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Menschen ohne Gesichter
Menschen ohne Gesichter
„Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist! Und erzähl auch sonst nichts von hier!“
Diese Worte klangen in meinem Kopf nach. Natürlich nicht …
Ich rannte. Ein schlechtes Gewissen regte sich in mir. Aber warum? Es war nicht das erste Mal, dass wir so etwas getan hatten. Und verdächtigen würde man uns ohnehin nicht. Wir waren ja noch Kinder …
Ich rannte weiter und ein Lächeln umspielte meine Lippen. Was würden sie tun, sobald sie ihn entdeckten? Sie würden die Tür aufmachen, vielleicht einen erstickten Schrei ausstoßen. Die Männer würden sich den menschengroßen, vom Baum herunterbaumelnden Sack vielleicht näher ansehen. Die Frauen würden nur voller Angst zuschauen. Oder würden sie sofort die Polizei rufen?
Verdächtigen würde man uns nicht. Wir, die gesichtslosen Unbekannten …
Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb. Ich hatte das Gefühl, dass man es sicher hören müsste. Mein Kopf pochte und das Hämmern behinderte meine Gedanken. Es war stockdunkel und niemand würde mich sehen können, trotzdem rannte ich schneller, es war nicht mehr weit, und wenn umherfahrende Polizisten mich erwischen würden, würden sie mich nach Hause fahren. Und einer der Täter hätte ein Gesicht …
Endlich kam ich zu Hause an. Ich blickte mich noch einmal um, niemand hatte mich gesehen, in unserem Haus brannte kein Licht mehr, jeder war zu Bett gegangen. Kein Wunder, es war auch mitten in der Nacht.
Ich steckte leise den Schlüssel ins Schloss, öffnete noch leiser die Tür und schloss sie hinter mir fast genauso leise. Das Licht machte ich nicht an, fürchtete, jemanden aufzuwecken. Sie würden merken, dass ich nachts aus meinem Bett gestiegen war. Bisher hatten sie es noch nie gemerkt, und ich wollte nichts riskieren, nicht jetzt.
Ich ging die Treppen hoch und legte mich sofort ins Bett, um noch ein paar Stunden schlafen zu können. Am nächsten Tag dürfte meine Mutter mich wie üblich wecken und niemand würde merken, was in der Nacht geschehen war.
Meine Mutter weckte mich nicht, ich wachte von alleine auf. Meine Gedanken waren benebelt und trüb, wie jeden Morgen. Es war Wochenende, hatte ich total vergessen. In meinem Kopf spielten sich die Ereignisse der vergangenen Nacht noch einmal ab. Bald würde ich nicht mehr daran denken, genauso wenig wie ich auch an die anderen Dinge dachte, die ich schon getan hatte. Irgendwann vergisst man alles … Und es gibt Erinnerungen, die sind es wert, früher als andere Erinnerungen vergessen zu werden. Diese war eine von vielen, unbedeutend und nichtig, in ein paar Tagen würde alles vergessen sein, von jedem.
Ich stieg die Treppe hinunter. Alle anderen waren schon wach, aber in der Küche saß nur meine Mutter.
„Schon wieder ein Todesfall“, sagte sie. Sie saß mit dem Rücken zu mir am Küchentisch, eine aufgeschlagene Zeitung in den Händen.
Ich ging auf sie zu und blickte ihr über die Schulter. Das Foto eines älteren Mannes war zu sehen, Mitte 60 schätzte ich ihn. „Wilhelm Schmied, 64“, stand darunter. Mit meiner Vermutung, was das Alter anbelangte, hatte ich also richtig gelegen, der Mann war Mitte 60. Er war es zumindest gewesen …
„Aha…“, sagte ich, milde beeindruckt. Solche Dinge ließen mich kalt, nicht nur mich, auch fast jeden anderen in der Gegend. In der Stadt hatte es solche Fälle in letzter Zeit öfter gegeben, Morde, niemand wusste, wer sie immer und immer wieder beging, wer zu so etwas fähig war. Die Leichen wurden alle sofort gefunden, die Täter gaben sich keinerlei Mühe, sie zu verstecken, wieso denn auch, niemand wusste, wer sie waren. Menschen ohne Gesichter…
Ich setzte mich an den Tisch und aß. Ich dachte noch einmal über vergangene Nacht nach, was wir getan hatten. Würde uns jemand verdächtigen, kleine unschuldige Kinder, wie sie uns nannten? Ich musste lächeln bei dem Gedanken, dass sie uns fassen würden. Es war praktisch unmöglich. Solche Fälle gab es öfter. Und noch nie hatte man jemanden ernsthaft verdächtigen können, mit handfesten Beweisen.
Nach dem Essen ging ich nach draußen. Vielleicht war es unklug, an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Jeder sagte, dass Täter immer wieder an den Tatort zurückkehren würden, irgendwann, wenigstens noch einmal, aus was für einem Grund auch immer.
Ich hatte einen Grund. Ob einer der anderen da sein würde, wusste ich nicht, ich tippte im Stillen auf nein.
Die Sonne stand hoch am Himmel, es war ein warmer Herbsttag, alles wirkte so unschuldig. So unschuldig, als würde jeder die schlimmen Dinge, die immer wieder geschehen, verdrängen wollen. So nichtswissend, trotz des erneuten Mordes. Aber was sollten sie sonst tun? Niemand kannte die Täter, man ging mit ihnen um, als würden sie nicht einmal existieren. Menschen ohne Gesichter …
Ich lief nicht besonders zügig, und doch kam ich überraschend schnell an den Ort zurück, an dem es geschehen war. In der vorigen Nacht schien mir der Weg viel länger, obwohl ich gerannt war. Das musste die Nervosität gewesen sein, wenn man nervös ist, kommt einem vieles länger vor, als es in Wirklichkeit ist, alles kommt einen dann sowieso oft unwirklich und verschwommen vor.
Schon von weitem entdeckte ich in dem Garten vor dem Haus einige Menschen. Ich lief noch etwas näher heran, ich wollte nichts verpassen, weder die Reaktionen der Leute noch das, was sie sagten. Ich konnte die Bewohner des umzäunten Grundstückes sehen und einige Polizisten, die sich mit ihnen unterhielten.
Ich blieb stehen, mitten auf dem Bürgersteig. Man hatte mich nicht bemerkt. Verstecken wollte ich mich nicht, ich würde weniger erkennen können. Was die Leute redeten, konnte ich nicht deutlich verstehen, ich konnte anhand der Stimmen nur ausmachen, dass die Frauen sehr aufgelöst zu sein schienen, sie redeten schnell und hektisch. Die Männer blieben ruhiger, so wie es Männer fast immer tun, im Innern waren sie sicherlich genauso zerstreut, nervös und ängstlich wie die Frauen.
Der Sack baumelte immer noch am Baum, er wiegte sich im Wind. War er so leicht?
An der Unterseite des Sackes, die der Baumkrone zugewendet war, schauten zwei in Jeans steckende Beine heraus. An ihnen steckten noch die braunen Lederschuhe. Um den Sack war ein Seil gewunden, dass ihn am Körper hielt. Ein weiteres Seil, das an einem Ast am Baum gebunden war, war um die Beine geschlungen. Der Knoten war fest.
Nun näherte sich ein Polizist dem Sack. Endlich. Würde er hingehen und ihn sich ansehen, wüsste er, was ihn erwartete, oder würde er sogar ein Messer zücken und das Seil durchtrennen?
Ich wartete gespannt, der Polizist schien genauso gespannt zu sein, jedoch ging er nur zögerlich auf den Sack zu, als hätte er Angst vor dem, was er gleich zu Gesicht bekommen würde.
Ich stand immer noch auf dem Bürgersteig, hatte mich keinen Fleck weiterbewegt. Und dann entdeckte er mich. Ein anderer Polizist, der bei den Bewohnern stand, sah zu mir herüber.
„Hey, Junge, geh weg von hier, das solltest du dir besser nicht ansehen!“, rief er.
Der Polizist, der beim Sack angekommen war und gerade ein Messer gezückt hatte, bemerkte mich nun auch und hielt in seinem Vorhaben inne. Er stand vor dem baumelnden Sack, er würde einem eingewickelten Menschen direkt in die Augen blicken, so hoch hing er.
Dann drehte ich mich um, langsam und eine teilweise gespielte, teilweise echte Neugier zeigend, um keinen Verdacht zu erregen. Doch warum die Vorsicht? Kinder waren wir in den Augen der anderen, im Grunde nicht fähig, so etwas zustande zu bringen.
Ich entfernte mich vom Tatort. Langsam, ich wollte nichts verpassen, wollte den Eindruck vermitteln, dass ich dem Polizisten gehorchte, denn Kinder müssten ja gehorchen dachten alle, und wollte trotzdem mitbekommen, was als nächstes geschah.
Ich hörte einen Aufprall, wie ein Mensch, der von einem Baum fällt, nur dumpfer. Das Geräusch kannte ich von früheren Zeiten, wir waren öfter unvorsichtig gewesen und beim Klettern von Bäumen gefallen, wenn wir nach draußen zum Spielen gegangen waren.
Dann hörte ich eine Zeit lang nichts mehr, ich ging noch langsamer. Und dann hörte ich es, ich lächelte, musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.
„Es … es … da stimmt doch…“, hörte ich den Polizisten stammeln. Er sprach leise, gerade so, dass ich es noch verstehen konnte. Und dann, ich musste meine Ohren nicht mehr spitzen, so laut rief er es plötzlich, seine Stimme war noch nervös:
„Es … es handelt sich nicht um eine Leiche! Steine und Papier! Im Sack! Alles unecht!“
Ich lachte, war nun weit genug weg, so dass sie mich nicht hören konnten. Allmählich beschleunigte ich meine Schritte.
Wir waren Menschen ohne Gesichter …