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Minas Prüfung
Langsam wie ein Planet dreht sich der Mann ohne Grenzen und seine dunkelviolette Welt um seine Mitte, die Tonia ist.
Komm, Tonia. Komm.
Ihre Mitte ist Tonia. Sie merkt, dass sie etwas in der Hand hält. Es ist eine Flasche mit der Aufschrift „Trink mich“. Mina blickt den Mann ohne Grenzen an.
Nimm es, Mina. Nimm es.
Mina umgibt ein Panorama aus Bildern. Sie sieht große Menschenmassen, die in seligem Einvernehmen beieinander sitzen. Sie hört laute Musik und viele Gesprächsfetzen und Hemmungen fallen.
„Nein. Ich nehme es nicht“, sagt sie.
Mit der gleichförmigen Geschwindigkeit eines Kinderkarussells dreht sich der Mann ohne Grenzen und seine dunkelviolette Welt um ihre Mitte, die Mina ist.
Komm zu mir, meine Geliebte.
Vor Mina hängt ein Keks in der Luft. Sie geht um ihn herum. Ein Schokoladenkeks mit Rosinen. Noch dampfend warm.
Nimm ihn, Mina.
Wieder verändert sich der dunkelviolette Himmel und zeigt ihr auf einmal eine Welt scheinbar ohne Hass. An manchen Stellen verdichtet sich das Dunkelviolett zu festen Flecken, die in Zungen langsam empor und hernieder steigen. Mina sehnt sich nach der Wärme, die von dem Keks ausgeht. Sie streckt ihre hellen Finger mit den gefeilten Nägeln danach aus …
Gut so, Mina.
… und zieht sie wieder zurück.
Der Mann ohne Grenzen schweigt. Mina schaut ihn an und sieht wie er seine Gestalt ändert.
So schnell wie ein rennendes Pferd dreht sich der Drache ohne Grenzen und seine Welt um seine Mitte, die Mina ist.
Seine Flügel sind auch in ihrer jetzigen Schlaffheit noch beeindruckend. Seinen Körper bedecken nur Ketten und ein Lendenschurz.
Nimm es, Mina.
In ihrer Hand ist auf einmal eine winzige, mit einer roten Flüssigkeit gefüllte Spritze. Sie blickt auf die gewaltigen Ketten des Drachen.
„Er ist ein Gefangener“, geht ihr die Stimme des Propheten durch den Kopf. Der Drache ohne Grenzen merkt es und lässt seine Welt sich umstülpen.
Frei sein, unendliche Freiheit. Nichts spielt eine Rolle in meinem Teil der Wirklichkeit. Alles was gesagt wurde, habe ich zerpflückt, alles was gemacht ist, wurde in meinem Kopf erdacht. Farben, Farben, so viele Farben und jede Farbe hat ihren Ton. Komm, komm, mein Engel aus Sternensilber. Sei Teil von mir, geh auf, lass dich fallen und fallen und fallen bevor es zu spät ist.
Rauschend wie ein Sturm dreht sich der Drache ohne Grenzen und seine
Farbe um seine Mitte, die Mina ist.
„Du läufst aus, Drache!“, schreit sie ihm entgegen. Er richtet seine Flügel zu ihrer vollen Größe auf. Das Dunkelviolett scheint sich an seinen Hörnerspitzen zu bündeln.
Steh auf, Menschenkind! Erhebe dich zum nächtlichen Reigen. Meine Farbe berührt und betört dich und dringt in dich ein!
Mina merkt erschrocken, dass sie sich verändert, genauso wie das Sein um sie herum. Es ist, als ob sie zerspringe, als ob die Farbe sie von innen her aufbreche.
„Ich hab dich mal geliebt, Drache!“, presst ihre Seele aus ihrem erstarrten Mund heraus, „Du warst mal anders!“
Und für einen kurzen Moment hält der Drache ein und alles erstarrt. Die drehende Welt kommt knirschend zum Stehen und die Farbe friert ein. Mina weiß, dass der Drache nachdenkt, wenn auch nur für die Dauer eines Lidschlags.
Mit der allgegenwärtigen Gleichzeitigkeit eines Blitzes fällt das Wesen ohne Grenzen und seine Farbe über Mina.
Rennt, ihr Nachtmahre! Rennt ihr Traumgeister!
Mina spürt den Geschmack von geronnenem Blut auf ihrer Zunge. In ihrer Hand liegt eine gelbe Pille. Sie ist das einzige, was Mina noch für wirklich hält.
Nur dahier ist Wahrheit, Mina, nur dahier! Zaudere nicht mehr! Nimm sie! Nimm sie!
Mina lässt sie fallen und verliert alle Hoffnung, doch sie rührt sich nicht von der Stelle.
Der Blitz wird noch einmal unerträglich hell und leuchtet gierig in ihr Innerstes, dann verschwindet er.
Mina atmet auf. Sie hat widerstanden.