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Merkwürdige Berufe
Merkwürdige Berufe
Früher war das Fahren im Aufzug ein feierlicher Moment.
Heutzutage, da die Menschheit es gelernt hat, intuitiv selbst die verrücktesten Tastaturgebilde zu ergründen und in Bruchteilen von Sekunden zweckentsprechend zu bedienen, ist das Benutzen eines Fahrstuhls, diese geradezu entfremdende Art der vertikalen Fortbewegung, erstaunlicherweise völlig normal. Würdigung für das Vorhandensein und Funktionieren eines Aufzugs findet in unserer Jetztwelt allerdings nicht mehr statt, obwohl die Zweckmäßigkeit Anlass für Huldigung böte. Im Gegenteil. Hektik bestimmt die Benutzung. Jede Sekunde Wartezeit wird mit Blick auf die Uhr abgestraft. Jeder zweite Halbwüchsige scheint darüber nachzudenken, ob er die Zeit bis zum Schließen der Tür mit einem Handyspiel abkürzt. Doch es gab bessere Zeiten für das unbeschwerte Überwinden unmenschlicher Höhen.
Fahrstuhlführer Walter trug stets seinen Anzug und machte aus dem Auf und Ab einen Akt der Erhabenheit. Er war nicht irgendwie abgestellt zum Fahrstuhlfahren. Nein, er wurde irgendwann berechtigt, eine komplexe Maschine zu bedienen, die fortan seinen Lebensmittelpunkt darstellte. Heutzutage würde wahrscheinlich über dem Bedienpult des Aufzugs ein eingerahmtes Zertifikat den Besucher suggerieren: ‘Oh, hier arbeitet ein geschulter, mit allen Wassern gewaschener, souveräner Fahrstuhlführer, der mir auch in den brenzligsten Situationen hilfreich zur Seite steht.’ Eingerahmte Zertifikate waren aber leider zu jener Zeit nicht üblich und so begnügten sich die Gäste mit der Tatsache, dass, wenn einer schon den ganzen Tag freiwillig im Aufzug fährt, dieser bestimmt in Ordnung ist und einen sicher von A nach B bringt. Ich esse ja üblicherweise auch am liebsten das Essen, welches sich ein Koch selbst genehmigt, dafür braucht er logischerweise keinen Stern an der Dunstabzugshaube.
Fahrstuhlführer Walter lebte wie der besagte Koch von seiner Wahrhaftigkeit und Präsenz, obwohl von Präsenz zu sprechen etwas übertrieben scheint, angesichts seiner spärlichen Maße in allen Dimensionen. Er war kurz, dünn und schmal.
Er sprach nie, wenn ich seinen Lift betrat. Nur beim Aussteigen nuschelte er sein „schönen Tag noch“, egal wie oft ich am Tag genötigt wurde, zwischen den vier Etagen unseres Kaufhauses zu pendeln. Er schien generell zu nuscheln oder zu brubbeln. Bewiesen wurde das allerdings nie, denn es gab keinen mir bekannten Menschen im Haus, der ihn jemals hat etwas anderes als „schönen Tag noch“ sagen hören.
Aber man konnte ihn sehen. Er war immer da, ich war mir völlig sicher, dass er eigentlich im Kaufhaus wohnte. Er war immer der Erste, aß viel eher als alle anderen in der Kantine sein Frühstück und pünktlich um 8:00 Uhr schloss er seinen Fahrstuhl auf.
Walter brauchte kein Geld. Die Kaufhausleitung hatte sich entschlossen, ihm praktisch fast nichts zu zahlen, da es in seinem Leben ein zänkisches Weibsstück geben sollte, das ihm alles sowieso wieder aus der Tasche gezogen hätte. Das klang vernünftig und logisch. Als Gegenleistung für seine Dienste erhielt er freies Essen in der Kantine und einige Mitarbeiterinnen übernahmen auf Geheiß eine Art Anzugpatenschaft. Walter bekam regelmäßig frisch gewaschene Anzüge. Damit sich niemand erschreckte, handelte es sich um ein und dasselbe Modell, offensichtlich ein beliebiger Überbestand vergangener Saisons. Walter fühlte sich wohl darin und das war wesentlich. Überhaupt war es wichtig, dass es ihm gut ging. Als Fahrstuhlführer ist man immerhin so etwas wie die Seele des Hauses. Ging es Walter gut, brummte das Geschäft.
Mittags schwiegen die Kassen mehrheitlich. Walter durfte essen gehen und das Prozedere war fast immer identisch. Walter schritt zur Essensausgabe, ließ sich ausführlich die Karte vorlesen und entschied sich dann doch für den Schweinebraten. Von seiner Wahl ließ er sich nur schwer abbringen. Aufläufe oder Suppen hätten ihm nicht die Kraft gegeben, weitere 7 Stunden stehend den Trubel der Passagiere zu verkraften. Ein Rinderbraten höchstens konnte ihn aus der Reserve locken, nicht jedoch Fisch, der war ihm zu leicht verdaulich und Hunger konnte er sich ebenso wenig erlauben wie Blasendruck, den eine zu dünne Suppe hervorzurufen im Stande wäre. Wie alle im Haus kannte die Kollegin am Tresen seine Vorlieben und hatte stets einen Teller mit seiner Lieblingsspeise in Reserve. Walter dankte es ihr mit einem wohlwollenden Lächeln und seinem „Schönen Tag noch“.
Seiner Wichtigkeit entsprechend hatte Walter seinen eigenen Tisch, gleich hinter der Getränkeausgabe am Fenster. Alle waren sich einig, dass es nichts bringen würde, ihn an einen lauten Tisch voll tratschender Verkäuferinnen zu platzieren. Er sagte ja sowieso nichts und war viel glücklicher, wenn sie ihn in Ruhe ließen, ungefähr 20 Minuten lang. Denn länger hielt es niemand aus so ganz ohne Fahrstuhlführer.
Walter lächelte sich dann immer an einem Pulk hektischer Kolleginnen vorbei, die sich trampelnd an ihren Gitterboxwagen festhielten und „Mensch Walter, das hat ja lange gedauert heute“ riefen.
Er entriegelte seinen Aufzug, marschierte hinein und nickte mit dem Kopf. Die Show ging weiter, bis zum Abend. Den Nachmittagskaffee brachte ihm immer ein Lehrling aus dem ersten Lehrjahr. Nachmittags war es Walter unmöglich, den Arbeitsplatz zu verlassen. Zu viele Mütter, zu viele Waren wollten bewegt werden und egal wie hektisch es auch war, egal wie viele erstaunte Kinderaugen zu ihm schauten, Walter beherrschte seinen Aufzug meisterlich. Er schaute immer in die Mitte zu den anderen Meschen. Blind bedienter er die Schalter, einfache Knöpfe gab es nicht. Der Fahrstuhl fuhr nur bei Betätigung der richtigen Kombination von Schaltern, Hebeln und Richtungsknöpfen. Dazu musste Walter wissen, in welcher Etage er sich gerade befand. War er ganz oben und wollte in den Keller, musste er zuerst festlegen, dass er nach unten wollte. Also drückte er einen großen Hebel nach unten. Und während er danach entschied, wie lange die Fahrt gehen soll, indem er den Knopf mit der 3 drückte, drehte er gleichzeitig mit der anderen Hand den Startschalter, der das Gefährt in Bewegung setzte. Dabei schaute er immer in die Mitte und lächelte weise. Die Tür wurde mit der Hand geöffnet und geschlossen. Das Öffnen und Schließen waren die einzigen Momente, in denen Walter nicht auf seine Passagiere aufpassen konnte und gerade an betriebsamen Tagen kam es in diesen Augenblicken der Unachtsamkeit zu Rangeleien. Entweder klemmte sich ein Kind ein, weil eine Verkäuferin ihre Gitterbox aus unerfindlichen Gründen hin und her schieben musste oder ein Kinderwagen fuhr völlig selbständig einem Techniker auf den Fuß, der mit einer schweren Leiter hantierend unterwegs war, eine der zahlreichen defekten Leuchtstoffröhren zu wechseln. Irgendetwas konnte in dieser kurzen Zeit immer passieren. Um Tumulte zu vermeiden, schaute Walter also wenigstens beim Fahren immer in die Mitte. Heutzutage drehen sich im Fahrkorb alle weg voneinander. Psychologen sagen, das sei normal, Walter würde darüber nur den Kopf schütteln.
Psychologen haben dann auch angefangen, Trennwände aus den Abteilungen herausreißen zu lassen und die Verkaufstresen zu verbannen, damit sich niemand eingeengt fühlt und beim Einkaufen keine andere Person direkt anschauen muss. Für Walter war diese Zeit des Umbruchs Schwerstarbeit. Den ganzen Tag wurden Möbel geschleppt, Wände geschoben und es wurde unangemessen laut geredet. Und die psychologisch geschulten Koordinatoren benahmen sich sowieso merkwürdig. Sie starrten die ganze Fahrt lang die Wand an. Und weil sie im Gegensatz zu mir und dem anderen Stammpersonal nie „Guten Tag“ sagten, wenn sie den Fahrstuhl betraten, hörte Walter auf zu nuscheln und sagte fortan überhaupt nichts mehr.
Die Wandstarrer wollten sogar wissen, ob er ein Konto hat, auf das sie den Lohn überweisen können. Wozu? In der Kantine hat er immer noch sein Essen bekommen, heimlich natürlich.
Und eines Tages, kurz nachdem der letzte Verkaufstresen fiel, bekam das Warenhaus einen neuen Namen. Walter sollte zu diesem Anlass einen besonders schönen Anzug anziehen und am Haupteingang Luftballons verteilen. Walter nickte seinem neuen Bereichsleiter freundlich zu, obwohl er sich fragte, wer denn statt seiner den Fahrstuhl bedienen sollte. „Wir versuchen testweise, den Personentransport über den neuen Panoramalift zu realisieren.“
Dass Walter nicht kam, war jedem klar, bis auf den Bereichsleiter. ‘Der hätte eigentlich wissen müssen, dass Walter nur den einen Anzug hatte’, dachten die Kolleginnen und sortierten weiter eifrig die neu eingetroffene Ware, während sich an der Nordseite die Kinderwagen stauten, um deren Besitzerinnen mittels Glasaufzugs in die 3. Etage zu verfrachten, wo die Schnäppchen lockten.
Da Walter auch die nächsten Tage nicht mehr erschien, wurde auch sein Fahrstuhl ersetzt, später, als der neue Fahrstuhl eingeweiht wurde, bekam das Kaufhaus gleich noch einen anderen Namen, es wurde noch ein paar Wände herausgerissen, die Kantine wurde zur Kundenlounge und irgendwie war der Umsatz im Arsch.
Neulich hab ich mich mit einer damaligen Kollegin unterhalten und wir kamen, den Grund weiß ich nicht mehr, auf Walter zu sprechen. Sie kam zu der Einsicht, dass es das Beste für ihn ist, dass es heute keine Fahrstuhlführer mehr gibt und dass er es bestimmt nicht verkraftet hätte, ständig mit „Mein Führer“ und „Zeig mal den Führerschein“ angesprochen zu werden. Ich hab es dann doch lieber vermieden zu erwähnen, dass Walter ja längst gestorben ist, wohl noch damals im Jahr des Umbaus. Woran wusste niemand, aber der Frau, mit der er lebte, vielleicht war es seine Schwester, manche sagten die Mutter, es kann aber auch die Partnerin gewesen sein, jedenfalls dieser Frau wurde großer Anteil am Tod zugesprochen.
Ende