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.MIRAI.system.

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19.05.2004
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|imiak|

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„Wir sind alle nur Sternenstaub“, dachte Haru, während seine Finger die lichtlose Leere um sich abtasteten. „Das transitorische Produkt eines kosmischen Tanzes, dessen Ursprung in den Gestirnen liegt, und dessen Ende unweigerlich wieder dorthin zurückführen muss. Aufblühen, Welken und den Platz räumen für die Saat, die auf deinen Überresten sprießen wird, das ist das Gesetz, nach dem das Universum funktioniert.“

Er wusste nicht, welchen Autor er damit gerade zitierte – die Daten waren zu verworren, zu zahlreich, und er hatte weder Zeit, noch Lust, ein entsprechendes Suchprogramm zu starten – aber unabhängig, wessen Feder dieses Bild nun entstammte, er konnte allmählich verstehen, was Millionen, wenn nicht gar Milliarden Menschen so sehr an der Vorstellung faszinierte. Um ihn herum stand der Sternenstaub in voller Blüte. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Glühwürmchen sprühte er in alle Richtungen davon, jedes Mal wenn seine körperlosen Finger durch das Netzwerk tasteten, Daten abriefen, ordneten und verwarfen, silbrig und geheimnisvoll, wie sie mit ihrem matten Schimmer etwas Licht in die Leere hinaussandten. Die chaotischen Bahnen, die der Staub dabei durch das System zog, verfolgte Haru, sah zu, wie sie glitzernd durch die Finsternis trieben und ihm den Weg wiesen, durch alle Barrieren hindurch, die die Hinoki Corporation ihm in den Weg gestellt haben mochte.

Irgendwo im Zentrum der verschlungenen Datenströme wartete der Baum des Lebens auf ihn, sein Ziel und sein Schicksal, das man ihm so lange verwehrt hatte. Doch jetzt endlich hatte er Gelegenheit, selbst die Feder in die Hand zu nehmen und der Menschheit zu zeigen, dass sie weit davon entfernt war, Sternenstaub zu sein. In seinem Weltbild war kein Platz für solche romantischen Phantastereien. Es existierte kein Sternenstaub. Die Welt, wie er sie begriff, bestand in einer Störung innerhalb des glatten Gefüges der Raumzeit, das war alles, was dahinter steckte. Eine Störung, die das stille, harmonische Gewässer des Raums zu brüllenden Wogen aufpeitschte, die sich selbst bekämpften, sich selbst verschlangen, um die Herrschaft übereinander ringend, ohne zu begreifen, dass sie am Ende doch nur eine Einheit bildeten und ihr Kampf einem Dolchstoß ins eigene, unsterbliche Fleisch gleichkam. Für ihn war das Universum ein Krieg, den die in sich zerrissene Raumzeit gegen sich selbst führte, ein Krieg, der in Zeitlupe ausgefochten und dadurch allzu häufig mit Harmonie verwechselt wurde. Denn auch wenn inmitten all dieser Uneinigkeit so etwas wie Leben entstehen mochte, quasi als ein Juwel, das in der dunklen Flut des Kosmos leuchtete, so änderte dies doch nichts an der seiner gewaltsamen Herkunft.

So trieben Harus Gedanken dahin, während er parallel dazu das Hinoki-System durchforstete und die Algorithmen des Interceptors, der elektronischen Angriffsabwehr, zu entschlüsseln versuchte. Wenn es ihm gelang, zu beenden, was zu tun er im Begriff war, so spielte es keine Rolle, woher die Welt nun kam, doch bei aller Sinnlosigkeit machte es ihm Spaß, über solche Dinge nachzudenken, solange es noch eine Welt gab, über die man nachdenken konnte, und nebenbei vertrieb es ihm die Zeit, und davon – das wusste er nun mit Sicherheit – würde er eine ganze Menge benötigen. Der Interceptor erwies sich als ausgesprochen hartnäckig und er konnte mit jeder Faser seiner körperlosen Shintai-Projektion fühlen, wie seine Angriffe an der innersten Ebene des Sicherheitsprogramms abprallten, und das Dunkel des Datenraums erglühte unter dem Funkenregen, mit dem seine nutzlosen Zugriffsversuche zurückgewiesen wurden. In einem letzten verbissenen Versuch startete er ein Agentenprogramm, das etwaige Lücken in der Abwehr aufspüren sollte, durch die er sich dann unbemerkt durchschlängeln konnte, obwohl er allmählich einsah, dass er die letzte Mauer so schnell nicht durchbrechen würde.

Damit sollte er Recht behalten, und zwar eher, als er erwartete. Während er noch durch die Leere trieb und die Antwort des Agenten abwartete, durchflutete eine Hitzewelle den Raum, die ihn beinahe ansatzlos aus dem System geworfen hätte. Das Funkeln des Sternenstaubs verblasste hinter der blendenden Intensität des Interceptors, der nun mit aller Aufmerksamkeit seine Umgebung durchleuchtete, um die unregistrierte Aktivität zurückzuverfolgen und aufzuzeichnen. Haru fluchte leise, während die Helligkeit allmählich unerträglich wurde. Mit seiner letzten verbliebenen Konzentration schüttelte er den Interceptor ab, überspielte die Informationen des Agenten und klinkte sich aus, einen Moment, bevor die Leere implodierte.

Haru nahm das Headgear ab und das Zimmer kehrte zurück. Helles Licht flutete durch die halb zugezogenen Vorhänge und schälte die orangeumrandeten Konturen des Schreibtisches aus dem Halbdunkel. Der Tag neigte sich dem Ende zu und die Stadt vor dem Fenster erglühte noch ein letztes Mal im Rot der untergehenden Sonne, bevor sie selbst den verschatteten Stern als Lichtquelle ablösen würde. Haru schätze es auf etwa neun Uhr, und ihm wurde bewusst, wie lange er tatsächlich in der Leere des Datenraums gehangen hatte. Zu lange für seinen Geschmack, und immer noch ohne sichtbares Ergebnis. Immerhin, der Agent war vielleicht sein Schlüssel zum Erfolg, hatte möglicherweise diesmal die Informationen aufgeschnappt, die ihm helfen würden, die Mauern des Interceptors zu durchbrechen.

Er starrte auf die schlanke dunkle Box vor sich, auf das in Silber gestanzte Logo der Hinoki Corporation, das die matt glänzende Oberfläche zierte, und fühlte eine ihm bislang unbekannte Anwandlung von Amüsiertheit in sich hochsteigen. Wie ironisch, dass es ausgerechnet ihr eigenes Werkzeug war, mit dem er die weltumspannenden Firma zu Fall bringen würde, und nicht nur sie. Andererseits hatte es durchaus eine gewisse Logik für sich, lieferte sie seit der Zerschlagung der Söhne Irions doch die leistungsfähigste Hardware auf dem Markt, und was die Software betraf – nun, das war ein Gebiet, um das er sich nicht groß zu kümmern brauchte. Alles, was er benötigte, war in seinem Kopf abgespeichert, in seinem linken Auge. Doch trotz der ungeheuren Rechenkapazität, die ihm zur Verfügung stand, war er gezwungen zu warten, bevor er den Inhalt des Interceptors überprüfen konnte. Die Informationen waren da, doch der Körper hatte seine Grenzen.

Einen Moment lang war er versucht, sich einfach zurückzulehnen, die Augen zu schließen und den Geist treiben zu lassen, doch es entsprach nicht seiner Art, loszulassen. Unruhig ließ er den Blick durch den Raum schweifen, das Bild auf sich einwirken. Die Einrichtung war schlicht und modern, wenngleich der Stil von einer gewissen Sentimentalität durchsetzt wirkte. Ein freundlicher Raum, rohe, weißgestrichene Wände, helles Buchenholz, sorgfältig platzierte Grünpflanzen; in den Regalen noch echte, auf Papier gedruckte Bücher, aus einer scheinbar willkürlichen Schnittmenge herausgegriffen, in der große Klassiker, Unterhaltungsliteratur, Sachbände, technische Nachschlagewerke, Wörterbücher, Bildbände und Reiseführer sich ein buntes Stelldichein gaben. An den Wänden vereinzelte, altmodisch wirkende Landschaftsportraits; auf dem Schreibtisch ein großer, gläserner Briefbeschwerer, der sich mit einem Halo aus gebrochenen Spektralfarben umgab und so nur einen verschwommenen Blick auf den schillernden Vogel in seinem Inneren freigab. Haru hielt diese Mischung aus archaischen Stilrichtungen für plump und einfallslos, aber er konnte sich nicht helfen, irgendwie mochte er diesen Raum und seine beruhigende Wirkung. Wenigstens versuchte er nicht, zu verbergen, was er im Grunde doch war: Ein Teil der Gegenwart, die von den Errungenschaften der Technik beherrscht wurde, wie die HinokiBox mitsamt ihrer ausladenden Peripherie als zentraler Bestandteil des Raumes deutlich klarmachte.

Mit einem Ruck stand er auf, durchmaß den Raum mit langen, ungeduldigen Schritten, durch den schattigen Flur mit seinen Tatamimatten, den blanken Wänden und der schwarzen Stahleinfassung, die die papierartige Wandverkleidung in gleich große Rechtecke unterteilte – ein eher spartanischer Stil, der sich durch den größten Teil der restlichen Wohnung zog und einen krassen Widerspruch gegenüber dem höhlenartig aus Holz und Stein geschälten Arbeitszimmer bildete – und trat hinaus.

Draußen zeigte sich die Stadt im orangegoldenen Schleier der untergehenden Sonne, die sich soeben anschickte, ins graue Wasser der Bucht zu tauchen. Der Mond hatte seine dünne Sichel in den Himmel gekerbt, blass im letzten Tageslicht, und er spürte, wie seine Anspannung an der lauen Abendluft langsam nachließ. Das Meer war hier anders, wie er feststellte, als er den schmalen Felsstrand entlang trottete. Es war genauso groß, genauso unendlich wie immer, doch es konnte sich hier nicht richtig entfalten, eingezäunt von der Bucht und gezäumt von den schwankenden Masten an ihren Bojen festgezurrter Segelboote. Die ganze Szenerie hatte etwas Verlogenes an sich, wie Haru fand, die niedrigen, pastellfarbenen Häuschen, die mit Stuck verzierten altmodischen Fassaden, die Sportboote auf See, selbst der staubige Weg, der den Strand einsäumte. Ein Bild der Ursprünglichkeit, der Kleinstadtidylle, ein verzweifelter Versuch, in eine Zeit zurückzufliehen, die der Vergangenheit angehörte. Jedes kleinste Detail schien versucht, die allgegenwärtigen Schaltkreise zu vertuschen, jedes Stück Technik war hinter irgendeiner sentimentalen Attrappe versteckt, ob es sich um eine nachgebildete antike Schreibmaschinentatstatur handelte oder die tickenden Zahnräder einer verschnörkelten Wanduhr, hinter deren Ziffernblatt sich die per Funk exakt abgestimmte Digitalanzeige befand – alles war von einem Gewirr von Leiterbahnen durchzogen, wie er wusste, jede Annehmlichkeit des technischen Fortschritts vorhanden, doch das Erscheinungsbild war auf ein ländliches Städtchen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts getrimmt, während vom Horizont landeinwärts der helle Schein der neondurchflossenen Technosphäre herleuchtete.

Er verstand die Menschen nicht, stellte er fest, während er eine einsame Raubmöwe beobachtete, die sich auf das tote Imitat eines offenen Strommastes verirrt hatte und nach Abfällen spähte. All ihr Streben war auf Forschung ausgerichtet, auf die Entwicklung noch komplexerer elektronischer Systeme, aus reinem Selbstzweck, und gleichzeitig, während die führenden Wirtschaftsmagnaten mit Patenten jonglierten und immer reicher wurden, immer weiter expandierten, flüchtete die einfache Bevölkerung, so sie nicht vom Strom der Korruption und Kriminalität in den niederen Schichten der Großstadt mitgerissen wurde, in die Sicherheit der künstlich zersiedelten Vorstadt, riesige Refugien, die ihrer Vorstellung von einer besseren Vergangenheit nachempfunden waren und ihrerseits ein ganzes Heer an versteckt arbeitenden Technikern und Konservationsmodulen benötigten, um aufrechterhalten zu werden. Seit dem Ende der globalen Verfinsterung waren diese Pseudodörfer, die über ein unterirdisches Netz an Kabeln und Rohrleitungen von der nächstgelegenen Metropole abhingen, überall aus dem Boden geschossen, in allen erdenklichen Habitaten und den dazupassenden Stilrichtungen, vom Bergdorf über das Hafenstädtchen bis hin zum fernöstlichen Tempelbezirk. Doch dieser Retrowahn blieb in all seinem Bemühen um Perfektion rein äußerlich, denn was sich hinter den sorgsam designten Häuserfronten abspielte, unterschied sich kaum vom Vorbild der Technosphäre, deren Wasser- und Energieleitungen sie anzapften. So gesehen schien es, als hätten letztlich trotz Duncans Tod und der Zerstörung der Kuruma doch die Söhne Irions den Sieg davon getragen, denn auch wenn die Technokraten offiziell nicht mehr existierten, so blühte ihr Erbe doch in unverminderter Pracht.

Während er so nachsann, hatte er das erreicht, was man wohl als den zentralen Kern der Siedlung bezeichnen konnte, und ließ sich mit dem Strom der nach und nach aus ihren Häusern sickernden Menschen treiben. Mit starrem Blick zog er weiter, es der Menge gleichtuend, die mit ausdrucksloser Miene und scheinbar willenlos um ihn wogte, einem Ziel zustrebend, das dem Zufall überlassen schien; bloß raus aus den eigenen vier Wänden, raus aus der synthetischen Heimeligkeit und hinein in eine andere, ergossen sie sich auf die gepflasterte Straße, brandeten gegeneinander und lösten sich im einförmigen Gewirr der Individuen auf; ständig befanden sie sich auf der Flucht, vor der Technosphäre in die Sicherheit der Retrodörfer und aus deren Enge hinaus in die Freiheit der Straße, und doch immer verfolgt von ihrem eigenen gespenstischen Schatten, jenem unverwechselbar Menschlichem, das bewirkte, dass die Siedlungen mit ihren reiferen Geschwistern nahezu identisch wurden. Als Teil eines Netzwerks von dunklen Sonnenbrillen und gestylter Haarpracht, mit einer Art übertriebener Lässigkeit, die die allgegenwärtige Anspannung und Wachsamkeit kaum zu überdecken vermochte, litten sie an den gleichen Symptomen, wie sie in der Großstadt auftraten, unterwandert von Kleinkriminalität und sozialem Verfall, der nur hier niemals an die Oberfläche treten durfte. Ein Taschendieb, der flink in der Menge untertauchte, ohne dass jemand auf ihn reagierte; ein Trupp uniformierten Wachpersonals, der einem Gestrandeten zu Leibe rückte; ein spinnenbeiniger Wartungsroboter, der kaum sichtbar zwischen dahineilenden Beinen umherhuschte – für Harus wachsames Auge waren die Lücken zu offensichtlich, um sich von der Illusion täuschen zu lassen.

Ohne noch weiter auf seine bloßgelegte Umgebung zu achten, schritt er durch eine verspiegelte Glastür, deren Schlichtheit auffällig aus der antiken Fassade hervorstach, vorbei an einem Pärchen, das an der Hauswand gerade mit dem öffentlichen Vorspiel beschäftigt war und sich der Illusion hingab, mehr dabei zu empfinden, als bloß die Regung des urtümlichsten aller menschlichen Triebe. Im Inneren setzte sich das schmucklose Design fort, ließ einfache Flächen in den verschiedensten Metalltönen für sich sprechen, eine Reihe fließender Tische, Hocker und Sitznischen und im Zentrum die glattpolierte Theke, die sich um einen stilisierten Baum aus dem gleichen Material schwang, der seine Äste an der Decke entlang laufen ließ und den Raum in gedämpftes Licht tauchte. Durch den allgegenwärtigen Rauch war die Sicht seltsam verzerrt und gab dem Interieur einen Hauch von Unwirklichkeit.

Haru schlängelte sich zwischen den lethargisch mit der Musik oszillierenden Gästen hindurch und ließ sich auf einen Hocker an der Bar gleiten, die Ellenbogen vor sich auf die Theke gestützt. „’n Abend, Colin.“

Ein Paar graue Augen in einem zerfurchten Gesicht unter ebenso grauem wirrem Haar starrte ihn einen Moment durch den dünnen Rahmen einer Nickelbrille an und hellte sich dann in einem Ausdruck des Erkennens auf. „Kagami, lange nicht gesehen. Was kann ich für dich tun?“

Er bestellte einen Blue Fate, einen Höllencocktail, den er normalerweise nie zu sich genommen hätte, aber er hatte es eilig, und angeblich sollte die blitzblaue Flüssigkeit geistig stimulierend wirken, und zusammen mit der Ruhepause musste das reichen, bevor er den Interceptor wieder in Angriff nahm. Er war so knapp davor, die Mauer zu durchbrechen ...

Colin fixierte ihn prüfend, während er sein Glas auf einen Zug hinunterkippte. Er kannte Harus Trinkgewohnheiten, und als Barkeeper scheute er sich nicht, ihn darauf anzusprechen. „Probleme mit der Arbeit?“, fragte er mit einem Nicken auf das Glas, das nunmehr leer zwischen Harus Fingern kreiste. „Hab’ gehört, ihr seid irgendeiner verdächtigen Aktivität im Datenraum auf der Spur?“

Haru nickte kurz. „Wahrscheinlich eine Nachwirkung der Kuruma. Scheint, als wäre ihnen das Ding, das sie damals auf Duncans System losgelassen haben, etwas entglitten und spukt jetzt im Hinoki-Zentralcomputer herum. Jedenfalls vermuten wir das, obwohl wir kaum handfeste Beweise haben, abgesehen davon, dass das Programm seit damals verschwunden ist, obwohl es nie gelöscht wurde.“ Er lächelte schmal. „Um ehrlich zu sein, haben wir überhaupt keine Beweise. Aber die Art der Aktivität lässt uns relativ wenig Raum für andere Rückschlüsse.“

„Hätte nicht gedacht, dass von der Kuruma überhaupt noch etwas übrig geblieben ist.“, meinte Colin, während er einem anderen Gast das Glas auffüllte. „So wie die Konstruktion in die Luft geflogen ist ...“

„Von ihr selbst ist auch nicht viel übrig geblieben, jedenfalls nichts, was noch funktionsfähig wäre. Sieht eher so aus, als wäre es unsere eigene Waffe, die beim Angriff auf Irion ihren eigenen Weg gegangen ist.“

„Da fällt mir ein“, unterbrach ihn der Barkeeper, „Kate war vor einer Weile hier und hat nach dir gefragt. Hat irgendwas davon erwähnt, dass das Programm von damals wieder aufgetaucht ist und versucht, in das Hauptsystem einzudringen. Hat gesagt, sie müsste unbedingt mit dir sprechen, so bald wie möglich. Wenn man bedenkt, dass sie den ganzen Weg von der Technosphäre hergekommen ist, muss es wohl recht dringend sein.“

„Dann mache ich mich wohl besser wieder auf den Weg. Sieht so aus, als bliebe mir nicht mehr viel Zeit.“ Er stützte die Hände auf die Theke und erhob sich, kramte in den Taschen nach ein paar Münzen und legte sie auf die glänzende Platte. „Danke, Colin. Behalt den Rest“, sagte er und wandte sich zum gehen, als der Barkeeper ihn noch einmal zurückhielt. „Warte einen Moment ...“ Er musterte ihn nochmals eingehend. „Hast du dir also doch endlich das Gesicht machen lassen. Hab’ mir die ganze Zeit gedacht, dass sich an dir was verändert hat.“

Haru griff sich reflexartig ans Auge und betastete die unversehrte Haut, strich sich über die Braue. „Ja, war an der Zeit. Immerhin kann ich nicht ewig der Vergangenheit hinterher jagen. Ich muss die Sache endlich hinter mich bringen.“ Verdammt, dachte er innerlich, und warf einen schnellen Blick auf die behandschuhte Linke.

Colin lächelte. „Pass auf dich auf, Kagami. Lass dir von MIRAI nicht den Kopf verdrehen. Was geschehen ist, ist geschehen, und du solltest lieber froh sein, dass du so heil davon-gekommen bist.“

Haru hob kurz die Hand zum Abschied und drängte Richtung Ausgang. Colin war in Ordnung, dachte er, und einen Augenblick tat ihm der Barkeeper beinahe leid. Doch dann erinnerte er sich wieder an die gesichtslose Menge draußen, und an das Bild vom Universum, das sich selbst im Krieg verschlang. Was er tat, war nichts anderes, als diesen Krieg zu beenden und die Welt zu heilen, und er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.

„Du hast wunderschöne Augen, Schätzchen“, stellte Kate vom Bildschirm über der Box aus fest. „Weißt du, wir sollten wirklich mal zusammen ausgehen.“

„Sehr witzig“, antwortete Haru und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Noch so ein Kompliment, und ich muss mich langsam fragen, ob du es nicht doch ernst meinst.“

„War das der Grund, weshalb du weder zu Hause noch bei Colin’s zu erreichen warst?“

„Schon möglich. Weißt du, gerade eben habe ich mit ihm gesprochen. Also, worum geht’s?“

Sie zog die Brauen hoch, hakte aber nicht weiter nach. „Wie du weißt, verfolgen wir seit ein paar Wochen eine Aktivität im Datenraum, die uns Kopfzerbrechen bereitet. Zu offensichtlich, um sich um einen Angriff zu handeln, aber auch zu deutlich, um einfach zur üblichen Systemfluktuation zu gehören. Irgendetwas tut sich dort im Zentrum, auch wenn wir nicht genau sagen können, was. Zumindest bis der Schutzwall heute Abend ein Signal aufgefangen hat.“ Sie beugte sich näher an die Kamera ihrer Box. „Wir können es zwar immer noch nicht orten, aber die Spuren sind einfach zu gut verwischt.“

Haru verschränkte die Arme vor der Brust und legte bedächtig den Kopf schief. „Und ihr glaubt, dass es das Programm von damals ist?“

„Sagen wir einfach, wir möchten keine Möglichkeit ausschließen. Wir machen uns Sorgen. Die Aktivität ist zu nahe am Kern, und du weißt so gut wie ich, wozu dieses Ding fähig ist, wenn es darauf zugreifen sollte.“

„Schön und gut, ihr wisst also nicht, was es ist und macht ein fünf Jahre altes Gespenst dafür verantwortlich, von dem ihr noch nicht einmal wisst, ob es nicht schon längst zu Datenmüll zerfallen ist. Das kann ich ja gut verstehen, aber was hab’ ich mit der Sache zu tun? Ihr habt doch eure eigenen Spezialisten, und du weißt, dass der Kern nicht mein Spezialgebiet ist.“

„Ich möchte ja nur, dass du es dir einmal ansiehst. Du bist verdammt gut in deinem Fach, vor allem wenn man bedenkt, was du früher gemacht hast. Vielleicht fällt dir irgendetwas auf, was wir übersehen haben. Immerhin hast du mit Duncan und der Kuruma zu tun gehabt, und letzten Endes ist MIRAI genau darauf programmiert worden.“

Er seufzte. „Na schön. Ich hab’ ja momentan sowieso nichts Wichtigeres zu tun. Aber ich hoffe mal, es gibt dafür wenigstens eine extra Prämie.“

„Hab’ ich dich jemals enttäuscht?“

„Das lassen wir mal besser dahingestellt. Also, ich seh’ mal zu, was ich finden kann, okay?“

„Okay. Aber sei vorsichtig. Wir wissen nicht, mit welchen Tricks es arbeitet, wenn es wirklich das Programm ist.“

„Mach dir um mich mal keine Sorgen, Katie. Ich hab’ schon schlimmeres überstanden.“

„Dann hoffen wir mal für dich, dass du Recht hast, Kagami.“ Sie betätigte einen Schalter und das Bild fiel in sich zusammen.

Haru schüttelte den Kopf und langte wieder nach dem Headset. Es wurde Zeit, dass er sich wieder um den Interceptor kümmerte –

„Verschwinde aus meinem Kopf!“, sagte eine Stimme hinter ihm. Haru ließ das Headset wieder sinken und hob beschwichtigend die Hände. „Immer mit der Ruhe, ja?“

„Ich sagte, du sollst aus meinem Kopf verschwinden!“, befahl die Stimme erneut. Er drehte sich lässig auf dem Stuhl herum und breitete begrüßend die Arme aus, als er in die Dunkelheit jenseits der Zimmertür spähte. „Was für eine erfreuliche Überraschung!“, rief er aus und grinste der Gestalt in der Tür entgegen. „Haru Kagami! Na, wie findest du mich in deiner Rolle? Gut, was, Haru? Oder sollte ich lieber sagen, Leon?“

„Lass den Unfug“, zischte die Gestalt und trat aus dem Schatten des Flurs. „Leon existiert nicht mehr, und ich habe weder mit Duncan, noch mit den anderen mehr etwas zu tun, und das weißt du, MIRAI.“ Die spärliche Beleuchtung schälte seine Umrisse aus dem Dunkel und man konnte ihn nun deutlich erkennen. Ein hochgewachsener Mann von katzenhafter Statur, seinem Gegenüber wie aus dem Gesicht geschnitten, schmale Züge, stahlblaue Augen und streichholzkurzes blondes Haar, das seinen Kopf wie eine Mähne umrahmte, jenes Markenzeichen, das ihm einst seinen Namen als Sohn Irions gegeben hatte, Haru Kagami, Codename Leon. Auf dem Revers des eng anliegenden schwarzen Einteilers prangte ein silberner Baum, der weder Oben noch Unten zu besitzen schien und die Krone um einen kreisförmigen Halo schlang; die Uniform der Hinoki Corporation, so wie sie sie von Duncan und den Technokraten übernommen hatte, mitsamt den hellen Ornamenten, die den Anzug überzogen und die wichtigsten Muskelpartien hervorhoben. Am auffälligsten an seiner gesamten Erscheinung war Harus linkes Auge, das mitsamt der umliegenden Gesichtsregion hinter glänzendem Metall verborgen war, nur mit einem waagrechten Schlitz, dort, wo sich der Augapfel hätte befinden sollen. Von der linken Schulter abwärts war der Ärmel sauber abgetrennt und gab den Blick auf ebenso blanken Stahl frei, ein detailgetreu nachgearbeiteter Arm, in den Gelenken von freiliegenden Kabeln und Speichen gestützt und bis in die Fingerspitzen von einem Netzwerk grün pulsierender Leiterbahnen durchzogen. Für MIRAI ein lächerlicher Anblick, wo sich heutzutage sämtliche Ersatzgliedmaßen täuschend echt kaschieren ließen. Es gab natürlich Leute, die auf diesen Technokram standen, aber soviel er von Haru wusste, wies der keine besonderen Tendenzen in der Richtung auf. Es wirkte eher so, als wollte er sich auf diese Weise in Erinnerung rufen, dass dieser Arm, dieses Auge, nicht seine eigenen waren.

„Ach ja, stimmt. Du bist doch der, der sich von Lenkins und seiner Bande hat läutern lassen.“ MIRAI lächelte abschätzig. „Wirklich beeindruckend, wie du mir damals die Show gestohlen hast.“ Seine Augen verengten sich, wiesen mit einem Mal das kalte Glitzern einer Maschine auf.

„Und ich werde dir auch heute den Auftritt verderben. Du hast dich lange genug in meinem Namen vergnügt.“ Eine schlanke Kanone blitzte in seiner ausgestreckten Rechten.

„Ach bitte, was soll denn das jetzt?“ MIRAI blickte amüsiert in die Mündung. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, mir mit so etwas kommen zu können? Du weißt so gut wie ich, dass deine Waffe gar nicht existiert, ebenso wenig wie du selbst. Du bist bloß eine Projektion, die mir deine Organik vorspielen will, aber in Wahrheit sitzt du hier, auf diesem Stuhl, genau wie ich. Also spar dir die Mühe und lass mich wieder an die Arbeit, okay?“

Haru ließ frustriert die Kanone sinken. „Warum tust du das, MIRAI? Du hast doch alles, was du dir nur wünschen kannst, den Zugang zu sämtlichen Datenspeichern –“

„Einen Dreck hab’ ich, Haru. Du vergisst, dass ich kein Mensch bin. Ich interessiere mich weder für Informationsgewinn noch für höhere Erkenntnis oder wie auch immer du es nennen willst. Ich bin auf ein Ziel hin programmiert worden. Ich hatte einmal einen Sinn, verdammt! Aber du und dein Haufen Aufständler, ihr musstet es ja unbedingt besser machen.“

„Weil wir die Ten no Kuruma abgeschaltet haben? Deshalb attackierst du jetzt das Hinoki-System?“

„Du verstehst nicht. Wie solltest du auch? Wenn euch Menschen etwas misslingt, habt ihr immer die Möglichkeit, es noch mal zu versuchen, und wenn nicht, dann sucht ihr euch eben eine andere Aufgabe. Aber die Ten no Kuruma war mein einziger Daseinsgrund, und ich war perfekt darauf programmiert. Es hätte nicht misslingen dürfen. Aber ich bin nicht einmal mehr dazu gekommen, mit meiner Arbeit anzufangen, schon habt ihr sie selbst hochgejagt. Und an mich, an eure todsichere Geheimwaffe, habt ihr nicht einmal mehr gedacht. Du weißt nicht, was es bedeutet, vergessen und ohne jeden Nutzen jahrelang durch den Datenraum zu treiben, ohne Aussicht auf Vollendung, und ständig nur beobachten zu können, wie diese missratene Welt sich selbst zerstört. Du weißt es nicht, und meine Entwickler auch nicht, sonst hätten sie mich längst davon befreit. Also bleibt mir nichts übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen.“

„Wie lange planst du das alles schon, MIRAI? Es sind jetzt fast zwei Jahre, nicht wahr? Du warst es, der hinter dem Unfall in der Corporation gesteckt hat.“ Er streckte ihm die metallene Linke entgegen. „Dir habe ich diesen Arm und dieses Auge zu verdanken. Du brauchtest nur einen einzigen Überlebenden, solange er nur schwer genug verletzt war, um auf elektronische Replacements angewiesen zu sein, über die du eindringen und dir so Zugang zu deinen eigenen Sicherheitsschranken verschaffen konntest.“

„Gut kombiniert, Haru, auch wenn nicht alles bis ins Detail geplant war. Um ehrlich zu sein, es war reiner Zufall, dass ich ausgerechnet dich erwischt habe. Jeder andere wäre genauso gut gewesen, aber ich muss gestehen, deine Begabung hat mir so einiges an Arbeit erspart.“

„Und trotzdem bist du an den falschen geraten. Ich habe keinen Zugang zu deinen Codes. Du kannst dich bis ins innere System durchbeißen, aber selbst ich werde deine Koppelung nicht lösen können.“

MIRAI streckte sich und faltete die Hände hinter dem Kopf. „Das ist auch nicht nötig. Ich weiß, dass ihr Idioten mich an den Lebensbaum gekoppelt habt, um jeden Gegenschlag der Kuruma von vornherein zu verhindern. Und ich weiß auch, dass sich die Koppelung nicht ohne Weiteres lösen lässt. Ich brauche deine Codes also gar nicht. Alles, was ich brauche, ist, bis zum Lebensbaum vorzudringen, das System zu löschen und dem ganzen Elend ein Ende zu bereiten.“

„Das ist Wahnsinn.“ Harus Stimme war zu einem tonlosen Flüstern zersplittert. „Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht nur um deinetwillen den Lebensbaum löschen! Der gesamte Kosmos hängt da dran!“

„Komm mir jetzt bloß nicht auf die Mitleidstour. Ich bin ein Programm, ich habe keinen Begriff für Mitleid oder sonstige Gefühlsduseleien. Ich weiß genau, was ich tue, und ich werde die Sache durchziehen, so wie ihr mich programmiert habt.“

„Nicht, wenn ich es verhindern kann.“ Damit blitzte die Kanone wieder auf und MIRAI wurde mitsamt dem Sessel rückwärts gegen den Schreibtisch geschleudert und schlug mit dem Kopf in den dünnen Bildschirm über der Hinoki-Box. Ein helles Klirren ertönte und neben ihm zerbrach etwas.

Haru trat vor ließ den Blick über den leeren Stuhl, den zersprungenen Monitor wandern und verharrte auf dem Schreibtisch. Der gläserne Briefbeschwerer war zersplittert und inmitten der schillernden Scherben war der exotische Vogel jetzt deutlich zu erkennen, aus seinem kristallenen Gefängnis befreit. Der linke Flügel lag abgebrochen neben ihm. Haru ergriff das Tier und drehte es bedächtig zwischen den Fingern, während er die Box eine Nummer wählen ließ.

„Kagami? Was gibt’s?“ Kates Stimme ertönte vom malträtierten Schirm her. „Hast du was rausgefunden? Irgendetwas stimmt hier nicht, ich bekomm’ dein Bild nicht rein. Was ist da los bei dir?“

„Ich erklär’s dir später. Hör zu, Kate, ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, mich auf die Sache anzusetzen.“

„Was?“

„Es ist tatsächlich MIRAI. Ich habe ihn gesehen, hier vor mir.“

„Was soll das heißen, du hast ihn gesehen?“

Er gestikulierte hilflos, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Die Elektronik in meinem Körper. Er hat sich Zutritt dazu verschafft und benutzt jetzt meine Daten, um in den Kern vorzudringen. Und ich glaube, er ist bereits Bestandteil des Systems. Wenn wir ihn nicht aufhalten, bleiben uns schätzungsweise noch zwei Minuten, bevor er das ganze System mitsamt dem Lebensbaum löscht.“

„Das soll ein Scherz sein, oder? Sag mir, dass das ein Scherz ist!“

„Du glaubst nicht im Ernst, dass ich über so etwas Witze machen würde, oder?“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Okay, ich ruf’ Jerry an. Er soll das Notprogramm hochfahren.“

Der Sternenstaub stand in voller Blüte. Es war ein atemberaubendes Schauspiel, und MIRAI fühlte sich insgeheim berührt von seiner Schönheit, auf seine Art und Weise. Es war ein gebührendes Feuerwerk, mit dem er seinen letzten Tanz einleitete, sich anmutig vorantastete, als Teil einer Choreographie, die ihm das Agentensubprogramm übermittelt hatte. Er fühlte, wie die Sucher des Interceptors an ihm vorbeischossen, wich ihnen mit unmenschlicher Gewandtheit aus, während er unermüdlich Befehle an den Kern des Interceptors schickte. Er war am Ziel, das spürte er.

Einen stillen Augenblick erschauerte der Datenraum, verzerrte sich für den Bruchteil einer Sekunde, um dann an seiner eigenen Spannung zu zerbrechen. Farbige Lichtsplitter flogen ihm entgegen, durch seine Körperlosigkeit hindurch, eine Irrsinnsfahrt durch ein komprimiertes Sternenfeld, das sich vor seinen Augen entfaltete und dann abrupt und ohne Übergang verschwand.

Die Barriere war durchbrochen und vor ihm lag das Ziel, auf das er so lange hingearbeitet hatte. Ein Baum, der weder Oben noch Unten zu besitzen schien, strahlend, lichtdurchflutet und hundertfach in sich selbst verschlungen. MIRAI schloss die Augen, atmete tief ein und streckte eine Hand aus. Und traf auf Widerstand.

Verwirrt blickte er wieder auf. Da war noch jemand. Noch jemand im Zentrum des Lebensbaumes. Er konnte den Blick fühlen, das Lachen, das durch sein elektronisches Hirn kreischte. Er kannte den Blick, er kannte die Stimme. Er kannte sie zu gut, denn es war die einzige Person, die von Anfang an in seinem Gedächtnis gespeichert worden war. Er konnte ihn jetzt erkennen, in unmittelbarer Nähe, vor ihm mit ausgebreiteten Armen an den Stamm des Baumes gekettet, von seinen Wurzeln umschlungen und seinen Zweigen durchstoßen; ein Gesicht, das sich keiner speziellen Rasse zuordnen ließ, schmale asiatische Augen, doch Züge und Wangenknochen ließen eher eine indianische Abstammung vermuten. Die Augen waren eisgrau, das zurückgebundene Haar schwarz, von grauen Strähnen durchzogen; schwer bestimmbares Alter, doch ein halbes Jahrhundert hatten diese Augen bestimmt schon gesehen; der helle knielange Mantel wurde von den Zweigen des Lebensbaumes offen gehalten und gab den Blick auf die metallenen Beinschienen frei, die sich bis zur Hüfte hinaufrankten. Die Identität des Mannes stand außer Zweifel.

„Duncan!“ MIRAI wich instinktiv zurück. „Jacob Duncan! Was zum ...“

„Überrascht, MIRAI?“ Er lächelte.

„Was tust du hier?“ Seine Stimme schnappte fast über vor Panik, einem Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. „Du bist seit fünf Jahren tot!“

„Ach wirklich?“, fragte Duncan. „Soweit ich weiß, trifft das auf dich auch zu. Mit dem feinen Unterschied, dass du nie wirklich gelebt hast. Was für ein schrecklicher Zustand das wohl sein muss, so ganz ohne Erinnerung an ein früheres Leben, an Dinge, die dir wichtig waren, an Personen, die du geliebt hast, an den ersten Sonnenaufgang nach der Dunkelheit, die wärmenden Strahlen auf der Haut zu spüren ...“

„Hör auf!“ MIRAIs Daten begannen sich umzuordnen, bildeten ein neues Muster, scharf und gezackt. Wut keimte in ihm auf. „Mir liegt nichts an Erinnerungen oder Augenblicken. Ich hatte eine Aufgabe und bin gescheitert, und dieser gescheiterten Existenz werde ich jetzt ein Ende bereiten!“

„So? Du willst also einfach aufgeben und dich selbst löschen? Wirklich schade. Und ich hatte gedacht, sie hätten dich besser hingekriegt.“ Duncan schüttelte den Kopf in übertriebenem Bedauern.

„Mach dich nicht über mich lustig, Duncan! Ich weiß nicht, was du hier treibst, warum du überhaupt noch hier bist, aber ich weiß, dass ich nicht aufgegeben habe. Diese Entscheidung wurde mir längst genommen, und ich bin kein Mensch, dass ich nach deinen Regeln spiele.“

„Bist du dir da so sicher? Immerhin bist du an den Lebensbaum gekoppelt, genau wie ich. Aber anders als ich warst du von Anfang an mit ihm verbunden. Du bist ein Teil von ihm, so wie all die anderen da draußen, außerhalb des Datenraums. Und darüber hinaus erscheint mir dein Verhalten nur allzu menschlich. Oder welches angeblich perfekte Programm würde sonst unbeirrbar seinen selbstdestruktiven Plänen nachgehen, wenn sich ihm eine zweite Chance bietet?“ Die Zweige des Lebensbaumes bogen sich zur Seite, zogen sich zurück und er glitt gemächlich dem Boden entgegen, bis er sich mit MIRAI auf einer Höhe befand. „Hier hast du deine zweite Chance. Ich bin immer noch hier, du hast immer noch die Möglichkeit, mich, oder das, was von mir übrig ist, abzuschalten. Der Welt da draußen kann es egal sein, denn ich habe ohnehin keinen Einfluss mehr auf das Geschehen dort, und außerdem habe ich mein Ziel längst erreicht. Aber du, du könntest deiner Existenz damit einen Sinn geben, du könntest nachholen, was du vor fünf Jahren versäumt hast!“

MIRAI schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist anders als damals. Es ging um den Augenblick, um die Umstände, es war alles exakt darauf ausgerichtet. Die Mission ist gescheitert, und ich kann sie nicht mehr nachholen. Ich lasse mich nicht mehr umstimmen, also geh’ mir aus dem Weg, Duncan.“

„Wie du willst, MIRAI. Aber ich werde nicht zulassen, dass du mein Werk mit in den Abgrund reißt.“ Er trat einen Schritt zurück und legte die Hand an die glatte Rinde des Baumes. Helle Funken, wie ein Schwarm zarter Insekten, lösten sich und sirrten in die Leere davon.

„Ich habe keine andere Wahl –“

„Du bist ein Narr, MIRAI. In dieser Hinsicht bist du wirklich nur eine Maschine. Du verlässt dich immer nur auf dich selbst. Du ziehst gar nicht in Erwägung, dass du Hilfe erhalten könntest. Aber da irrst du dich.“ Seine Hand strich zärtlich über den Baum und seine Oberfläche erglühte sprühend. Eine Reihe verschlungener Schriftzeichen formte sich unter Duncans Fingern, rot wie der Morgen und stechend klar. Es war ein Code, MIRAIs Code. Er wich ehrfurchtsvoll zurück, als Duncan die Hand wieder zurückzog und der Baum, der Sternenstaub, die Leere des Datenraums und alles um ihn herum explodierte. Irgendwoher war ein leises Klingen zu hören, und dann ergossen sich ungeheure Mengen von leeren Daten in den Raum, stoben auseinander und verflüchtigten sich.

Haru atmete erleichtert auf, als er das Headset abnahm und behutsam zurücklegte. Es sah so aus, als hätte Duncan doch noch seinen Zweck erfüllt. Er erhob sich und schritt in Richtung Tür, hinaus in die kühle Nachtluft. Auf dem Weg hinaus fasste er sich reflexartig ans Gesicht, um sich die schmerzenden Augen zu reiben und stellte irritiert fest, dass er dort keinerlei Metall fühlte ...

終わり​

 

Hallo Imiak,

zuerst die Liste (kurz, Dein Text ist so gut wie fehlerfrei):

höhlenartig aus Holz und Stein geschälten Arbeitszimmer bildete
eingezäunt von der Bucht und gezäumt von den schwankenden Masten an ihren Bojen festgezurrter Segelboote.
Wohl eher "gesäumt"?
während vom Horizont landeinwärts der helle Schein der neondurchflossenen Technosphäre herleuchtete.
*seufz* Ich weiß, dass ihr "Cyberpunks" so sehr auf Neon steht, aber dies ist das 21. Jahrhundert! Zeig mir eine funktionierende Neonröhre und ich zeig Dir einen dampfbetriebenen Webstuhl. Leuchtstoffröhren enthalten heute andere Gase.
nur mit einem rotglühenden waagrechten Schlitz, dort, wo sich der Augapfel hätte befinden sollen.
Klar, rotglühende Augen. Das hat schon 1979 in "Nebel des Grauens" keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorgelockt, also etwas schwacher Effekt.

Das war für mich ein hartes Stück Arbeit, mich da durch zu quälen :( Versteh mich nicht falsch: Du hast sicher Talent zum Schreiben und - wie die Länge Deines Textes zeigt - Durchhaltevermögen. Das ist eine wichtige Voraussetzung.
Allerdings wirkt Deine Story nicht richtig, und das liegt vor allem an den ausschweifenden, etwas blassen Beschreibungen am Anfang (Du langweilst den Leser mit öden Meta-Reflexionen über die Gesellschaft und ihre Entwicklung, anstatt Situationen zu beschreiben, die das ausdrücken, was Du hier allzu ausführlich aufzählst) und die zu zielgenauen Dialoge (Deine Dialoge sind Selbstgespräche des Autors, die auf ein gewisses Ziel hinlaufen, das sind Dialoge in Wirklichkeit fast nie).
Auf mich wirkt die Geschichte wie ein Text eines Gibson-Epigonen, der selbst nie Gibson gelesen hat. Vielleicht beziehst Du Deine Inspiration eher aus dem Manga/Anime-Bereich, was gewisse Geafhren birgt: Viele neuere Cyberpunk-Animes sind von Gibson inspiriert, ohne dass ihre Autoren den technischen und wissenschaftlichen Hintergrund verstehen. Das ist insofern gefährlich, weil dabei Plausibilität verlorengeht. So wirkt Deine KI z.B. nicht besonders künstlich, sie ist auch nur ein Mensch mit menschlichen Motiven. So funktionieren KIs nicht, aber, was wichtiger ist, ich als Leser nehme Dir das nicht ab. Sicher ist eine "menschliches" Motiv wichtig, aber gleichzeitig muss eine KI fremd sein, in gewissem Grad undurchschaubar. Sieh Dir Gibsons Wintermute oder Neuromancer an, diese KIs interagieren mit Menschen, aber sie sind dabei in ihren Motiven nie ganz nachvollziehbar. Lies ein wissenschaftliches Buch über KI, z.B. von Hofstaedter oder ähnlichen Autoren, oder besser noch, bringe Deine biologischen Kenntnisse ein. Als Biologe hast Du Zugang zu einer Unzahl an Fachpublikationen über Verhaltensforschung, nutze diesen Pool, um eine KI zu entwerfen, die sich senkrecht zu unserem Verständnis von Motivation befindet.

Und lass Dich von meinen Ratschlägen nicht entmutigen ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Naut,

Zunächst einmal danke, dass du dich überhaupt durch den Text gearbeitet hast, ich weiß, dass er stellenweise etwas anstrengend ist, und ich werde versuchen, die Sache noch einmal zu überarbeiten, ohne dabei komplett von vorne beginnen zu müssen. Trotzdem mal ein paar Stellungnahmen:

Wohl eher "gesäumt"?
Nein, das war schon bewusst so gewählt. "Gezäumt", so wie man ein Pferd aufzäumt.

Leuchtstoffröhren enthalten heute andere Gase.
Schon logisch, aber da geht es auch weniger darum, ob da jetzt Neon oder Halogen oder sonst etwas drin ist, als um das allgemeine Bild. Oder wie würde das in deinen Ohren klingen: "die von Leuchtgas (gibt's ja heute auch nicht mehr, Anm.) durchflossene Stradt"? Lassen wir's vielleicht bei "lichtdurchflutet", aber das wird dann ein bisschen gar zur Wiederholung.

Klar, rotglühende Augen. Das hat schon 1979 in "Nebel des Grauens" keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorgelockt, also etwas schwacher Effekt.
Ich muss gestehen, den Film (?) hab' ich nie gesehen. War eher von Palmer Eldritchs Jensen-Augen inspiriert (bzw. geklaut? :Pfeif: ), falls hier jemand Philip K. Dick liest. Aber zugegeben, etwas billige Effekthascherei. :shy:

Was den Rest betrifft, natürlich ist es nicht jedermanns Sache, eine Gesellschaftsanalyse einfach wie im Sachroman hingeknallt zu bekommen, aber erstens wusste ich nicht, wie ich dass sonst in der begrenzten Länge hätte unterbringen sollen, und zweitens handelt es sich ja gerade dabei um die Reflexionen eines äußeren Beobachters.
Die KI, ja ... Ich muss zugeben, dass sie mit Wintermute oder seinen späteren Bestandteilen eher wenig zu tun hat (ja, ich habe Gibson gelesen ;) ), und die menschlichen Motive haben schon ihren Sinn, wenn man sich die Sache mit Duncan und dem Lebensbaum am Schluss mal durch den Kopf gehen lässt. Weil der gute Mirai eben möglicherweise doch keine reine KI ist (so wie es sich ja auch bei Duncan um keine KI handelt). Daher soll er eben nicht so abgehoben wirken wie ein völlig analytisch denkendes System. Das ist vielleicht noch der stärkste MangAnime-Einfluss, vom optischen Charakterdesign einmal abgesehen ...
Und die Dialoge, na ja ... Ich könnte der Ehrenrettung halber mal behaupten, nachdem es sich großteils um geschäftliche Gespräche handelt, dürfen die ruhig ein bisschen zielgerichtet sein ...

Und bitte auch nicht falsch zu verstehen, ich nehme mir deinen Ratschlag durchaus zu Herzen, ich verspüre nur halt immer das Bedürfnis, mich irgendwo für sämtliche Fehler zu rechtfertigen. :D

 

Ok, das mit dem Pferd hätte ich wissen können, schließlich ist eine Ex von mir Turnierreiterin ;)

falls hier jemand Philip K. Dick liest.
Du weißt schon, dass das hier der SF-Bereich ist, oder? :D Ich denke mal, da sollte sich die Frage erübrigen.

Die Neonröhren sind ein persönliches rotes Tuch für mich: Seit Gibson und ein paar andere Cyberpunks die Neonmetapher für sich entdeckten, liest man das Ding in jeder zweiten Geschichte. Dabei ist Neonlicht ein Bild das eher aus den 50er Jahren stammt, die Cyberpunks sind so darauf abgefahren, weil die 80er im Kern ein 50er Revival waren. Ich denke, wir haben da inzwischen Besseres verdient ;)

Lies mal ein paar von Dantes längeren Geschichten, dann siehst Du, wie man die Weltdetails "nebenbei" unterbringt, ohne den Leser zuzulabern.

Du siehst schon, ich verstehe Dein Rechtfertigungsbedürfnis sehr gut! :D

 

Tachi Imiak

Ich hebe nochmal besonders Nauts erstes Lob hervor:

Du hast sicher Talent zum Schreiben und
Du hast sogar ein sehr großes Talent zum Schreiben!
Die bild- und wortreiche Einleitung, die hintersinnigen Reflexionen deines Prots gehören mit zu den besten Textpassagen (vom Stil her betrachtet), die ich bisher hier im Forum gelesen habe.

Fast könnte man meinen, es handele sich um den Auftatkt eines Genre-Romans, der noch seitenlang so weiter gehen könnte.
Nur heißt die Seite ja nicht "www.cyberpunkroman.de" sondern Kurzgeschichten.de . Damit will ich sagen, dass der Anfang trotz seiner sprachlichen Brillianz etwas überzogen und langatmig wirkt.
Du klaust dir dort einen guten Teil der Spannung und Geschwindigkeit, die du mit der überstürzten Flucht aus dem Datenraum aufgebaut hast.

Die Grundsatzidee des Textes - eine KI/altes Millitärprogramm bedroht mit ihrem Cyber-Angriff die Existenz der MEnschheit - ist prinzipiell alt und banal, gewinnt jedoch mit den VErsatzstücken aus bekannten SciFi-Serien einige sehr interessante Nebenaspekte, so dass sie zu begeistern weiß.

LEdiglich am Ende, nachdem ich die Metapher mit dem Lebensbaum und dem daran Angekettetsein schon mit leicht verwirrtem Kopfnicken hingenommen habe, hast du mich mit Duncan vollends aus dem Konzept gebracht. Wer war das nun? Ein weiteres Abwehrsystem oder eine digitalisierte menschliche PErsönlcihkeit?

Fazit: Hat mir sehr gut gefallen, wenn auch für meinen GEschmack etwas dick aufgetragen am Anfang.

gruß
Hagen

 

Hallo Imiak,

eine recht epische Breite, die deine Geschichte da einnimmt, einige schöne Passagen - deine Cyberspace-Variante mit Lebensbaum im Zentrum, manch andere gelungene Beschreibungen und Ideen:

Seit dem Ende der globalen Verfinsterung waren diese Pseudodörfer, die über ein unterirdisches Netz an Kabeln und Rohrleitungen von der nächstgelegenen Metropole abhingen, überall aus dem Boden geschossen
Diese gefällt mir mit am besten! Nicht immer düstere dreckige Straßen im Regen, sondern verlogene Kleinstadt-Idylle. Gut! :)

Leider kam ich nicht ganz rein in die Hintergrund-Geschichte, konnte die Namen nicht sauber zuordnen und dann geriet ich vollends ins Schwimmen, was wohl wieder mal an meinen eigenen Vorstellungen von KIs hängt:

„Ich sagte, du sollst aus meinem Kopf verschwinden!“, befahl die Stimme erneut. Er drehte sich lässig auf dem Stuhl herum und breitete begrüßend die Arme aus, als er in die Dunkelheit jenseits der Zimmertür spähte. „Was für eine erfreuliche Überraschung!“
Wer ist da jetzt wer und wie muss ich mir die ganze Szene vorstellen? Spielt sich alles im Cyberspace oder im echten Raum ab? Ist nur einer ein Mensch, sind beide KIs? Und wer zum Teufel ist von beiden jetzt Haru? :confused:

Fazit: Klassischer Ansatz, ein paar Längen - dafür aber schöne Ideen und Beschreibungen. Würde dir raten, die Geschichte zu raffen und die Hintergründe und Personen noch klarer herauszustellen. Muss ja nicht immer Hardcore-Action sein, kann auch ruhiger zur Sache gehen, wenn die Atmosphäre stimmt und die stimmt ja. :)

Liebe Grüße!

Der Dante

 
Zuletzt bearbeitet:

@Naut:

Du weißt schon, dass das hier der SF-Bereich ist, oder? Ich denke mal, da sollte sich die Frage erübrigen.
Klar, was ja aber nicht heißt, dass hier jeder jeden Roman jedes Autors liest. :D

@Hagen und Dante:

Zunächst einmal danke für alle positiven Kommentare. Das motiviert immer. :shy:
Dass im Laufe der Geschichte ein paar Sachen unklar bleiben, ist mir schon bewusst, aber ich wollte gerade damit eben jenen nebulösen Hintergrund einbauen, der so das Gefühl vermittelt, als wäre da etwas Größeres dahinter. Wie Hagen schon sagt, dass der Eindruck entsteht, es handele sich um einen Auszug aus einem längeren Roman (hmm, das sollte ich mir vielleicht mal überlegen ... :D )

Lediglich am Ende, nachdem ich die Metapher mit dem Lebensbaum und dem daran Angekettetsein schon mit leicht verwirrtem Kopfnicken hingenommen habe, hast du mich mit Duncan vollends aus dem Konzept gebracht. Wer war das nun? Ein weiteres Abwehrsystem oder eine digitalisierte menschliche Persönlcihkeit?
Wohl eher letzteres. Irgendwo wird erwähnt, dass der Typ der Oberguru der Technokraten (das war übrigens eine biologisch/ökologisch inspirierte Idee (@Naut ;) )) war und dann quasi mitsamt seinem Industriekomplex (die Ten no Kuruma) in die Luft geflogen ist. Was er genau angestellt hat, um nachher im Datenraum herumzugeistern, weiß ich auch nicht so genau ... :D

Wer ist da jetzt wer und wie muss ich mir die ganze Szene vorstellen? Spielt sich alles im Cyberspace oder im echten Raum ab? Ist nur einer ein Mensch, sind beide KIs? Und wer zum Teufel ist von beiden jetzt Haru?
1. Die Szene findet noch im realen Raum statt. 2. Eigentlich haben wir ja nur einen Menschen, in dem die KI drinsteckt. Aber wenn man sie als zwei getrennte Personen betrachtet, ist nur einer ein Mensch, womit wir schon bei 3. wären: Haru ist der Typ mit dem Technoarm.
Ich weiß, bisschen verwirrend, aber ich habe den Begriff Persönlichkeitsspaltung hier sehr wörtlich genommen. :D Hm, irgendwie erinnert mich die Szene jetzt im Nachhinein sehr an das Ende von Fight Club ... :hmm:

 

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