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Miran
Als Miran am Abend das Haus verließ, war er ganz entspannt und lief in erwartungsvoller Vorfreude auf einen schönen Abend in Richtung Bushaltestelle. Er lächelte bei dem Gedanken an das bevorstehende Wiedersehen mit seinem alten Schulfreund Peter, den er schon eine ganze Weile nicht mehr getroffen hatte. Seit Sandkastenzeiten hatten die beiden regelrecht aneinandergeklebt und waren die dicksten Freunde überhaupt. Sie wussten um ihre gegenseitige Verlässlichkeit, vertrauten einander all ihre Geheimnisse an, betranken sich als Teenager gemeinsam und bildeten auch später in der Schule eine schier unzerstörbare Zweierallianz, die manche Klassenkameraden schon dazu brachte heimlich zu witzeln, sie seien quasi unzertrennlich - wenn einer von ihnen Flöhe hätte, würde es den anderen automatisch mitjucken. Andere wiederum fragten offen, ob Miran und Peter nicht noch mehr verbinden würde als reine Freundschaft. Doch während der eher schüchterne und in sich gekehrte Miran versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, reagierte Peter auf solche Sticheleien mit selbstbewussten Kontern, die letzten Endes die Spötter zum Schweigen brachten. Peters Stellung im Klassenverband war stark und seine wortwitzige Schlagfertigkeit durchaus gefürchtet. Bald machte niemand mehr abfällige Bemerkungen in ihrer Gegenwart, lediglich unter der Hand fragten sich noch einige, was diese beiden so gegensätzlichen Charaktere eigentlich zusammenhielte. Niemand schien die gewaltige Unsicherheit zu erkennen, die sich hinter Peters selbstsicherer Fassade verbarg und die er gekonnt zu überspielen verstand. Miran und Peter hatten eine Art unsichtbare Mauer um sich herum aufgebaut und ließen niemanden dahinter steigen. Nach dem gemeinsamen Abitur folgte für Miran der tiefe Einschnitt. Peter zog eine solide Ausbildung in einer Bank vor und musste in eine andere Stadt umziehen, während Miran seinen Wunschstudienplatz in Philosophie in der geliebten Heimat schon sicher hatte. Er erinnerte sich noch genau an jenen regnerischen Tag, als er Peter zum Bahnhof brachte. Der Abschied war äußerst schmerzhaft. Als der Express langsam anfuhr und Peter aus dem Fenster winkte, überfiel Miran eine heftige innere Trauer angesichts der Tatsache, dass mit dem Zug auch ein Abschnitt seines Lebens unwiderruflich abgefahren war. Er verließ das Bahnhofsgebäude mit gesenktem Kopf, stand auf der Straße im Regen und fühlte sich einsamer denn je. Alle selbstverständlichen Zusicherungen, den Kontakt über Telefon und Internet zu erhalten, konnten nicht über die nun herrschende räumliche Entfernung hinwegtäuschen. Vor allem die unerträgliche Vorstellung, jetzt auf andere zugehen zu müssen, um überhaupt neue Kontakte zu knüpfen, machte Miran schwer zu schaffen. Es kam auch wie befürchtet. Das Studium in Philosophie machte ihm Spaß, der Kontakt zu den Kommilitonen aber blieb auf den Uni-Alltag begrenzt. Bald machten die ersten geringschätzigen Sprüche die Runde und niemand wollte etwas mit dem stillen Langweiler zu tun haben, der stumm wie ein Fisch herumsaß und sich am Wochenende nie auf den Partys blicken ließ. Einige Male hatte Miran versucht seine Furcht zu überwinden und sich Samstagabend auf den Weg zum Studentenkeller im Zentrum der Stadt gemacht. Schon aus weiterer Ferne hatte man das Dröhnen lauter Musik und vernehmliches Lachen wahrgenommen, doch wenige Meter vom Eingang zum Kellergeschoss entfernt begannen Mirans Knie zu schlottern und seine überhand nehmenden Ängste ließen ihn umkehren. Innerlich spürte er eine regelrechte Selbstverachtung für seine eigene Scheu, die im entscheidenden Moment immer wieder über den Wunsch nach neuen Freunden siegte. So kam es auch, dass er Peter in den dann und wann geführten Telefonaten so ziemlich gegenteilige Dinge vorgab, weil er es nicht fertig brachte, seine innere Zerrissenheit einzugestehen.
Miran stieg in den Bus ein. Freitagabend um diese Zeit war die Zahl der Fahrgäste auf einem Höchststand, vorwiegend junge Leute nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel auf der Suche nach Spaß und Amüsement in der Stadt. Doch die Vorfreude auf das Wiedersehen übertraf sogar die Nervosität, wie Miran sie normalerweise in Menschenansammlungen wie hier im Bus verspürte. Sein Ziel kannte er genau. In der City befand sich relativ zentral gelegen, aber doch recht unauffällig in einer hinteren Seitenstraße eine kleine Kneipe, die er gemeinsam mit Peter oft besucht hatte. Wegen ihrer Lokalität war sie eher Geheimtipp und wurde von einem relativ gleich bleibenden Kreis von Menschen besucht, die hier ein -und ausgingen. Peter war hier manchmal auch mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen. Im Laufe der Zeit fand er Kontakt zu einer Clique, die regelmäßig hier verkehrte. Miran selbst war in den Gruppengesprächen mit den Leuten meist zurückhaltend gewesen und hatte die Rolle des stillen Beobachters eingenommen. Während der Trupp und Peter sich scheinbar gut verstanden, war sich Miran nicht sicher, ob er hier irgendwelche Sympathien genoss. Manche verhielten sich ihm gegenüber scheinbar auch misstrauisch, wobei sich Miran nicht sicher sein konnte, ob hier nur er mit seiner eigenen Verklemmtheit Schuld hatte. Irgendwann war er allerdings zu dem Schluss gekommen, dass die Leute ihn wohl nicht wirklich mochten, sondern lediglich als Peters Beiwerk anerkannten. Peters wohlgemeinte Versuche, seinen stillen Freund auf irgendeine Weise mit einzubinden, schlugen fehl.
Miran und Peter hatten sich für 20 Uhr in der Stammkneipe verabredet. Zehn Minuten vorher traf Miran vor dem Lokal ein und beschloss, auf Peter zu warten. Seine Hochstimmung, Peter wieder zu sehen, steigerte sich mit jeder Minute. Die Zeit schien nur so dahinzukriechen. Doch von Peter keine Spur. Als er um 20.05 immer noch nicht erschienen war, wollte Miran ihn anrufen, stellte allerdings ärgerlich fest, sein Handy vergessen zu haben. Ihn so zu fragen, wo er sei, schied damit aus. Vielleicht war er schon drin und wartete? Zögernd trottete Miran auf die verdunkelte Fensterscheibe der Kneipe zu und spähte vorsichtig hinein. Seine Augen erkannten die Konturen eines Frauengesichts, das ihn verdutzt von innen ansah. Wahrscheinlich saß die Dame direkt am Fenster und wunderte sich über den Typen, der hier seine Nase platt drückte. Erschrocken wich Miran zurück. Er schaute sich um. Noch immer keine Spur von Peter. Jetzt blieb nur die unerträgliche Vorstellung, die dem Geräuschpegel nach gut besetzte Kneipe zu betreten, um zu schauen, ob Peter darin saß. Miran holte tief Luft, nahm all seinen Mut zusammen und drückte die Klinke herunter. Die Holztür quietschte leise, aber vernehmlich. Das kleine Lokal war wirklich gut besucht. Tausend Augenpaare schienen sich förmlich an Miran zu heften. Er wurde sofort verlegen und spürte seinen Puls rasen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Einen Moment lang spürte Miran die auf ihn gerichteten Blicke wie durchbohrende Nadeln und versuchte sie zu ignorieren, während seine Augen die Tische im Schnelldurchlauf absuchten. Nichts. Peter war nicht hier. Dafür nahm Miran einige Leute aus der Clique wahr, die wieder im linken Teil des Raumes saßen. Auch sie sahen ihn, wie er immer noch am Eingang stand. Miran drehte sich in Panik um und wollte schnell wieder raus, doch in dem Moment öffnete sich die Tür von neuem und eine größere Gruppe junger Leute kam herein. Ein gleichzeitiges Verlassen der Wirtschaft war bei dem schmalen Ausgang unmöglich. Miran wich ängstlich zurück und machte einige Schritte nach hinten, ohne zu bemerken, wie nahe er dem Tisch der Clique kam. Fünf Personen schauten ihn wortlos an, drei Jungen und zwei Mädchen, wobei er sich nicht an alle Namen erinnerte. Miran war klar, dass er jetzt nicht mehr abhauen konnte, ohne sich sprichwörtlich zum Ei zu machen. Außerdem wäre Peter sicher gleich da und würde Miran aus der unerträglichen Lage befreien. Unsicher setzte er sich also zu der Gruppe mit an den Tisch und hoffte inständig auf Peters Erscheinen. Noch immer stierten ihn die anderen mit ausdruckslosen Mienen an. Sicher hatte niemand mit seinem Auftauchen gerechnet. “Ha-Hallo”, stotterte Miran verlegen und mit leiser Stimme. Seine Begrüßung wurde nicht ernsthaft erwidert. Lediglich ein langhaariger Typ, von dem Miran nur noch wusste dass er Felix hieß, deutete ein reserviertes Nicken an. Eines der Mädchen namens Larissa verleierte unübersehbar die Augen, die beiden übrigen ließen keine sichtbare Reaktion erkennen. Es vergingen einige Minuten eisigen Schweigens und Miran fühlte sich wie der letzte Trottel. Im inneren ahnte er, dass er selbst die Ursache für die peinliche Stille war. Nur sehr zaghaft kam wieder eine Art Gespräch in Gang, wobei Miran völlig übergangen wurde. Die Worte strömten durch sein Gehirn, ohne dass er sie wirklich erfasste. Immerhin bekam er noch mit, dass es sich offensichtlich um die Planung eines gemeinsamen Pokerabends drehte. Innerlich beschwor er Peter endlich zu kommen. Er schwitzte, fühlte sich immer unwohler in Gegenwart der Clique und seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Gründe für Peters Abwesenheit. Zog er sich zurück? Oder war ihm was passiert? Als der Barkeeper an den Tisch trat und nach Mirans Bestellung fragte, verstummte das Gespräch der anderen am Tisch abrupt. Einige Sekunden lang schaute Miran den Wirt an ohne dass er seinen Mund aufbekam, dann brachte er unter größter Anstrengung zwei Worte heraus: “Großes Bier.” Gerade als der Wirt kurz darauf mit dem Glas Bier zurückkehrte, gingen einige Gäste am Tisch nebenan. Demonstrativ stand die Clique auf und setzte sich von Miran weg auf die freigewordenen Plätze. Er hörte sie lachen und kichern. Jetzt konnte er nicht mehr. Ruckartig stand er auf und rannte zum Ausgang, knallte die Holztür gegen die Seitenwand und rannte durch die Straße. Weg, nur weg. Er rannte und rannte den ganzen Weg zurück bis zu seiner Wohnung, schloss die Tür auf und knallte sich auf das Sofa. Auf dem Tisch lag das Handy, das er heute vergessen hatte. Miran hatte eine SMS bekommen:
Hab dich telefonisch nicht mehr erreicht.Bin leider krank geworden und liege mit Fieber im Bett.Hab gedacht ich schaffs trotzdem, aber mir geht’s echt scheiße.Müssen das Treffen leider verschieben,sorry.Meld mich wieder.LG Peter
Krank geworden also. Nichts ernsthaftes passiert. Mirans gewisse Erleichterung vermischte sich mit dem peinlichen Erlebnis des Abends und seiner Traurigkeit über die zwangsläufige Verschiebung des Treffens. Müde, lustlos und frustriert legte sich Miran ins Bett. Noch im Halbschlaf spürte er, wie er mit den Tränen kämpfte.