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Mia
Das kleine Mädchen hob den Kopf. Er war schwer vom Weinen und vor Müdigkeit. Viele Menschen
waren vorbei gegangen. Keiner hatte etwas unternommen. Alle waren sie mit gesenktem Blick hastig
an ihr vorbei geeilt. Manche hatten auch bloß geschaut. Aber alle waren sie weiter gegangen. Hastig,
mit schnellen Schritten, als hinge ihr Leben davon ab. Als würde die Zeit so langsamer vergehen.
Das erinnerte sie an eine Geschichte, die ihre Mutter ihr Abends einmal vorgelesen hatte. „Alice im
Wunderland“, hieß diese. Darin war auch ein Hase vorgekommen, der eine große Taschenuhr bei sich
trug. Auch er war fortwährend in Eile gewesen.
Wieder liefen ein paar Tränen über das Gesicht des Mädchens. Eigentlich war sie zu müde zum
Weinen. Aber der Gedanke an ihre Mutter war einfach zu erdrückend.
Woher sie die Kraft nahm, den Kopf zu heben? Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern.
Aber sie hatte etwas gespürt. Es war wie eine Berührung gewesen. Weich, sanft und angenehm.
Schüchtern hob sie den Blick, als sie eine freundliche Stimme vernahm. Die Stimme war leise, aber
trotzdem klar und hell. „Weine nicht, denn ich bin jetzt bei dir.“ Verstört sah das Mädchen sich um,
konnte aber niemanden entdecken.
Langsam schien die Welt um sie herum zu verschwimmen. Die Gestalten wurden zu grauen Schemen
und die Straße verschwand. Selbst die harte, kalte Mauer ward angenehm. Das kleine Mädchen
fühlte, wie eine Welle der Erleichterung sie überkam und einfach mitschwemmte. Widerstandslos ließ
sie es geschehen. Als wäre sie an einem Ziel angekommen, welches sie so lange gesucht hatte. „Wie
heißt du?“, fragte die Stimme. Aber diesmal hatte sie ein Gesicht. Ein Wesen, das nicht von dieser
Welt zu kommen schien, trat auf sie zu. Mit großen Augen schaute das Kind dem schönen Geschöpf
entgegen. Es war, als würde es von innen aus sich heraus leuchten.
„Wer bist du?“, brachte es schließlich atemlos heraus. „Ich bin ein Engel. Ein Bote des Lichts. Und ich
bin gekommen um dir beizustehen.“, sagte das Wesen und wiederholte seine Frage. „Wie heißt du?“
„Mia“, antwortete das kleine Mädchen. „Wie gesagt bin ich gekommen, um dir beizustehen und dir zu
helfen. Ich kann dich erlösen, von der Angst und der Trauer die in dir ist.“
„Wie willst du das machen? Du kannst mir meine Eltern doch nicht wieder lebendig werden lassen.“
Mit einer Mischung aus Trauer und ein bisschen Hoffnung, sah Mia den Engel an. „Nein, das ist wohl
wahr. Zurückbringen kann ich dir deine Eltern nicht. Aber ich kann dich zu ihnen führen und dich von
all dem Leid erlösen. Doch wähle deine Entscheidung sorgsam, denn du hast nur ein Leben.“
Unsicher schaute Mia die Gestalt vor ihr an. „Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd.
„Ich will dir etwas zeigen“, sprach der Engel und legte dem kleinen Mädchen eine Hand auf den Kopf.
Bilder durchströmten Mia. Bilder aus ihrem Leben. Ihr Vater, ihre Mutter. Sie mit ihren Eltern auf
einem Spaziergang, beim Frühstücken, am Meer. Ein seliges Lächeln strich über ihr Gesicht. Der
Engel nahm seine Hand wieder von ihrem Kopf und sah sie an. Immer noch lächelnd sah Mia ihn an.
„Das war schön“, sagte sie. „Aber das war noch nicht alles.“ Wieder legte der Engel die Hand auf
den Kopf des Mädchens. Beide wussten, was nun kommen würde. „Nein!“, stöhnte sie leicht auf. Doch
die Bilder kamen. Ihr Vater, wie er blass und friedlich, wie ruhig schlafend, vor ihnen aufgebahrt lag.
Die grauen Tage danach. Das Gesicht ihrer Mutter. Bleich, müde und erschöpft. Das Krankenhaus.
Das blass gelbe Krankenzimmer. Ihre Mutter, ausgemergelt, grau im Gesicht. Die Augen geschlossen.
„Mama, Papa“, flüsterte das Mädchen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Der Engel zog sich leicht
zurück.
„Komm“, sprach er. Der Engel hielt ihr die Hand hin.
Mia stand langsam auf und griff nach der ihr angebotenen Hand.
Gemeinsam gingen sie auf das Licht zu.