eingangstür einen Zettel hängen, der mit Notizen vollgekritzelt war. Daran hing, an einer kurzen Kette, ein Stift und ich beschloss ihr meine Telefonnummer aufzuschreiben.
Nach den ersten fünf Zahlen verwarf ich diese Idee schnell wieder und strich alles hastig durch.
Ich wollte hier so schnell wie möglich raus. Noch bevor die Tür quietschend vollends zurück ins Schloss gefallen war, entschied ich mich zurück zu gehen. Ich öffnete die Tür erneut, nahm den Stift und notierte ihr meine Nummer. Ich schrieb keinen Namen dazu, lediglich meine zwölfstellige Handynummer Dann ging ich nach Hause.
„Du bist spät.“, murmelte meine Verlobte, als ich mich neben sie ins Bett legte.
Ich sagte nichts. „Wie war es? Hattest du Spaß?“
„Ging schon.“, sagte ich knapp und schloss die Augen.
Drei Tage später klingelte mein Telefon. Mein Display zeigte ‚Unbekannte Nummer‘ an. Ringring…
„Willst du nicht abheben?“, fragte mich meine Verlobte, die halb schlafend auf dem Sofa neben mir lag.
Keine Ahnung … Sollte ich denn abheben?