Mike ist ausgeflogen
Mike ist ausgeflogen
Ich konnte ja nicht wissen, was das für Leute sind. Man hört Geschichten, aber was hat einer, wie ich, schon mit solchen Kreisen zu tun. Gerade habe ich einen Eintrag in meinem Mobiltelefon gefunden und gelöscht. Niemals dort angerufen, wenn ich mich recht erinnere. Nun ist es nicht mehr nötig.
Vor einigen Wochen klopfte es an meiner Zimmertüre. Dort standen zwei junge Männer, die sahen aus, wie Studenten aussehen.
„Hi! Sag mal, wohnt hier nicht der Mike?“
„Ich glaube kaum, das ist mein Zimmer.“
„Ach ja? Wohnst du schon lange hier?“
„Fünf Wochen ungefähr. Vorher hatte ich ein Zimmer da vorne.“
Ich deutete in die eine Richtung des Wohnheimflures.
„Dann kennst du den Mike bestimmt, das ist so ein langhaariger mit Tätowierungen. Schwarze Haare.“
„Ich kann mich nicht erinnern, Jemanden getroffen zu haben, der so aussieht. Ich bin ja auch noch nicht ewig hier. Tut mir leid.“
Sie verschwanden dankend.
Ein paar Minuten später schrieb ich meinen Namen auf einen Klebstreifen an der Tür, so etwas hatte ich bisher wohl vergessen. Schließlich hatte ich nicht allzuviele Bekannte hier in der Gegend und alle wünschenswerten Besucher wussten sowieso, wo ich wohnte. Vater Staat hatte mir nämlich vorgeschlagen, ich könnte meinen Zivildienst genau jetzt, genau in diesem Krankenhaus ableisten. Natürlich ein väterlicher Vorschlag, der mir keine Wahl ließ, als ihm nachzukommen. Daher hielt ich mich in dem Klinikum auf, arbeitete dort und wohnte dort.
Doch ich hegte keinen Groll gegen dieses Väterchen, denn es war eine angenehme Zeit, die mir erlaubte, viele Bekanntschaften zu pflegen; eine Zeit voller Müßiggang, Freude und Unsinn. Ich fragte mich, warum ich den Unbekannten Leuten an der Tür gerade eben so wahrheitsgemäß geantwortet hatte und nahm mir vor, das nächste Mal eine abenteuerliche Geschichte über Mike und die Fremdenlegion zu erfinden.
Einige Tage später klebte an meiner Zimmertüre die Visitenkarte eines Gerichtsvollziehers. Mir war klar, dass das eigentlich nicht mich betreffen konnte, denn mit Gerichtsverhandlungen hatte ich nichts am Hut; außerdem hatte ich keinerlei Schulden oder Ähnliches. Auf der Rückseite der papiernen Karte stand handschriftlich:
„Michael Ospel
bitte um Rückruf!“
Ich rief diesen Gerichtsvollzieher an und teilte ihm mit, dass die genannte Person nicht mehr hier wohne und ich auch keine Ahnung habe, wohin er gezogen sein könnte. Ich beschäftigte mich in den folgenden Wochen wieder ausschließlich mit meine Freundschaften und der Arbeit, denn schließlich war dies ein Krankenhaus, mein Interesse für hübsche Krankenschwestern groß und das für langhaarige, verschuldete Kerle eher gering.
Eines Abends hörte ich erneut Schläge gegen meine bedauernswerte Zimmertüre, obwohl sich keinerlei Besuch angekündigt hatte. Wieder standen dort junge Männer. „Diesmal sind sie zu dritt.“, dachte ich, doch es waren andere Leute, als letztes Mal. Dieses Trio war eher etwas heruntergekommen, dabei wirkten sie kräftiger, ernsthafter und weniger nett.
„Entschuldigung. Wir suchen Mike.“
„Ach, Mike. Da seid ihr leider zu spät dran. Der ist vorletzte Woche hier ausgezogen. Hab ihn noch gesehen. War völlig verzweifelt, der arme Kerl. Hatte wohl Schulden oder sonstige Probleme.“
„Wo ist er hin?“
„Genau kann ich es nicht sagen, aber er hat erzählt, er habe sich bei der Fremdenlegion gemeldet. Wollte von Kassel irgendwohin fliegen..“
„Willst du uns verarschen?“
Einer der böse dreinblickenden Männer kam ganz nah an mich heran und hätte wohl angefangen mich herumzuschubsen, wenn ein anderer ihn nicht am tätowierten Arm wieder zurück gezogen hätte.
„Ja entschuldigt. Das mit der Fremdenlegion war Unsinn. Ich kenne diesen Mike gar nicht, aber ich wohne jetzt schon seit zwei Monaten in diesem Zimmer.“
„Jetzt hör mal zu Kollege; wir haben Mike schon ne Weile nicht gesehn aber wir haben was sehr Wichtiges zu klären mit ihm. Du sagst uns Bescheid, wenn du etwas von ihm hörst!“
„Ja.“
Einer der Typen nickte dem Anderen zu.
„Gib ihm mal deine Nummer!“
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche. Telefonbuch. Neuer Eintrag.
„Die Nummer ist 016..“
„Ich brauche erst einen Namen!“
„Was willst du? Ja schreib der ähh..“ „..Dude. Ich bin der Dude.“
Ich speicherte Name und Nummer, woraufhin die Typen sich verabschiedeten.
Dann verflogen drei Tage. Ich lag des Nachts im Bett und war wohl gerade eingeschlafen. Ein dumpfes Pochen. Stein gegen Holz. Oder Stirn gegen Holz. Ich missbrauchte meine lange Winterjacke als Bademantel, schlappte an die Tür und öffnete langsam. Dort fiel ein Mann gerade rückwärts um, jedenfalls wäre er umgefallen, wenn ihn nicht die Wand des Flures gestützt hätte. Er trug einen grünen, zerissenen Fleecepullover, eine uralte Jeans mit dunklen Flecken und fettige, lange, schwarze Haare. Er stürzte sich auf mich:
„Was machst'n du in meinem Zimmer?“
Er war offensichtlich mehr als angetrunken.
„Das ist mein Zimmer, nicht deins! Und du hast mich geweckt, du Idiot! Wer bist du überhaupt?“
„Ich..“ „Ich bin der Mike. Hallo, wer bist du?“
„Mein Name steht an der Tür, wenn du das genau wissen willst.“
„Tobi..“
Er las laut vor, spuckte beim sprechen, las falsch und schwankte.
„Mensch, du kannst ja kaum noch stehen. Ich würd dich bitten nach Hause zu gehen; wär nicht gut, wenn du hier in den Flur vor meine Tür kotzt.“
„Ne, geht nicht. Die lassen mich net rein. Muss hier pennen.“
„In meinen Raum lasse ich dich sicher nicht. Warte mal, ich habe eine Idee.“
Ich schloss die Tür vor seiner der Nase, zog meine Schuhe an. Ich brachte ihn einen Flur höher in eine Art Abstellkammer, wo ein altes Sofa stand. Es war angenehm zu wissen, dass alle allgemein nutzbaren Räume diese Wohnheims von professionellen Putzkräften gesäubert wurden.
„Hier kannst du schlafen. Gute Nacht, Mike!“
Ich fiel, zurück in meinem Bett, sogleich in einen komaähnlichen Schlaf. Oder habe ich noch telefoniert? Ich kann es nicht mehr sagen. Ich glaube ich habe „Dude“ ausgewählt in meinem Mobiltelefon, aber niemand hat abgenommen. Jedenfalls habe ich gut geschlafen. Am nächten Morgen versprachen die Sonnenstrahlen einen schönen Samstag. Ich frühstückte und verbrachte einige Zeit des Vormittages mit Internetkorrespondenz. Wieder klopfte es an meiner Zimmertüre, aber es war ein freundliches Klopfen, zu einer freundlichen Zeit. Dort stand eine nette Krankenschwester, eine Freundin. Sie sagte:
„Hey Tobi. Hast du schon gehört, die Polizei ist da. Die befragen alle Leute. Da ist wohl so ein Penner im fünften Stock aus dem Fenster gesprungen.“