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- 01.11.2004
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Merida
Der Zug fuhr ein und hielt wie von Porfaltadepueblo berechnet. Er bestieg, seiner Eitelkeit im verspiegelten Glas der Waggontür ein Lächeln schenkend, den weißgelackten Dildo des Fortschritts -ein besserer Ausdruck fiel ihm in dem Moment nicht ein, weil er sich weigerte die Eleganz eines Tieres zu beleidigen-, fand direkt ein leeres Abteil, grinste, lud sein Gepäck ab und machte es sich bequem.
Es war gegen vier Uhr morgens, und das einzige was er aus seinem Fenster sehen konnte, war das Flackern einer verwitterten Neonreklame, die zu einem Hotel gehörte, das es schon lange nicht mehr gab. Da er wußte, wie es dazu gekommen war, zog er die Vorhänge zu, drehte sich eine Zigarette und schloß die Augen.
Der Zug setzte sich ruckelnd und stolpernd in Bewegung, und glitt dann langsam, fast unmerklich, in ein leises und angenehm schwebendes Fahren über. Mokkapan liebte es, sich so von einem Ort zum anderen tragen zu lassen. Behielt er auch noch das Abteil für sich allein, freute er sich wie ein kleines Kind, das sein Spielzeug mit niemandem teilen muß. Nur manchmal, wenn er neues Material brauchte, oder Lust hatte, sich für ein, zwei Stündchen zu verlieben, setzte er sich ins Großraumabteil oder Bordrestaurant.
Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein Zug, und Mokkapan lugte durch den Vorhang. Die meisten Insassen dösten vor sich hin, nur eine alte Frau schaute verträumt aus dem Fenster. Wahrscheinlich Frankfurt, dachte Porfaltadepueblo, Frankfurt/Airport. Er zwinkerte ihr kurz zu, dann war der Spuk vorbei und er versuchte wieder zu schlafen, doch nach ein paar Minuten schreckte er hoch. Seine Zigarette war ihm aus der Hand gefallen und brannte sich in den Sitz neben ihm. Macht nichts, sagte er sich, denn er konnte dem modernen Interieur der Bahn -abgesehen von den paar Spielereien für Kinder die ihre Frauen nur mangels Termin nicht schlagen- nicht viel abgewinnen. Und mehr als einmal hatte er sehnsüchtig der Möglichkeit nachgetrauert, die Sitze in ein rollendes Himmelbett zu verwandeln. Herrliche Zeiten waren das, als man noch bequem unter einer geklauten Flugzeugdecke liegend, einen Schmetterling in voller Länge vögeln konnte. Die Gesichter der Schaffner ein Genuß.
Er ließ den Stummel weiterqualmen und überlegte , ob er sich einen Kaffee holen sollte. Aber Kaffee machte ihn meistens noch müder und außerdem bekam er davon Schweißausbrüche, wenn er vorher nichts gegessen hatte. Er versuchte es mit Musik. Tom Liwa sang:"Er saß in einem Zugabteil/und machte endlich diesen Brief auf/über den er sich/so gefreut hatte/als er kam und..."
Porfaltadepueblo kramte in seinen Jackentaschen und zog schließlich mit seinem Tabak ein stark mitgenommenes Couvert aus der Hose. Es war noch ungeöffnet. Ein Novum.
Normalerweise rannte er jeden Morgen runter zur Rezeption und fragte den Concierge, ob Post für ihn gekommen sei. Meistens war dies der Fall, aber es gab Tage, an denen der Empfangschef nur bedauernd mit den Achseln zuckte. Das waren die seltenen Momente, in denen Mokkapan seinen Status als Großschriftsteller -eine Bezeichnung die er, wenn überhaupt, mit äußerster Skepsis zur Kenntnis nahm; die meisten dieser Sorte waren alte degenerierte selbstverliebte Säcke, die außer daß sie mal etwas zu sagen hatten, nichts mehr zu sagen hatten- ausspielte und die Hotelbar nötigte, so lange geöffnet zu bleiben, bis ein Kellner ihm durch ein kurzes Nicken signalisierte, daß wenigstens ein Fax angekommen war. Blieb das Nicken aus, ging Mokkapan in die Stadt und trank weiter bis im Dämmerlicht des Morgens seine Panik allmählich verschwand.
Sie hatten lange und oft darüber gestritten, ob sie nicht doch telefonieren sollten. Aber letztendlich setzte er sich durch, und sie vereinbarten absolutes Telefonverbot; Krankheit, Geburt und Todesfall mit eingeschlossen. Er haßte den Austausch verbaler Umarmungen, die trocken gehauchten Küsse, die halb erpreßten Liebesschwüre und das Betteln um baldige Wiederkehr. Als sie noch frisch verliebt waren und er sich außer Stande sah, ihr irgendeine Bitte oder einen Wunsch, und seien sie noch so verrückt und durchgeknallt, abzuschlagen, hatte er sich noch, wider besseren Wissens, auf solche Telefonate eingelassen. Das Resultat waren immer wieder schmollende Gekränktheit und, nach Beendigung des Gesprächs, leere Traurigkeit; auf beiden Seiten. Natürlich schrieb sie auch in ihren Briefen, wie sehr sie ihn vermisse. Das aber schmeichelte ihm. Ihre Sehnsucht auf Papier festgehalten zu haben, um sie dann, je nach Stimmung , zu seiner eigenen zu machen. Da er sie liebte, fiel ihm das nicht sonderlich schwer.
Leichtes Scheppern kündigte das Kommen des Servicewagens an und Mokkapan stand auf, öffnete die Abteiltür und wartete.
"...der ihm jetzt nichts sagte/außer daß das Fernweh/plötzlich wiederkam/und das Heimweh/riesengroß wurde..."
Er bestellte sich doch einen Kaffee, kaufte sich aber vorsichtshalber noch ein Baguette dazu. Während er es -nicht nur des Preises wegen- angewidert und schnell aß, um den Kaffee trinken zu können, fiel ihm auf, daß es draußen hell geworden war und für einen Augenblick erstarrte er.
Sie hatten das Rheintal erreicht. Die Hügel der Weinberge zogen im klaren Licht der Morgensonne badend an ihm vorbei, und er konnte sich nicht satt sehen an dem kräftigen Grün der Wiesen, das langsam durch den nassen Tau zu schimmern begann. Unmittelbar neben den Gleisen mäanderte breit und mächtig der Rhein in trügerischer Gemächlichkeit durch das kleine Paradies. Und auf ihm funkelten und glitzerten kleine Wellen, und Mokkapan bekam eine unbändige Lust in sie einzutauchen und zu schwimmen. Er drehte sich um, betrachtete kurz die Notbremse und für einen Moment war er in Versuchung sie einfach zu ziehen, auszusteigen und baden zu gehen. Aber er ließ es bleiben und haßte sich dafür. Etwas geknickt, setzte er sich hin, drehte sich eine Zigarette und begann zu lesen.
Es war, wie alle zuvor, ein schöner Brief. Mehrere Seiten lang, geschrieben mit kleiner Handschrift und königsblauer Tinte; Mokkapan hatte sich einmal beschwert, daß schwarzer Tinte so etwas morbides anhafte, den nächsten schrieb sie dann in rosa.
Außer dem Umstand, daß es ein Brief von ihr war, eine lebendige Collage ermordeter Worte, war nichts ungewöhnliches an ihm. Und doch legte Mokkapan ihn nach einigen Minuten nachdenklich aus der Hand. Irgend etwas stimmte nicht. Er las noch mal von vorne, aber es blieb dabei, daß er nichts auffälliges entdecken konnte. Du bist ein Idiot Porfaltadepueblo, dachte Mokkapan, wenn es jemanden gibt, der dich liebt, außer dir selbst, dann sie.
Dabei sah es anfänglich gar nicht danach aus. Nach einer, besonders seinen Freunden, unendlich lang erscheinenden Phase der Resignation und Agonie, feierte Mokkapan seine ersten Erfolge und sein ganzer angestauter Haß begann sich wahllos auf seine Umgebung zu entladen. Er fing morgens an zu trinken, lief sich selbst zitierend durch die Straßen und schlug denen die versuchten seinem herausfordernden Blick stand zu halten, die Faust ins Gesicht. Dann gab er den Leuten Geld - vermutlich der Umstand dem es geschuldet war, daß es, bis auf ein Mal, nie zu einer Anzeige kam -, einen handsignierten Gedichtband, bedankte sich für die ihm geschenkte Aufmerksamkeit und ging, wenn es nicht noch zu einem netten Gespräch kam, weiter, bis er irgendwo versackte.
Aus solch einer Stimmung heraus resultierte denn auch Mokkapans Begegnung mit Peri und seine rechte Backe wurde der erste gemeinsame Berührungspunkt zwischen ihm und ihr. Er kotzte ihr in einer Kneipe in einem Anfall von größenwahnsinnigem Fatalismus auf den Schoß. Laut Bukowski hätte das die Ouvertuere zu einem gigantischen Fick sein müssen, also ?periculum in mora- bot er ihr an, sie und ihr Kleid höchstpersönlich in seiner Badewanne zu reinigen. Eine Ehre, wie er hinzufügte, die er nicht jeder Proseccoschlampe angedeihen lasse. Peri, die bei der Erwähnung des Getränks einen unversöhnlich verachtenden Haß in Mokkapans Augen aufblitzen sah, verpaßte ihm daraufhin -obwohl sie seinen Bourgeoisieekel teilte, was seine Bemerkung allerdings um so verletzender für sie machte- eine solch schallende Ohrfeige, daß ihm das Trommelfell platzte und verließ unter dem grölenden Applaus der übrigen Gäste das Lokal. Es sollte sehr lange dauern bis er sie wiedersah.
"...auf der Suche/nach irgend jemand/der ihm zuhört/und doch nicht zu nahe kommt..."
Schmunzelnd legte Mokkapan den Brief beiseite, öffnete das Fenster und steckte den Kopf raus. Die Luft war herrlich würzig und er konnte das Wasser riechen und freute sich darüber. Seltsam, dachte er. Es war noch gar nicht so lange her, da waren ihm diese elementaren Kleinigkeiten plötzlich gleichgültig geworden. Er nahm sie nicht mehr wahr, dabei wußte er tief im Innern, daß sie mal einen wesentlichen Teil seiner selbst ausmachten. Aber er hatte einfach den Sinn für sie verloren. Überhaupt hatte er den Sinn für alles verloren. In Amsterdam fing es an. Vorher hatte er noch versucht am Meer etwas zu finden von dem er glaubte, daß er es liebte, es dann aber gründlichst zertrümmert. Sie hängte sich auf und er wußte, daß sie es tun würde. Er aber lief tage- und nächtelang schlaflos die Grachten entlang, bis er begann zu halluzinieren und auf einmal vermeinte zu wissen, warum er so ein egozentrisches Arschloch war. Dann brach er zusammen.
Porfaltadepueblo schaute gähnend auf die Uhr. Einige Stunden Fahrt lagen noch vor ihm und eigentlich hatte er keine Lust sie grübelnd zu verbringen. Er konstatierte jedoch, daß er über die Zeit in der er im Sarg lag, noch nie versucht hatte ernsthaft nachzudenken. Dabei dauerte es über zwei Jahr, bis ihn endlich eine der Wellen erwischte, die einige Menschen schlagartig mit ungeheurer Leichtigkeit durchs Leben tragen. Eine rauschhafte Leichtigkeit deren Haken allerdings darin bestand, erst recht keinen Boden unter den Füßen zu haben. Zwei seiner besten Freunde brach solch eine Welle das Genick noch bevor sie an Land gespült wurden um dort im Irrenhaus zu stranden. Ein anderer nahm den alten Spruch, man solle gehen, wenn es am schönsten ist, wörtlich. In seinem Abschiedsbrief erklärte er sehr plausibel, wie schwachsinnig es im Grunde genommen sei, zurück in den Alltag zu fallen, in der vagen Annahme, die nächste Flut werde noch größer. Vorausgesetzt, sie komme überhaupt. Scherzbold der er war, ertränkte er sich und verdonnerte Mokkapan testamentarisch dazu, ihm zu Ehren eine riesige Strandparty zu geben. Im Winter. An der Nordsee. Die Party fand statt.
Draußen zogen Burgen und Schlösser vorbei, teils noch vollständig erhalten, teils nur noch bizarre Ruinen. Schade, dachte Mokkapan, den Rolandsbogen und Kloster Nonnenwerth hatte sie schon hinter sich gelassen. Er erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge unendlich oft die Sage vom tapferen Ritter Roland und seiner tragischen Liebe zu Hildegunde gelesen hatte. Ihm wollte nie in den Kopf, warum ein solch grandioser Recke, der alleine ganze Heerscharen der Sarazenen niedermetzelte, nicht einfach auf sein Roß gesprungen war, runter zum Rhein galoppierte, zum Kloster übersetzte um seine darin verrottende Geliebte aus ihrem zölibatären Kerker rauszuhauen. Mit ein paar Nonnen hätte er doch fertig werden müssen. Statt dessen,"...fand ihn sein getreuer Diener eines Morgens tot und mit gebrochenem Herzen unter dem Bogenfenster sitzend, den Blick auf die im Tal liegende Klosterinsel gerichtet, auf der er so nah und doch so unerreichbar die Geliebte wußte...". Mokkapan begann damals schon zu dämmern, daß das mit der sagenhaften Liebe so eine Sache sein mußte. Ach ja, Gott spielte darin auch eine gewichtige Rolle; aber das Thema war durch.
Als er aus Amsterdam zurückkam, war er ein Wrack. Er sprach mit niemandem mehr, zog sich in seine Wohnung zurück und wollte sterben. Regungslos hockte er Stunde um Stunde vor dem Fernseher, bis er irgendwann wegdämmerte in der Hoffnung, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Aber er wachte wieder auf. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Außer dem Gefühl der Jämmerlichkeit, Nichts. Absolut Nichts. Nicht mal Zorn über die eigene Feigheit; nur Ekel. Jeder Versuch sich zu betrinken scheiterte an der Angst vor der bereits ertränkten Wut und ihrer Auferstehung als rasender Wahnsinn.
Mokkapan schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand schon ziemlich hoch und ihm bot sich ein langweiliges Panorama. Zwar war die Landschaft immer noch reizvoll, aber das Mittagslicht überzog alles mit einer trägen Starre und kein einziges Lüftchen wehte. Selbst der Fahrtwind traf auf keine Bäume oder Sträucher, die er hätte zum Tanzen bringen können.
Irgendwann begann Porfaltadepublo dann wieder zu arbeiten. Weil ans Schreiben nicht zu denken war -er hatte einen ganzen Tag, der einzige Tag in den zwei Jahren an dem er weinte, dafür gebraucht einen simplen Geburtstagsguß zu formulieren, da er das Wort herzlich nicht mehr zu Papier brachte und schließlich wie ein Analphabet jeden einzelnen Buchstaben aus dem Gedächtnis abgemalt- suchte er sich einen Fabrikjob und übernahm so viele Schichten wie möglich, mit dem Ziel einfach dadurch umzukippen. Aber es war lächerlich. Er war Mitte zwanzig und natürlich kippte er nicht um. Später einmal überlegte er sich, ob es möglich war, durch bloße Willenskraft dem Körper zu befehlen seine Funktionen einzustellen, jedoch war es da nur noch rein wissenschaftliches Interesse. Die Welle erwischte ihn, als er nach einer Lesung in einer Bar einen Mojito trank. Serviert von Peri.
"...fand er den Mond/ und sein silbernes Spiegelbild/ in jedem Wasserloch/ in jeder Pfütze"
Der Zug hielt und Mokkapan wachte auf. Mainz HBF, die ewige Baustelle. Vor einem knappen Monat hatte er in dieser Stadt Tumulte ausgelöst als er auf einer Podiumsdiskussion zu den Ursachen und Konsequenzen anläßlich eines sich kürzlich ereigneten Amoklaufs eines erfurter Schülers, seinen Beitrag mit dem Satz einleitete: "Wir geben zu, wir können ihn verstehen; und dies ist, neben der Last, auch eine Gabe..."
Der Mainzer Stadtrat erkannte ihm daraufhin auf Druck der Konrad-Adenauer-Stiftung den Stadtschreiber-Preis ab und die damit verbundene Würde ein Jahr in einem Turm zu hocken wurde zur nicht anzutretenden Bürde.
Allerdings traten die Veranstalter des Open-Ohr-Festivals an ihn heran und luden ihn ein, seine Thesen bei ihnen weiter auszuführen. Mokkapan der sich riesig über diese Einladung freute, sagte sofort zu. Denn insgeheim stellte sie eine große Genugtuung für ihn dar.
In jungen Jahren hatte man ihn einmal wegen einer angeblich schweren Alkoholvergiftung vom Gelände abtransportieren lassen und als er dann aus seinem vermeintlichen Koma erwachte, fand er sich auf einer Krankenbahre liegend im Flur einer Notaufnahme wieder und sein Kopf lag im Schoß einer Frau die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hockte mit auf der Bahre und streichelte ihm mit eitrigen Fingern, insgesamt hatte sie noch sechseinhalb, mechanisch durchs Haar während sich aus ihrem zahnlosen Mund in einem skurrilen Dialekt unverständliche Sätze buchstäblich über sein Gesicht ergossen. Dabei starrte sie ihn aus zwei Augen an in denen eine Leere herrschte die Mokkapan für einen Moment paralysierte und die er später selbst in den Augen von Toten nicht wiederfand. Da er noch nie mit einer offensichtlich Verrückten gefickt hatte, sah Mokkapan es als seine Pflicht an, die sich ihm bietende Möglichkeit seinen Erfahrungsschatz zu erweitern, auch zu nutzen. Und tatsächlich begleitete sie ihn widerstandslos mit auf die Toilette. Unerwarteterweise waren die Reste ihres Körpers an dem sie die Kunst des Scarings zur Perfektion getrieben hatte, durchaus in der Lage ihm soetwas wie menschliche Wärme zu vermitteln und ebenso unerwartet bekam auch sie einen Orgasmus. Daß ihr Schreien dabei, sowie das vorangegangene, weniger Ausdruck der Lust war, als vielmehr die Folge ungeheurer Schmerzen die ihr der Akt aufgrund einer um die Nadeleinstiche an sämtlichen Gelenken aufgetretenen Periarthritis bereitete, konnte er allerdings nicht wissen. Zum Abschied gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und besaß auch immerhin soviel Feingefühl ihr nicht noch viel Glück zu wünschen und dann verließ er das Klo und das Krankenhaus.
Am darauffolgenden Tag las er in der Zeitung, daß sie für immer in dem Klo geblieben war und das Professor Bornemann, der Sexualforscher des Landes und vehementer Verfechter sexueller Freizügigkeit, nicht zu dem Thema "Liebe, Lust und Leidenschaft" auf dem Open-Ohr gesprochen hatte. Professor Bornemann hatte sich vergiftet. Seine über ein halbes Jahrhundert jüngere Freundin war wohl auch seine beste Schülerin gewesen und hatte ihn einen Tag nach seinem achtzigsten Geburtstag und neunjähriger Beziehung verlassen, was er einfach nicht mehr ertrug. Es war kein schöner Tag für Mokkapan, der schlagartig um eine Illusion ärmer und einen toten Ernest reicher war. Sein Portemonnaie war auch verschwunden und damit seine Festivaldauerkarte. Äußerst frustriert beschloß er nach Hause zu trampen, was er wiederum bitterlich bereute als sich herausstellte, daß der Paketdienstfahrer der ihn schließlich, gegen jede Vorschrift wie er nicht oft genug betonen konnte, mitnahm, ein dumpfer Rassist war. Darüber hinaus hatte auch der Krankenhausaufenthalt noch ein pekuniäres Nachspiel gehabt. Die Mainzer Malteser schickten Porfaltadepueblo, der zu der Zeit nicht krankenversichert war, eine gesalzene Rechnung für Notarzteinsatz und Krankenhausbehandlung und das ganze endete mit einem Offenbarungseid vor dem Amtsgericht.
Mokkapan konnte es sich nicht verkneifen für sein Kommen eine Gage zu verlangen, die exakt der damaligen Rechnungssumme entsprach. Den Betrag spendete er dann anonym an eine Fixerstube.
"...was soll er tun wenn der Damm bricht/wohin wird ihn die Druckwelle treiben/seit Tagen irrt er durch die Archive/und kann nicht mal eine Postkarte schreiben..."
Mokkapan, dem die Vorstellung mit Peri Arm in Arm, die unwiederbringliche Schönheit des Moments genießend, in seligem Weinrausch über das Zitadellengelände zu torkeln, den Glanz vollkommenen Glücks aufs Gesicht zauberte, war gerade im Begriff wieder wegzudämmern, als über die Bordlautsprecher ein Personenschaden vermeldet wurde. Sofort war er hellwach und überlegte, was er jetzt tun sollte. Erfahrungsgemäß dauerte es einige Stunden bis man den entscheidende blutigen Fetzen fand der Klarheit darüber verschaffte, wer sich da so eindrucksvoll für das Geschenk gelebt zu haben bedankt hatte. Mokkapan beschloß auszusteigen, lief eine Weile an den Waggons entlang, setze sich auf eine Bank und betrachtete den langgezogenen roten Streifen der den Zug zierte. Der Glanz erwartungsvoller Erinnerung in seinem Gesicht wich einem Ausdruck tiefer Bitterkeit.
Was haderst du mit dir Porfaltadepueblo, ging es ihm durch den Kopf, du hast dich nun Mal entschieden diese Option erst ab einem bestimmten Alter konsequent für dich in Erwägung zu ziehen. Ein Beschluß der grundsätzlich eine enorm beruhigende Wirkung auf ihn ausübte. Selbstmord als freiwillige Versöhnung mit der Unfreiwilligkeit der Geburt. Ein großer Frieden verbarg sich für ihn hinter diesem Gedanken und er war sich absolut sicher, bis zum anvisierten Zeitpunkt den nötigen Grad an innerer Kälte sich selbst gegenüber entwickelt zu haben der zwingend nötig war, diesen Schritt zu gehen. Kälte aus der sachlichen Erkenntnis heraus, daß man egal war. Bestenfalls eine witzige Komponente im Lauf der Dinge der nirgendwo hinführte. Wenn man aufhörte sich zum Sklaven der daraus resultierenden und stets rückwärts gewandten Sentimentalitäten, die daran nichts, so rein gar nichts änderten, zu machen, mußte es ein leichtes sein zu gehen.
Andererseits, und daher rührte sein Anflug von Bitterkeit, wußte er genau, wie schmerzhaft, unabsehbar in seiner Dauer und Intensität, das bis dahin Erlebte noch sein würde und welchen ungeheuren Kraftanstrengungen es noch bedurfte, sich immer wieder selbst aus der Scheiße zu ziehen. Denn das gehörte zu seinen heiligen vier Gesetzen: Niemals einen Therapeuten konsultieren; niemals aus sexueller Not heraus zu einer Hure gehen; niemals in eine Religion flüchten; niemals in einer Krise selbst Suizid begehen. Mokkapans größte Hoffnung war es Herr über sich selbst zu bleiben. Physisch und psychisch in der Lage zu sein, sich an seine Gesetze halten zu können die sonst niemanden betrafen und die es doch stets aufs neue zu rechtfertigen galt. Gerade hatte er über einen Gefolterten gelesen, der, so zerschunden, daß er keine Kraft mehr hatten seinen Kopf gegen eine Wand zu schlagen um ihn zum platzen zu bringen und somit seinen Schmerzen und der panischen Angst vor neuen, noch grausameren Torturen ein Ende zu bereiten, seine Mitgefangene anflehte, ihm die Adern aufzubeißen, was er selbst nicht mehr konnten, weil man ihm alle Zähne einzeln rausgebrochen hatte. Weil er sich weigerte etwas zu verraten. Weil es etwas war, woran er glaubte; weil es etwas war, was ihn lieben ließ.
In diesem kurzen Absatz aus einem zutiefst ehrlichen Buch, drückte sich für Mokkapan die ganze Perversität menschlicher Existenz aus. Das, was einer seiner Kollegen als das Absurde bezeichnete und dem man sich um seiner selbst willen, als Mensch, entgegenstellen müsse, statt sich vom Acker zu machen. Quasi eine Philosophie der Arroganz dem Absurden gegenüber, wie Porfaltadepueblo es für sich nannte. Leider, und das bedauerte Mokkapan sehr, war dieser Kollege viel zu früh durch einen Autounfall ums Leben gekommen und somit den Beweis schuldig geblieben, wie lange er tatsächlich bereit gewesen wäre, den Stein glücklich immer wieder nach oben zu rollen.
Da ist auch noch dieses diffuse Grundgefühl, über das ich so gern mit dir geredet hätte du algerischer Tänzer. Dieses diffuse Grundgefühl beherrscht zu werden von Normen und Werten, die einen anonymisierten Anspruch an einen stellen; zwecks Bewahrung eines Systems...anonym, weil sie für alle gelten; kein wirkliches Interesse, kein wirklicher Bedarf in die Einsicht des einzelnen besteht...ich als Individuum verschwinde dahinter; ich als Person...als Mensch in all meiner Zwiespältigkeit. Von Geburt an bin ich Sklave irgendeiner Idee; käm ich denn wirklich von allein darauf ein guter, ein funktionierender Mensch sein zu wollen...
Mal beherrscht dieses System verdeckter, so wie jetzt; stellt sich scheinbar zur Wahl, was es um so vieles mächtiger macht, weil es mir vermeintlich dient...was kann daran angreifbar sein...mal herrscht es offen brutal, wie bei dem Gefolterten...
"...und er will einfach nur weg doch es macht keinen Sinn/denn auch da draußen kommt er nirgendwo hin..."
Reisende hasteten in den Zug und Mokkapan folgte ihnen. Sein Abteil war besetzt und da er nicht reserviert hatte, blieb ihm nichts anderes übrig als sein Gepäck zu nehmen und sich auf die Suche nach einem freien Platz zu machen. Schließlich fand er im Großraumwagen noch einen Fensterplatz, direkt hinter einer Vierersitzgruppe die von einer Mutter und ihren drei Kindern belegt war. Das älteste, ein Junge, war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Nach einer Weile drosselte der Zug seine Geschwindigkeit wieder und Mokkapan wunderte sich über die Stille die plötzlich eingetreten war. Er schaute auf und stellte fest, daß nahezu alle Passagiere aus den Fenstern der anderen Gangseite starrten. "Guck mal Mami, da liegt das Arschloch, warum wir so spät zum Papa kommen!" Es war der Junge. Angewidert von dem darauf folgenden Gelächter und anerkennenden Nicken seiner Mitreisenden ging Mokkapan ins Restaurantabteil und bestellte sich ein Bier. Er trank es hastig aus, bestellte noch eins, das er ebenfalls runterstürzte und er verspürte große Lust, sich hemmungslos zu betrinken und sich so für einige Zeit völlig aus der Welt des allgemeinen Denkens zu katapultieren. Einzig der Gedanke an Peri hielt ihn davon ab. Er wollte ihr nüchtern begegnen.
Überhaupt hatte er es bisher vermieden in ihrer Gegenwart zu trinken, es sei denn, sie trank auch, was allerdings selten vorkam. In seinen vorangegangenen Beziehungen hatte Alkohol immer eine wichtige Rolle gespielt. Rausch als Konsens für gemeinsam Erlebtes. Rausch als das eigentlich Sinnliche; losgelöst vom Gegenüber. Ausbleiben des Rausches im nüchternen Zustand als Grund sich zu trennen.
Warum sich dieses Muster mit Peri nicht wiederholte, wußte Mokkapan auch nicht. Nur, daß er dafür dankbar war. Dankbar, daß er nach all der Zeit, kurz vor einem Wiedersehen, immer noch die Kontrolle über sich verlor. Daß er zu zittern anfing, feuchte Hände bekam, sich seine Kehle zuschnürte, er das Gefühl hatte, schlucken und schlucken zu müssen um nicht an sich selbst zu ertrinken. Daß Peri ihn immer wieder mit ihrem Lächeln erlöste. Dem simplen Lächeln zweier Augen, und doch eine Umarmung, eine bedingungslose Bestätigung seiner Person in ihrer Welt.
Schon schizophren, dachte Mokkapan. Da gibst du dir die größte Mühe all deine Figuren als Kronzeugen gegen die Liebe auftreten zu lassen, bist felsenfest davon überzeugt, wenn du sie an ihr scheitern läßt, aber dir selbst gestattest du dieses Experiment immer wieder und kostest es auch noch aus nach allen Regeln der Kunst. Vielleicht hat Peri doch Recht, wenn sie meint, daß es auf Dauer zu anstrengend ist, die Seele angezogen zu lassen, wenn man nackt neben einem liegt.
Regentropfen rannen waagerecht die Fensterscheiben entlang. Porfaltadepueblos Blick wanderte über die Landschaft. Durch ein Loch in der Wolkendecke fiel ein gleißender Sonnenstrahl auf ein kleines Dorf und tauchte es in ein unwirkliches, magisches Licht erhabener Schönheit.
"...die Zeit hat genug zu tun/mit den Wunden der anderen/und es kann eine Ewigkeit dauern/bis du dran kommst..."
Das Zittern begann kurz hinter Karlsruhe. Mokkapan saß jetzt als einziger im Speisewagen und rauchte nervös eine Zigarette nach der anderen. Als er die ersten Häuser Freiburgs erkannte stand er auf und ging zum Ausgang. Eine letzte Durchsage, der Zug kam zum Stehen und mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür. Mokkapan stieg aus. Warme Spätnachmittagssonne schien ihm ins Gesicht, die Luft roch noch frisch nach Regen und er atmete tief durch und war glücklich. Er schaute sich um. Peri stand ein paar Waggons weiter und einen Bogen machend, ging er von hinten auf sie zu, bis sie, den Rücken zu ihm, vor ihm stand. Eingetaucht in Licht, regungslos, schön. Endlich, dachte Mokkapan.
Dann sah er im verspiegelten Glas ihr Gesicht und ein Grauen, intensiver als er es jemals gespürt hatte, durchschmetterte ihn. Instinktiv kehrte er um. Wortlos, wortleer.