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Mind-Maps
Mind-Maps
„Sprache ist eine Waffe.“
Kurt Tucholsky
„... ja ... ja ... na klar ... ja, ich weiß, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.“…
... doch sie glaubte ihm nicht ...
„Ja. Was? Ja, morgen. Mal sehen, wie´s wird. Ja ... war schön von dir zu hören. Ja. Du, ich muss Schluss machen ... nein, keine Frau. Ich will mit Mike ins Pub, ein Bierchen zischen. Eins. Ja ... klar, mach ich.“
... und sie hatte auch allen Grund dazu.
„Bye.“ Sie wollte noch etwas sagen, doch da hatte er schon aufgelegt.
Er lief.
Weite Flur unter stahlblauem Himmel. Der Geruch von Tinte.
Lachende Gesichter aus Strichen und Kreisen. Man sah auf ihn herab. Sengende Hitze, die der Kälte der Hölle wich ...
... und an diesen Stellen klingelte für gewöhnlich der Wecker und holte Josh in die Realität zurück.
Wie so oft erwartete er Stacey neben sich im Bett liegen zu sehen, zart und duftend, sich im Schlaf an ihn schmiegend, eine Umarmung, von der er nie genug bekommen konnte, doch die Stelle neben ihm war leer und kalt, wie der Schatten, der im Traum auf ihn gefallen war.
„Negative Gedankenströme.“
„Negative Ge ... was?“
„Gedankenströme. Negative. Die Sachen, die du denkst, sind alle scheiße. Alles nur Versuche jemand wehzutun.“
Josh Porter dachte darüber nach. Er nahm noch einen Schluck von seinem Bier, das mittlerweile schon das vierte war, und blickte Mike an.
Sie saßen im Pub und redeten wie immer über Gott und die Welt, doch wie auf mittelalterlichen Karten bestand Joshs Weltkarte aus Unmengen von weißen, unerforschten Flächen, in die er sich nicht vorwagte. Mikes scharfer Verstand und seine ungezügelte Zunge waren die Macheten, die den Urwald in Joshs Welt zugänglich machten.
Das machte Mike sozusagen zu Joshs Psychoanalytiker, mit dem Unterschied, dass sie sich nicht mit der Couchnummer abquälten, sondern mit Bar-Hockern Vorlieb nahmen.
„Mmh, negative Gehirnfickscheiße, also … hat so was nicht Jeder Mal?“
„Schon, aber damit muss man vorsichtig sein.“, antwortete Mike bedächtig.
„Es kommt alles zu einem zurück.“
Josh kratzte sich am Hinterkopf und sah ihn an wie ein Schaf.
„In Raten … oder auf einmal?“
Da musste Mike lachen.
„Verspotte mich ruhig, Unwissender. Ich weiß es besser. Aber macht ja nix. Nobody´s perfekt, not even you!“
„Haha, sehr komisch.“ Aber Josh grinste. Es tat so gut, reden zu können. Seit er und Stacey sich getrennt hatten (Na ja, sie hatte sich von ihm getrennt, doch die andere Variante hatte irgendwie ein besseres Timbre), war nicht mehr viel los mit ihm. Seine sozialen Kontakte zu pflegen, hieß in erster Linie „J.O.B.“ und irgendwann danach kamen dann seine immer seltener werdenden Treffen mit Mike. Vielleicht sollte er ein Buch über sein Leben schreiben, um nicht in Vergessenheit zu geraten … ?!
Josh betrachtete den Papierfetzen lange und las die Worte, die in unscharfen, schwarzen Lettern darauf gedruckt waren, mehrere Male, doch er konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf sie machen.
Er hatte das Telegramm in seiner Tagespost gefunden, die vor der Tür gelegen hatte als Josh die Wohnung verlassen wollte. Weder Wortlaut noch Betreffzeile gaben Aufschluss über den Absender des Schreibens.
„CONCERN: You - STOP – Some ... - STOP“, stand da geschrieben, anprangernd und unauslöschlich, als müsste einem der Sinn der Nachricht geradezu ins Gesicht springen.
Die Buchstaben waren tief in das Papier eingeprägt, sodass man sie auf der anderen Seite wie eine Art spiegelverkehrter Blindenschrift ertasten konnte.
Nachdenklich kratzte Josh sich am Hinterkopf, was er immer nur dann tat, wenn ihn etwas verwirrte und das war relativ selten der Fall.
Trieb vielleicht jemand einen Scherz mit ihm? Üblicherweise wurden Telegramme persönlich überreicht, sogar hier in Pitsfield, der ländlichsten und rückständigsten Region von Fallmouth. Dieses hier hatte sich jedoch zwischen Werbeprospekten und Mahnungen versteckt. Merkwürdig.
Nun, es war zu früh am Tag, um sich über Derlei den Kopf zu zerbrechen. Es war kurz nach halb acht, was bedeutete, dass Josh mal wieder ziemlich spät dran war. Und das gerade heute, an seinem großen Tag.
In nicht einmal einer halben Stunde musste er dem Aufsichtsrat den neuen Haushaltsplan, den er in unzähligen und scheinbar endlosen Überstunden ausgearbeitet, überprüft und wieder ausgebessert hatte, vorstellen.
Von diesem Ding hing seine Beförderung ab.
Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte waren missverständliche, sinnlose Worte, die seine Konzentration trübten, also knüllte er das Telegramm zusammen und warf es beim Verlassen des Hauses zusammen mit den Prospekten und den Mahnungen in einen Mülleimer.
Der Krieg der Amis im Irak war ein gutes Thema (Josh liebte es darüber zu reden). Es war Brennstoff für eine halbe Stunde Lagerfeuergeplauder. Dann war Fußball an der Reihe, (Mike liebte es darüber zu reden), doch es wurden nur ein paar Klafter Holz für ein winziges Feuerchen, zu kalt um sich daran zu wärmen. Die zweite Liga machte eben nicht viel her.
Schließlich kamen sie auf Josh und seinen Haushaltsplan zu sprechen. Die Vorbereitung, die Recherche, die Organisation, die Kalkulation und die Umsetzung, ganz zu schweigen vom A und O: der Präsentation.
Und dann viel dieses Wort: Mind-Maps.
Mike schlug es Josh als Methode vor, als Hilfe und Gedanken-Stütze beim Erstellen des Präsentationsablaufes.
„Ein scheußliches Wort“, meinte Josh nur dazu. „Scheußlich und überflüssig, wie dieses andere, wie ... war das noch ...?“
„Du meinst bestimmt Brainstorming“, kam ihm Mike auf die Sprünge.
„Ja, genau. Danke.“ Er hatte schon Einen zu viel, was man am immer stärker werdenden Lallen der Stimme hören konnte, doch das machte nichts. Hier konnte er so was tun, deshalb kam er ja her. „Also, ich nenn das mit dem „Mindmapping“ einfach „Notizen machen“ und das mit dem „Brainstorming“ nenn ich…„
Er dachte kurz nach.
„Na ja ... „Nachdenken“ eben, denke ich.“
Mike vertrat eine andere Ansicht (und beide liebten es NICHT einer Meinung zu sein, denn sie wussten sowohl den folgenden, freundschaftlichen Disput, als auch die inspirative Diskussion zu schätzen).
Mike war nun einmal erfolglos katholisch erzogen worden, und deshalb war er sowohl abergläubig als auch pragmatisch bis aufs Blut, sparte wie ein geiziger Witwer und glaubte an Legenden ebenso sehr wie an Fakten, so wie andere Menschen an Gott glaubten, an Armstrongs Mondspaziergang oder daran, dass Elvis Presley lebte und der Bürgermeister einer amerikanischen Kleinstadt namens „Rock´n´Roll-Heaven“ war, in der Otis Redding den Scherriff mimte und Janis Joplin Kirschkuchen verkaufte.
Für Mike waren seine Mind-Maps die Stationen seiner Gedankenreise durch sein Leben. Er orientierte sich an ihnen und konnte sich eigentlich auch gar nicht vorstellen, wie jemand ohne Erinnerungen, an das was er in seinem Leben gedacht hatte, leben konnte.
Josh sah das ganze Unternehmen, das das Leben für ihn war, etwas bürokratischer.
„Mir reicht es, wenn ich ungefähr weiß, in welche Richtung es geht. Ich stehe nicht so auf dieses spirituelle Zeug und so, weißt Du? Verstehst Du? Alles was ich brauche in meiner Branche ist: Or-ga-ni-sa-tion, Baby!“
„Aber das ist es doch, Mensch, die Inhalte der Mind-Maps sollen das Ganze doch nur organisieren, das Leben wie einen Zug in Bahnen lenken und in ihnen halten. Den Denkprozess am Leben erhalten. Und jetzt stell dir vor, du würdest dich beim Denken verfahren. Weiß der Himmel, wo du dann rauskommst.“
Der Tag war aufreibender gewesen als Josh es sich vorgestellt hatte. McNelly, der Firmenchef, hatte Joshs Entwürfe für den neuen Haushaltsplan schneller zerrissen, als einer der Winkeladvokaten, die den Aufsichtsrat bildeten, ihn sich hätte ansehen geschweige denn diskutieren können. Die weiteren Einzelheiten waren gar nicht erst zur Sprache gekommen. Schon im Anlauf war das Ganze phänomenal gescheitert.
„Wo kommen wir denn da hin, “ hatte McNelly losgewütet, „wenn wir die Protokolle von ungelernten, naseweisen Praktikantinnen schreiben lassen? In Teufels Küche kommen wir, Porter, in Teufels Küche!“
Das war, ohne Untertreibung, der unangefochtene Lieblingsausdruck von McNelly und Josh Porter fragte sich an diesem Tag ernsthaft, ob er nicht schon längst dort gelandet war.
Die Produktion schrieb schon seit geraumer Zeit rote Zahlen, doch das wollte McNelly, der selbstverliebte irische Bastard, natürlich nicht eingestehen. Josh war kein Mann der großen Beschönigungen und auch kein Fan von Schmeicheleien, also hatte er die Entwürfe verfasst, wie er alles andere zu tun pflegte: bedacht aber beherzt.
Zähneknirschend hatte McNelly Josh eine weitere Woche gewährt um die Sache „Firmenorientierten Interessen“ anzupassen, oder anders ausgedrückt, das Ganze so hinzubiegen und gegenzurechnen, dass er selbst gezwungen war den Schwanz, mit dem er auch in Zukunft noch zu wedeln gedachte, einzuziehen und am Besten nie mehr ganz auszupacken. War das Leben nicht schön?
Als er aus der U-Bahn gestiegen war, hatte es auch noch angefangen zu regnen. Die Köche in des Teufels Küche hatten ihn in ihren größten Topf geworfen und den Deckel zugeschweißt. Eine heiße Dusche und ein Glas Wein waren genau das, was Josh jetzt brauchte. Er war total fertig und fühlte sich, als hätte er einen Boxkampf verloren.
Das merkwürdige Telegramm hatte er längst vergessen, es jedoch ihn anscheinend nicht, denn er fand es an seiner Wohnungstür. Jemand musste es aus dem Mülleimer gefischt, entknittert und dort angebracht haben. Man sah dem Papierfetzen deutlich an, dass jemand versucht hatte eine Kugel daraus zu formen. Ein quaderförmiges Bullauge, das anklagend an seiner Tür klebte.
„CONCERN: You - STOP - thing... - STOP”.
Er lief.
Weite Flur unter stahlblauem Himmel.
Sand in seinen Schuhen.
Sengende Hitze. Josh hatte sich verirrt...weiß der Himmel, wo du dann rauskommst...er war am Ende seiner Kräfte, oder zumindest kurz davor. Da war etwas hinter ihm, etwas Böses, das seine Witterung aufgenommen hatte und ihn nun verfolgte.
Unerbittlich.
Er lief weiter und drehte dabei den Kopf, um es zu sehen, um zu wissen, wie es aussah. Ob es vielleicht Fangarme hatte oder Klauen, ob es gehörnt war oder ob es die schuppige Panzerhaut eines prähistorischen Dinosauriers hatte, ob die Augen glühten und Feuer spieen oder ob sein Haar aus Schlangen war ... es kommt alles zu dir zurück ... ob es alleine war oder ob die Gesichter der Strichmännchen auf ihn herabsahen.
Sein Atem ging pfeifend und entwich in weißen Nebelwolken. Die Luft war eisig kalt. Der Geruch von Tinte. Leere und weite Sicht wichen einer tödlichen Nacht, als es näher kam.
Ein Schatten, in dem nichts und niemand überleben würde ...
„Und was kann man tun, wenn einfach alles scheiße ist? Wenn man son negatives Gedankendingsbums hat?“
„Gedankenströme.“
„Wie auch immer.“
Mike dachte gar nicht allzu lange darüber nach.
„Positiv denken.“
Das war manchmal leichter gesagt als getan, das wussten sie Beide.
Das Leben war bisweilen ein undurch-dringlicher, Nervenzerreißender Schatten, in den nur hin und wieder ein Licht schien, und nicht eine helle Welt, in die vereinzelte Schatten fielen. Es war das genaue Gegenteil.
„Man erinnert sich bevorzugt an die Dinge, die falsch gelaufen sind, die …“, er suchte nach Worten und fand sie scheinbar in der rauchschwangeren Kneipen-Luft. „… die man hätte besser machen können, aber solche Gedanken sind Menschenfallen. Man darf sich nicht … auf sie einlassen … sind böse, weißt Du?“
„Na dann, werd ich mal das mit dem positiven Dings nehmen. Kommt das dann auch irgendwann zurück?“
„... schon, aber es hat weniger ... Gewicht.“
„Na toll.“
Die Worte waren eine aus dem Rahmen gefallene Pupille aus Druckerschwärze, die sich auf dem Zettel abzeichnete. Sie glotzten ihn dümmlich an und sagten zu ihm: „Los, wirf uns weg, wir kommen wieder, bis Du uns verstehst, so wie wir Dich verstehen.“
Ein Streich! Jemand verschaukelte ihn! Verärgert über so viel Dreistigkeit, riss Josh das Telegramm von der Tür und ließ es erneut in seiner Faust verschwinden, wie Houdini seine berühmten bunten Taschentücher.
Um ganz sicher zu gehen, dass es garantiert nicht mehr auftauchen würde, unternahm es eine sehr lange, schmutzige Reise hinab in die Tiefen der Pitsfielder Kanalisation. Die Toilettenspülung röhrte, klatschte Beifall.
Endlich hatte Josh Zeit sich ein Herz zu fassen und die erzwungene Kastration an seinem mühsam erarbeiteten Haushalts-plan vorzunehmen. Ein Gläschen Gewürztraminer ließ das Ganze etwas leichter von der Hand gehen.
„... nein. Nein wirklich, es geht mir gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
Stacey, die gute alte Stacey. Sie hatte ihn eiskalt erwischt. Schon seit drei Tagen arbeitete er an dem neuen Haushaltsplan und war von einem Gläschen längst zu einem Fläschchen übergegangen, so einfach und widerstandslos, dass er es kaum bemerkt hätte, wenn …
... ja, wenn Stacey ihn nicht mal wieder daran erinnert hätte.
„Ja, ich trinke gerade etwas ... es ist doch nur ein Glas Wein ... hast du eine Ahnung, wie stressig der ganze Scheiß hier sein kann? Der Vorstand ...“ ,er musste tief Luft holen, um das Bild einer schmatzenden Geierhorde zu verdrängen, „... sie haben meinen ersten Entwurf abgelehnt. Ja. Ach ... was weiß ich. McNelly hat rumgewütet und die anderen haben die Klappe gehalten, so wie immer. Eigentlich kein Wunder.“
Ein Schluck Wein. Lieber noch ein Schluck, diesmal ein größerer.
„Und jetzt habe ich eine Woche Galgenfrist bekommen und stehe bis zu den Knien in Kalkulationen und Statistiken. Tja, so sieht´s im Moment bei mir aus. Kein Glück im Spiel, kein Glück in der Liebe ... also wie immer eben.“
Er lauschte.
„Nein ...“, lachte er in den Telefonhörer, „... bei dir war das was Anderes, so hab ich das nicht gemeint ... ja ... ach, Stacey. Wenn du wüsstest ...“.
Das Lachen erstarb auf seinen Lippen. Seine Stimme krächzte, als er ihr antwortete. „Ja. Ich hab´s wieder geträumt ... ich weiß, was Dr. Shindlemann gesagt hat ... nein, das kommt nicht in Frage. Ich muss das ohne Hilfe schaffen. Ja, ich bin sicher ... irgendwann gehen diese Träume vorbei. Ja ...“ und wieder glaubte sie ihm nicht. „Ich verdränge nichts Vergrabenes, wie der Doc sagt ... ja, ich weiß, dass man Gedanken nicht wegsperren kann. Es ist alles in Ordnung. Ich schaffe das schon, ich hab ... nur ein bisschen viel Stress zur Zeit, nichts Aufregendes.“
Er glaubte sich ja nicht einmal selbst.
„Ja, mach ich.“ Einen Moment hörte er zu, schloss die Augen und sagte leise: „Ja, ich weiß. Ich dich auch ... war schön deine Stimme ...“, doch da hatte sie auch schon aufgelegt. „... zu hören.“
Sie mochten es. Alles. Das ganze verlogene Paket.
Lohnkürzungen in den unteren Berufs-Gruppen, wie Reinigungskräfte oder Liftboys. Die Köche waren ihr Geld wert, aber die Küchenjungs hatten eigentlich, trotz Gewerkschaft, nichts zu melden in der Firma, also konnte man bedenkenlos auch deren Löhne kürzen. Weiter gespart an Lehrgängen oder jedweden Zuschüssen an berufsbildenden oder -integrierenden Fortbildungsmaßnahmen und außerdem …
... es klopfte. Man drückte Josh einen zerknitterten Zettel in die Hand, der merkwürdig zu riechen schien.
Das Telegramm.
Wieder nur ein Wort.
Das Lächeln hielt, als er das Stück Papier betont lässig in die Hosentasche steckte und sich bemühte, aufrichtig interessiert den Ausführungen der Vize-Chefin zu folgen.
„Eine Landkarte? Jetzt mach mal nen Punkt, Mikey. Wir reden hier über GEDANGGN … Gedanken … nich über Autos.“
„Ich waiß jaa, aber das ist gar nich soo wait her. Das ist wie, als wenn du nach Texas fährst, da hast du Städte wo du durch musst um hinzukommen und da fährst du durch und kommst da an, wo du hinwillst. Musst eigentlich nur nachsehen, wo die Städte liegen, wo du durchmusst. Die Stationen, weißt du? Ich denke etwas, fühle etwas dabei und halte diesen Moment, die Idee dabei, fest, aufnem Zettel. Und das sind da dann meine Stationen, wo ich schon durch bin. Damit finde ich dann wieder zurück nach Hause.“
„Aber warum so geschwollen? Sag doch ganz einfach Zettel.“
Mit einem Peace-Zeichen bekundete er seinen Wunsch, noch eine Zweierrunde zu schmeißen, und der Wirt kam in die Gänge und zapfte die letzten zwei Budweiser des Abends.
„Ich meine aber eine Landkarte, waiißt Dhuuu? Für meine Gedanken. Eine Landkarte für den Gayst.“
Josh dachte schmunzelnd darüber nach. Er liebte es nicht nur über Kriege und deren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen zu reden, sondern hatte ebenfalls eine Vorliebe dafür, sich in hirnrissige Gedanken zu verbeißen.
„Und wassis, wenn jemand, den ich nich mag, meine Karte findet? Der würde mich dann doch auch finden, oder noch schlimmer: er könnte mir Werbung schicken!“
Der Nachhauseweg war nur ein Vorbeihuschen von Silhouetten und Schemen. Er schrieb es auf. Sie hatten ihn so sehr verletzt, es staute sich in ihm an, wie ein Gift, das ihn töten würde, wenn er es nicht loswurde. Ein kleiner Zettel genügte schon. Seit er das dritte Telegramm erhalten hatte, waren seine Gedanken unaufhörlich bei der Begebenheit auf dem Schulhof gewesen, so als hätte sich der ganze Vorfall gestern ereignet und nicht vor über drei Jahrzehnten. Mit seinem Füller schrieb er sich alles von der Seele, schrieb seinen Namen und den Namen dieses Dreckskerls, der ihn verprügelt hatte, mitten auf dem Hof, vor aller Augen. Damals ging es um ein Stück Papier und heute schien es wieder so zu sein. Er malte sich und den anderen, zwei unsauber gekritzelte Strichmännchen, von denen eins am Boden lag, während das andere auf es herabsah.
Josh kratzte sich am Hinterkopf. Das stehende Männchen war er selbst, das andere war dieser Scheißkerl Maximilian Harding, dessen Vater der reichste Sack der Gegend war. Um sie herum war eine Masse von Strichmännchen angedeutet. Die Gaffer, die ihn ausgelacht hatten. In seiner Tasche befand sich das Telegramm, das man ihm in der Sitzung zugestellte hatte und obwohl vieles dafür sprach, dass es sich um das selbe handelte, das er bei seiner Tagespost gefunden hatte, konnte er sich mit dem Gedanken nicht abfinden, zumal der Wortlaut ein anderer gewesen war. … Über die Männchen hatte er geschrieben, was er hatte herausschreien wollen, seitdem dieser Max ihn verprügelt hatte… Der Zustand des Papiers ließ jedoch darauf schließen, doch das hatte eigentlich nichts zu sagen ... aber ... ich hatte es doch weggeworfen ... dachte er ...
... und dann ist es durch die Scheißkanalisation geschwommen, wieder bei der Post gelandet und lässt sich in einer Besprechung zu Dir zurückgeben, klar ...
Jetzt kam er sich ziemlich merkwürdig vor, in einer Mülltonne nach einem Telegramm zu suchen, deren Nachricht gerade mal ein Wort war, aber er musste versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen … MAX-PIGS-DIE!!!
… und eine Karte aus den Stationen zu rekonstruieren nur, welches Wort war es gewesen, auf dem ersten, dem blinden Passagier, der in seiner Post gelegen hatte?
Er holte das neue hervor und befühlte die Rückseite
... eine Art spiegelverkehrter Blindenschrift .. .und er wusste, was auf dem ersten Telegramm gestanden hatte ... SOME ... und in dem zweiten ... THING!
Die dritte Nachricht lautete:
„CONCERN: You - STOP - arrived! - STOP “
„Stacey?“ Doch es war nur ihr Anrufbeantworter, der den Begrüßungstext wiedergab.
Ungeduldig wartete Josh auf den Piepton, der die Aufnahme ankündigte und sprach, was er ihr sagen wollte, auf Band.
„Du hattest Recht. Mit allem.“
Und dann sprudelte es aus ihm heraus.
Alles.
Angefangen bei der Demütigung auf dem Schulhof, die er nie vergessen hatte, über den Zettel, den er danach hasserfüllt geschrieben und immer bei sich getragen hatte, bis zu dem Unglück, das dann geschehen war.
Als er fertig war legte er den Hörer auf und wartete auf das letzte Telegramm.
Er lief.
Weite Flur unter stahlblauem Himmel.
Sengende Hitze.
Hinter sich hörte er ihre nackten Füße auf dem Boden, ihr Trippeln, als sie ihn verfolgten, immer mehr aufholten, bis sie ihn fast hätten schnappen können. Die Gaffer.
Bedrohlich laut und sich beständig nähernd.
Der Geruch von Tinte.
Die Kinder standen um ihn herum, wie damals und genau wie damals lachten sie ihn aus, wie sie es oft getan hatten. Maximilian Harding war über ihm und bearbeitete Josh wie so oft mit seinen Fäusten, doch die Schmach und Schande unterlegen zu sein, war der eigentliche Schmerz, der Josh fast zerriss.
Er sah sich in seine Tasche greifen und den Zettel hervorholen, auf den er all die hässlichen Sachen geschrieben hatte und hielt ihn hoch. Im selben Moment blickte ihn sein Peiniger erst erstaunt, dann entsetzt, an, fasste sich an die Kehle und kippte hintenüber.
Das Lachen der Kinder verstummte. Nur das Röcheln des Harding-Jungen war zu hören, der sich auf dem Schulhof wand und langsam erstickte. Und dann waren all die anderen Kinder ebenfalls gestorben.
Nie mehr würde man Josh etwas antun, nie mehr würden sie lachen ...
... der Wecker.
Noch im Halbschlaf drehte er sich auf die andere Bettseite und wollte Stacey umarmen, doch seine Hände griffen ins Leere.
Er blinzelte. Natürlich war er allein. Er schloss die Augen und wollte sich nicht daran erinnern, wollte sich lieber ein Leben lang vormachen, dass sie noch bei ihm war, dass all die Stationen seines Lebens nicht umsonst gewesen waren … das Positive ... all die Mühen ... es hat weniger Gewicht ... doch er konnte sich jetzt, da er wach war, nichts mehr vormachen.
Er stellte sich vor ihren Atem hören zu können, gleichmäßig und beruhigend, direkt neben sich. Ihn streifte ein Lufthauch und er lauschte ... es kommt Alles zu einem zurück ... Da war etwas bei ihm, er konnte es spüren … Alles hat Konsequenzen … Jemand holte Luft und stieß sie leise wieder aus ... eine Landkarte ... und als er die Augen öffnete, sah er auf Staceys Kissen etwas liegen, etwas rechteckiges, das ihm bekannt vorkam ... der Geruch von Tinte ... Keine Nachricht diesmal, aber dafür etwas Anderes. Seine zitternden Finger umfassten den Zettel und befühlten die Rückseite. Von links nach rechts ertastete er den Namen des Absenders: XAM.
Er wollte noch etwas sagen, … es tut mir Sooo … doch ihm fehlte der Atem ... Leid! …
Dann hörte er sie kommen.
Kichern, Jaulen, klappernde Schritte.
Mit einem berstenden Geräusch traten sie die Tür auf und blieben lauernd und unruhig in der Türöffnung stehen.
Das Lachen von Kindern, wie hinterlistiges, heiseres Bellen, trippelnde Füße auf dem Parkett, die nichts weiter waren als dünne, schwarze Striche, auf denen aufrechte Ovale saßen und an denen weitere Striche baumelten. Ein umgefallener Halbmond zerschnitt ihre Gesichter dicht unterhalb zweier klecksartiger Punkte, die wie dümmliche Augen in die Gegend stierten und sich in Josh fest brannten. Suchende Kompassnadeln, die ihren Pol gefunden hatten.
Maximilian stand an der Spitze. Hohn lag in seinem Blick, stechende Punkte im Nichts. Pupillenlose Augen, zu denen sich zwei finstere und böse gebogene Striche gesellten und als Brauen dienten.
Sein Lachen schien sich zu vervielfachen, als er den Strich-Mund öffnete und mit der flüsternden, gierigen Stimme eines defekten, neurotischen Anrufbeantworters, dessen Band ein wenig zu hängen schien und der manchmal zu schnell oder zu langsam abspielte, zu sprechen anfing: „... hast Du mein Telegramm bekommen?“
Seine gespreizten Finger, die nur schwarze Linien waren, hinterließen Abdrücke auf der weißen Tapete, die wie dunkle Striemen einer Teerpeitsche aussahen.
Das Territorium einnehmend trat er ein und baute sich drohend vor Josh auf, während die anderen Kreaturen, die lachenden, höhnischen Kinder, an ihm vorbeiwuselten und im Zimmer umherliefen, Posten bezogen und Fluchtwege abschnitten.
Das Max-Ding überragte Josh um mindestens zwei Köpfe. Er konnte nichts tun, außer entsetzt und bibbernd der Dinge zu harren, die da kommen mochten.
Die Situation raubte ihm schier den Verstand.
„WAS … ist bloß mit der Zeit passiert?“
Das Es stellte die Frage in den Raum wie einen Gegenstand, doch es schien nicht mit einer Antwort zu rechnen. Der Mund des Dings war abwechselnd gezackt oder gerade, keine Spur mehr von einem Halbmond, nur noch geometrisch symmetrischer Hass. Unerbittlich, unsterblich und grausam. Die anderen Strichmännchen hüpften federnd und Rad schlagend herum, scherzten und kicherten und warfen ihm mit Augen aus Tinte giftige Blicke zu.
„Was ist bloß … PASSIERT!“
Sie lachten, lachten IHN aus, nur Maximilian lachte nicht. Ihm war das Lachen anscheinend vergangen. Schmierige Schlangenfinger umklammerten Joshs Arme. Die Gaffer hatten ihn fest im Griff, als das Max-Gesicht sich zu ihm herunterbeugte und ihm seinen endlos hasserfüllten Blick in die Augen bohrte.
„Du hast mich … MICH … in die Hölle geschickt … in die richtige Hölle … in MEINE eigene und … es ist Alles wahr, was man sich über die Fegefeuer erzählt … sie sind so … soo … KALT und … ruhelos.“
Fast schien es als wollten die Tintenaugen schwarze Tränen des Schmerzes vergießen, doch dann erinnerte sich das Ding, das nun eine grausam reale Karikatur von Maximilian Harding war, wo es sich befand und es packte Josh, der wie erstarrt war, am Hals und hob ihn an.
„Ich werde … werde Dir die HÖLLE zeigen … werde Dir DEINE Hölle zeigen …endlos und kalt … Du wirst sehen wie … KALT!“
Das Telefon klingelte und rang dringlich und dramatisch um Aufmerksamkeit. Verärgert über die Unterbrechung blickte sich das Max-Ding um. Das Klingel-Geräusch ließ die Atmosphäre kurzzeitig wie eine Seifenblase zerplatzen und das Wesen verharrte für einen Moment lauschend und auch die anderen hielten inne.
… Stacey …
Die Ruhe vor dem Sturm.
Dann hörte das Klingeln auf. Eine Diele knarrte unter dem Gewicht eines gezeichneten Fußes und das brachte ein paar von ihnen wieder zum Kichern. Es war wie ein Start-Schuss. Mit einem knirschenden Geräusch beugte sich das Punkte-Komma-Strich-Gesicht herunter und erst jetzt bemerkte Josh, wie sehr das Wesen stank. Nach Tinte und etwas Anderem, etwas Verfaultem und Bedrohlichem. Es roch nach einem Fisch oder Lurch, der in ein Fass geklettert war, … in des Teufels Küche … um darin zu verenden, und jemand hatte das Fass umgekippt und ihn befreit … wo kommen wir denn da hin, Porter? … das Zimmer wich und die unendliche Weite des eiskalten, blauen Himmels aus Stahl schwappte über die Welt und verschluckte die Realität … weiß der Himmel, wo Du dann rauskommst!
„Wirst sehen …“, schnatterte das Ding.
Mit einer schnellen und schnappenden Bewegung packten die gezackten, messerscharfen Zähne zu und rissen Josh mit einem einzigen, schmatzenden Biss das Gesicht vom Schädel.
Wahnsinn loderte in ihm auf, genährt vom Holz der Vergangenheit, geschlagen aus dem Wald seines ES … Äonen lang währendes Lagefeuergeplauder … und dann sah er …weiße Flächen auf der Karte … was Maximilian gemeint hatte … soo KALT!
Scheinbar lange Zeit, die Ewigkeit eines Wimpernschlages, fühlte er nichts als Leere und die Eiseskälte der Höllenfeuer. Dann fing es an! Die Schmach, die er jedes Mal empfunden hatte, wenn Max ihn verprügelt hatte, wühlte sich aus seiner Seele hervor … Ich verdränge nichts Vergrabenes … und vervielfachte sich rasend schnell, zu einem Welten vernichtenden Gefühl des Verlorenseins … ein Schatten, in dem nichts und niemand überleben würde! … Schmerz loderte in ihm auf. Er sollte niemals wieder enden.