Mitglied
- Beitritt
- 19.05.2006
- Beiträge
- 644
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
- Anmerkungen zum Text
Diese Geschichte wurde vor einigen Jahren bereits hier besprochen. Ich musste sie später wegen Teilnahme an einem Literatur-Wettbewerb löschen lassen. Sie kam leider nicht über die Shortlist hinaus. Ich habe sie gründlich überarbeitet, den Plot von zweien auf einen Konflikt reduziert, die Dialoge umgestellt und den Schluss abgeändert.
Nach vorheriger Rücksprache mit @dotslash stelle ich sie erneut zur Diskussion. Auch wenn der Text für weitere Wettbewerbe verbrannt ist, würde ich mich über die eine oder andere konstruktive Stellungnahme freuen.
Miriams Traum
Langsam kamen sie näher. Ruhig, mit gleichmäßigen Schwanzschlägen. Das war kein Angriffsverhalten, eher ein neugieriges Annähern. Schon umkreiste ein halbes Dutzend Schwarzspitzenhaie die Schnorchlerin. Jetzt hatte sie einer erreicht, mit eleganten Bewegungen schwamm er neben ihr her. Karin lächelte. Hätte sie den rechten Arm ausgestreckt, eine Berührung wäre die Folge gewesen. Der Gedanke war reizvoll, sie überlegte kurz, wagte es aber nicht. Karin genoss das Gefühl, ein Fisch unter Fischen zu sein. In solchen Momenten verschmolz sie mit ihrer Umgebung zu einer lebendigen, pulsierenden Einheit, einem größeren Ganzen.
Rundum war das tiefblaue Wasser erfüllt von einem Sprühregen aus Licht. Korallenfische tummelten sich, suchten zwischen Schwämmen und Anemonen nach Futter. Ein Zackenbarsch steckte den Kopf aus seiner Höhle, blies sich auf, spreizte die Kiemendeckel ab, zeigte ruckartige Drohbewegungen. Karin stieß Luftblasen aus. Der Barsch blieb unbeeindruckt, aber im selben Moment, als hätte eine Peitsche geknallt, kam Bewegung in ihre graue Eskorte. Mit kräftigen Schwanzschlägen stoben die Schwarzspitzenhaie auseinander, Sekunden später waren sie vom Meer verschluckt.
Karin hob den Kopf aus dem Wasser. Möwen kreischten, der Geruch von Seetang stieg in ihre Nase, eine sanfte Dünung hob und senkte ihren Körper. Sie schob die Tauchermaske zurecht, steckte den Schnorchel in den Mund und begann den Rückweg. Die Umrisse des Korallenriffes verschwammen allmählich hinter ihr, das Meer wurde tiefer, Karin verlor die Bodensicht.
Sie vermied es, ihren Blick nach unten zu richten; hatte Angst davor, nichts zu sehen als undurchdringliches Blau, nichts zu hören als leises, sirrendes Rauschen, das aus weiter Ferne zu kommen schien. In dieser konturlosen Welt existierten keine Begriffe wie Raum und Zeit, bis irgendetwas, ein Stein, ein Fisch, ein Stück Seetang in ihr Sichtfeld geriet und der Umgebung wieder fassbare Dimensionen verlieh.
Und dann, endlich, lag das tiefe Wasser hinter ihr. Karin entspannte sich. Sie hob den Kopf, erleichtert erkannte sie die Palmblattdächer der vordersten Holzbungalows. Wie Strohhüte schwammen sie für ein paar Sekunden auf der Wasseroberfläche, um gleich darauf wieder unterzutauchen, wenn Karin in das nächste Wellental sank.
Sie stieg aus dem Wasser und warf einen Blick zu Miriams Bungalow. Eine schlichte Holzhütte auf Pfählen, von der die blaue Farbe abblätterte. Die Fensterläden waren geschlossen, unter dem hölzernen Vorbau scharrten Hühner. Am Dachbalken, mittig über dem Eingang, hing ein Traumfänger, den Miriam aus Muscheln, Korallenästchen und Hühnerfedern gebastelt hatte. Der Wind warf ihn hin und her, Karin hörte das klappernde Geräusch bis zur Wasserlinie.
Miriam war vor drei Tagen zum Zahnarzt nach Manila aufgebrochen. Bis Samstag wollte sie wieder am White-Beach sein. Heute war Samstag. Es gab keine Taifunwarnung, die Fähre zwischen Batangas und Puerto Galera fuhr zweimal täglich. Vermutlich hatte sie sich für die Nachmittagsfähre entschieden.
Karin schlüpfte aus den Flossen, huschte hinter ihren Bungalow und legte sich in die Hängematte. Der Wind ließ die Palmwedel rascheln und brachte den Geruch nach gebratenem Fisch vom Gästehaus herüber. Sie schloss die Augen und genoss die Stille, die über den Holzhütten lag. Karin dachte an Miriam. An ihren flackernden Blick als sie sich voneinander verabschiedeten. "Was ist los, Miriam? Angst vor dem Zahnarzt?"
"Ach was", hatte sie geantwortet. "Hab' nur wieder meine Kopfschmerzen." Ein verzerrtes Lächeln, Küsschen auf die Wange, dann hatte sie ihre teure Handtasche genommen und war in den grell bemalten Jeepney gestiegen, der sie zur Fähre nach Puerto Galera brachte.
Miriam und ihre Kopfschmerzen. Meist kamen sie morgens, immer verbunden mit Übelkeit und Erbrechen. Manchmal waren sie so heftig, dass sie sich in ihrer Hütte verkroch, die Vorhänge schloss und stundenlang niemandem öffnete. Wenn sie dann wieder auftauchte, strahlte sie Zuversicht aus, tat, als wäre nichts gewesen.
Karin erinnerte sich an jenen Tag, an dem sie einander kennengelernt hatten. Drei Wochen zuvor, am Abend ihrer Ankunft in Mindoro, hatte sie in der Hängematte vor ihrem Bungalow Gras geraucht. Kaum war der Spliff entzündet, schälte sich aus der klebrigen Tropennacht eine junge Frau mit langem Haar und unruhigen Kajalaugen. Sie ging barfuß, trug eine leichte Pluderhose, dazu ein seidenes Oberteil.
"Hi, my name is Miriam", sagte sie und trat in das weiche Kerzenlicht auf der Veranda. "We are bungalow neighbours." Sie lächelte einnehmend. "I am from Austria."
"Dann lass uns doch Deutsch miteinander reden. Ich heiß' Karin." Sie hielt ihr den Spliff hin. "Magst du?"
Miriam setzte sich im Schneidersitz neben die Hängematte. An den Fußgelenken trug sie silberne Kettchen mit Glöcklein, die bei jeder Bewegung leise bimmelten. Sie nahm einen tiefen Zug und hielt den Rauch lange in ihren Lungen.
Karin fuhr fort. "Übrigens, ich komm' aus Graz."
Miriam lachte. "Dann sind wir ja Landsleute. Ich bin aus Wien. Wohn' drüber der Donau, in Transdanubien, wie wir sagen. - Kommst du direkt von zu Hause?"
"Ja." Karin gähnte und streckte alle Glieder von sich. "Bin heut frühmorgens in Manila gelandet. Dann drei Stunden mit dem Bus nach Batangas, noch mal zwei Stunden mit der Fähre und zuletzt mit dem Jeepney zum White Beach." Sie seufzte erschöpft. "Und jetzt bin ich fix und fertig. Ein wenig kiffen und ab ins Bett. Mehr will ich heut nicht mehr."
"Wie lange wirst du bleiben?"
"Ich weiß noch nicht." Karin übernahm den Spliff, zog ein letztes Mal und dämpfte ihn aus. "Muss einiges mit mir abklären. Hab grade meinen Freund rausgeschmissen. Wir waren ein paar Jahre zusammen, aber er hat mich betrogen und ausgenützt."
Sie nickte energisch. "Jetzt hab ich mal für eine Weile genug von den Typen."
"Immerhin hast du genug Kohle, um Urlaub zu machen."
"Mein Papa ist leider vor ein paar Monaten gestorben. War lange krank, lag zuletzt nur noch im Bett. Der Tod war wohl die Erlösung von seinen Schmerzen. Er hat mir was vererbt. Nicht genug, um den Rest meines Lebens Ferien zu machen, aber doch eine ordentliche Summe. Den Bürojob hab ich auch geschmissen. Wird Zeit, was Neues zu probieren."
"Und? Was?"
"Weiß ich noch nicht." Sie lachte kurz auf. "Manchmal ist es wichtiger, zu wissen, was man nicht will, als was man will. - Und du?"
"Bin schon das zweite Monat auf den Philippinen. War zuvor ein paar Wochen in Indien."
"In Indien? Wo denn?"
"Angefangen hab ich in Delhi. Ein paar Tage später ging es zu den Techno-Partys, runter nach Goa. Ich bin zwei Wochen geblieben, hab fast jede Nacht durchgetanzt." Miriam seufzte. "War eine schöne Zeit."
"Was machst du sonst?"
"Momentan nichts. Nur Urlaub. Eigentlich studier’ ich Jus, hab aber für eine Weile unterbrochen. Meine Eltern stützen mich finanziell, obwohl ich so gar nicht ihren Erwartungen entspreche. Sie geben halt die Hoffnung nicht auf."
Karin grinste. "Und die Männer?"
"Mein Freund ist vor ein paar Monaten abgehauen." Sie zuckte mit den Schultern. "Ist wahrscheinlich besser so."
Das Kerzenlicht lockte Mücken an. Sie kamen in Massen, bald wurden sie unerträglich. Miriam stand auf. Die Glöcklein an ihren Gelenken bimmelten. "Verzeih, ich bin müde und geh zu Bett." Sie verzog angewidert das Gesicht und kratzte sich am Hals. "Diese Moskitos rauben mir den letzten Nerv. Werd' mich wohl nie daran gewöhnen."
Karin nickte. "Ich bin auch hundemüde. Ab in die Heia."
Miriam war ein paar Schritte entfernt, da wandte sie sich um. "Eins noch. Schnorchelst du gerne?"
"So gut wie jeden Tag. Warum?"
"Ich kenn' ein wunderschönes Riff. Es liegt ein paar Meter unter Wasser, vom Strand aus nicht zu sehen. Ich bin jeden Tag da draußen. Aber man muss über tiefes Wasser schwimmen, sieht lange Zeit keinen Grund." Sie grinste schelmisch. "Also, wenn du mutig bist, komm morgen mit."
Karin hob den rechten Daumen und nickte gähnend. Dann blies sie die Kerze aus.
Am nächsten Vormittag, die Sonne stand schon hoch, krochen sie unter ihren Moskitonetzen hervor, und nachdem sie gefrühstückt hatten, schwammen sie gemeinsam zum Riff hinaus.
Eine Wolkenschicht hatte sich zwischen Manila und die Sonne geschoben. Wie eine Heizdecke lag sie über der Stadt und trieb die Luftfeuchtigkeit ins nahezu Unerträgliche. Miriam stand trotz ihrer leichten Kleidung der Schweiß auf der Stirn. Sie sah die Treppe hoch, die zur Ordination von Doktor Martinez führte. Zögernd tastete sie nach dem Geländer. Die Riefen und Poren des Palmholzbogens gaben ihren Fingern Halt, erschienen ihr wie eine Leiter, an der sie sich von Sprosse zu Sprosse höher zog. Vor einer Mahagonitür hielt sie an. Ein tiefer Atemzug, dann drückte sie den Klingelknopf. Es summte, die Tür öffnete sich, gekühlte Luft einer rauschenden Klimaanlage umfing sie.
"Hello, Miss Schneider. Nice to see you." Die Mimik der Sprechstundenhilfe wirkte steril, passte perfekt zu den weißen Wänden der Ordination mit ihrem blank geputzten Kachelumlauf.
"Hello, I have a doctor‘s appointment."
"Yes, I know. Just a minute. Doctor Martinez is busy." Die Arzthelferin wies mit der Hand zur Sitzecke.
Miriam nahm in einem Ledersofa Platz, schlug die Beine übereinander und betrachtete die Diplome des Arztes, die ringsum an den Wänden hingen. Im Grunde genommen interessierte es sie nicht, wofür er ausgezeichnet worden war. Sie wollte sich nur ablenken. Miriam wandte den Blick ab und sah auf die Uhr. Erst wenige Minuten waren vergangen, dennoch hatte sie das Gefühl, seit Stunden im kühlen Leder des Wartebereichs zu sitzen. Ihre Hände zitterten. Sie erinnerte sich an den Yogakurs in Mysore, den sie besucht hatte. Miriam schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief und gleichmäßig ... ein, aus, ein, aus, ein ...
Die Tür zum Behandlungsraum sprang auf, im selben Moment ertönte die Stimme des Arztes. "Frau Schneider! Bitte kommen Sie."
Miriam öffnete die Augen. Doktor Martinez stand lächelnd im Türrahmen. Sie ließ sich von ihm zu seinem Schreibtisch führen und setzte sich. Den Blick gesenkt, die Handtasche auf dem Schoß, ihre Finger umklammerten den Trageriemen wie ein Ertrinkender die Rettungsleine.
Doktor Martinez zog ein Blatt Papier aus dem Ablagefach und warf einen flüchtigen Blick darauf. "Ich möchte gleich zur Sache kommen, Frau Schneider. Seit wenigen Tagen liegen mir die letzten CT-Aufnahmen vor, ebenso die MRTs. Auch der Laborbericht spricht Bände." Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber Miriam wich seinem Blick aus. Doktor Martinez seufzte. "Wie nicht anders zu erwarten war, ist der Tumor im linken Frontallappen immer noch da." Er zog die Augenbrauen hoch. "Und leider hat er sich vergrößert."
Der Arzt stand auf, schaltete den Röntgenbildbetrachter ein und befestigte ein CT darauf. "Hier kann man es genau sehen." Er zeigte auf eine Stelle des CTs. "Im Vergleich dazu", er fixierte ein zweites Bild auf dem Betrachter, "hier die Aufnahme, die Sie aus Österreich mitgebracht haben. Da war der Tumor noch deutlich kleiner."
Miriam sah kurz auf, dann hielt sie wieder den Blick gesenkt. Sie fühlte sich leer, einsam und hilflos, wie zwei Wochen zuvor in der Röhre des Kernspintomografen im Privathospital-Manila und erneut vermeinte sie, die Stimmen der Ärzte zu hören, die sich in fremder Sprache über ihren Zustand austauschten. "Aber ...", stotterte sie," ... ich bin doch extra nach Baguio gefahren, zum berühmtesten Heiler, den es auf den Philippinen gibt. Er hat mir versprochen, den Tumor vollständig entfernt zu haben." Sie begann zu weinen. "Hab doch im Spiegel zugesehen, wie er ihn durch das Ohr herausgeholt hat, mit all dem Blut und Schleim", würgte sie hervor. "Und ich hab' mich nachher so befreit gefühlt, hab tagelang keine Beschwerden gehabt." Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, verschmierte Kajal und Wimperntusche.
Doktor Martinez sah sie über seine Brillengläser hinweg an und schüttelte den Kopf. "Ein Taschenspielertrick. Etwas Hühnerblut, Gedärm und Knöchelchen. Sie wurden betrogen. Wie unzählige andere verzweifelte Menschen auch."
Er hob in hilfloser Geste die Schultern. "Frau Schneider, ich hatte Sie eindringlich gewarnt, als sie mir von Ihrem Vorhaben erzählten. Sie wollten nicht auf mich hören. Ich bin froh, dass Sie wenigstens die Kontrolluntersuchungen gemacht haben." Er runzelte die Stirn. "Ich sage es Ihnen jetzt noch einmal. Sie sind schwer krank und müssen sofort nach Hause fliegen. Nur dort können Sie richtig behandelt werden. Wie Sie wissen, habe ich in Deutschland mein Facharztstudium absolviert und weiß, wovon ich spreche. Bitte keine weiteren Experimente mit Wunderheilern! Sie haben schon zu viel Zeit vergeudet. Mit indischen Quacksalbern ebenso wie mit unseren weltberühmten Geistheilern."
Doktor Martinez schob einen Stuhl neben sie, setzte sich, ergriff sanft ihre Hände und sah ihr in die Augen. "Ich will ganz offen sein, Frau Schneider. Noch kann man den Tumor entfernen. Mit anschließender Bestrahlung und Chemotherapie haben Sie eine Chance." Er räusperte sich. "Aber es muss rasch gehandelt werden. Das Zeitfenster schließt sich langsam. Wenn Sie weiterhin auf Wunder hoffen, dann ..."
"Was ... was kommt dann auf mich zu?"
"Übelkeit und Kopfschmerzen kennen Sie bereits. Besonders nachts und frühmorgens werden diese Attacken stärker werden, dazu Empfindungsstörungen in den Gliedmaßen, vielleicht Krampfanfälle ..."
"Und dann bin ich tot!", stieß Miriam hervor.
"So weit wird es nicht kommen, Frau Schneider. Sie nehmen die nächste Maschine nach Hause und begeben sich sofort in Behandlung."
Doktor Martinez ließ behutsam ihre Hände los. Neben dem Schreibtisch stand eine klimatisierte Medikamentenbox. Er öffnete sie und reichte Miriam eine Arzneischachtel. "Nehmen Sie diese Tabletten nur, wenn sie Taubheitsgefühle entwickeln sollten. Keinesfalls prophylaktisch. Dazu erhalten Sie meinen medizinischen Bericht, die neuesten CTs und MRTs sowie den aktuellen Laborbefund." Er beugte sich vor und berührte erneut ihren Arm. "Bitte, seien Sie vernünftig, Miriam. Ich darf doch Miriam sagen?"
Sie nickte. Wie wohl ihr seine Berührung tat. Selbst in dieser Situation. Ein Gefühl zärtlicher Zuneigung überkam Miriam. Sie stellte sich vor, Doktor Martinez würde sie in den Arm nehmen, bis sie eingeschlafen wäre und wenn sie wieder erwachte, gäbe es keinen Tumor mehr. Sie würde die Augen öffnen, in die Sonne blinzeln und vor Lebenslust lachen. All den seelischen Müll einfach weglachen, den sie mit sich herumschleppte und der ihr zunehmend die Luft zum Atmen nahm.
Doktor Martinez schrieb ein Rezept aus, steckte die Fotos und Befunde in ein Kuvert und legte alles vor Miriam auf den Schreibtisch. "Versprechen Sie mir, unverzüglich die Heimreise anzutreten. Am besten buchen Sie noch heute." Er streckte ihr seine Hand entgegen und sah sie erwartungsvoll an. "Also?"
"Versprochen." Miriam schlug ein, nahm das Kuvert und verließ die Ordination, ohne auf die Frage der Vorzimmerdame nach einem neuen Termin zu antworten.
Eine Rußwolke hinter sich herziehend brummte der Jeepney die holprige Lehmpiste des Hügels hinab, zu dessen Füßen die kleine Bungalowanlage am White Beach lag. Es war später Vormittag. Karin saß im Vorgarten des Gästehauses und las, als sie den Klang der mehrstimmigen Hupe vernahm, mit der die Jeepneys den Stränden ihre Ankunft verkünden. Sie hob den Blick und suchte nach Miriam, während das farbenprächtig lackierte Fahrzeug die letzten Meter zurücklegte. Erleichtert klappte sie das Buch zu. Ihre Freundin stand auf dem hinteren Ende der voll besetzten Ladefläche und klammerte sich mit beiden Händen an den Dachstreben fest, um nicht umgeworfen zu werden.
"Schön, dass du wieder zurück bist." Karin strahlte über das ganze Gesicht. "Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du wolltest doch schon vorgestern kommen." Sie warf ihr einen prüfenden Blick zu. "Alles in Ordnung?"
"Ach, ich hab nach dem Zahnarzt noch einen Tag in Manila abgehängt. Hab in der Lodge einen süßen kanadischen Rastafari kennengelernt. Der hatte blonde Zöpfe bis hierhin." Sie wies mit der Hand an ihre Hüften. "Erst führte er mir sein Motorrad vor, abends waren wir tanzen, und nachher ..." Sie grinste zweideutig. "Ist spät geworden. Und natürlich hab ich gestern die Morgenfähre von Batangas verschlafen. Nachmittags waren dann die Wellen zu hoch, da sind sie nicht gefahren." Sie zuckte mit den Achseln. "Was soll's, jetzt bin ich ja hier."
Miriam umarmte Karin und küsste sie auf beide Wangen. "Wie sieht's aus? Heute schon im Wasser gewesen?"
"Nein, aber wenn du nicht zu müde bist, können wir das gleich nachholen."
Kurze Zeit später schwebten sie über dem Riff. Ebbe sorgte für glasklare Sicht, die kräuselnde Wasseroberfläche brach die einfallenden Sonnenstrahlen wie ein Prisma in unzählige Lichtpunkte, die in zuckenden Bewegungen über die Korallenstöcke tanzten. Eine Muräne erschien tief unter Karin, wand sich die Riffwand hoch, öffnete das Maul, als würde sie gähnen, und verschwand in einer Felsspalte. Die beiden tauchten ab und hielten sich an einem abgestorbenen Korallenbrocken fest. Miriam wies zur Oberfläche. Knapp darunter hingen ein paar Long Toms mit offenem, zähnestarrendem Maul. Bewegungslos folgten die großen Seehechte mit wachen Augen jeder Bewegung Karins, die zu ihnen aufstieg. Erst als sie auf doppelte Armlänge heran war, schossen sie davon.
Die beiden hatten genug für diesen Tag. Sie verständigten sich darauf, zum Strand zurückzukehren.
Kaum war das Riff ihrem Blickfeld entschwunden, unter ihnen undurchdringliches Blau, tauchte der riesige Hai auf. Karin erstarrte und biss mit aller Kraft in das Mundstück ihres Schnorchels. Sie wagte nicht, den Kopf nach Miriam zu wenden, die neben ihr schwamm. Einen Hai dieser Größe hatte sie nie zuvor gesehen. Der unheimliche Koloss war wie aus dem Nichts aufgetaucht und näherte sich mit langsamen Schwanzschlägen. Im einfallenden Sonnenlicht schimmerten die dunklen Streifen an seinen Flanken, dazu der helle Bauch und das breite, flachkantige Maul. Kein Zweifel, es war ein Tigerhai. Aber diese abnorme Größe! In wenigen Momenten würde er sie erreicht haben. Das Monstrum kam näher. Noch zehn Meter ... fünf ... drei ... da drehte es ab, kehrte sofort wieder um und umkreiste sie in weiten Bögen. Karin schöpfte Hoffnung. Haie sind dafür bekannt, Unbekanntes genauer in Augenschein zu nehmen, gelegentlich ihre Nase daran zu reiben, um dann meist wieder in den Weiten des Ozeans zu verschwinden.
Karins Biss lockerte sich, ihre Atmung wurde gleichmäßiger. Sie fühlte Miriam neben sich, wagte es aber nicht, den Blick vom Hai abzuwenden.
Der Koloss hielt an. Nur wenige Meter entfernt, den gewaltigen Kopf ihr zugewandt, schwebte er bewegungslos im Wasser. Karin wusste, dass dies für Haie unmöglich war, da sie keine Schwimmblase besitzen. Was war das für ein seltsames Tier? Mehr und mehr erschien es ihr, als würden sie von einem denkenden Wesen beobachtet, das tief in ihrer beider Seelen blickte. So benahm sich kein blutrünstiger Feind. Dieser Fisch, wenn es denn überhaupt einer war, wirkte immer rätselhafter auf sie.
Einige Atemzüge lang geschah nichts, da spürte Karin eine Bewegung neben sich. Miriam holte hörbar Luft, tauchte ab und schwamm auf den Hai zu, der bewegungslos seine Position hielt. Was hatte sie vor? Sie erreichte ihn und ... Karin traute ihren Augen nicht ... strich sanft über sein riesiges Maul. Einmal, zweimal, er ließ es geschehen, blieb selbst unbewegt, als Miriam zum Luftholen kurz an die Oberfläche musste. Sie tauchte erneut zu ihm ab und legte eine Hand an seine Rückenflosse. Er setzte sich in Bewegung und zog sie mit sich. Gemeinsam umkreisten sie Karin, die gebannt zusah, dann nahmen sie Tempo auf und gewannen rasch Tiefe. Langsam verschwammen ihre Konturen, da ließ Miriam los und stieg, heftig mit den Flossen schlagend, zur Oberfläche auf, um Luft zu holen. Der Hai kehrte zurück, umkreiste sie erneut, es erschien Karin, als würde er auf etwas warten, dann drehte er ab und verschwand in der Tiefe.
Der Spuk war vorbei, die beiden steckten ihre Köpfe aus dem Wasser. Über ihnen wolkenloser Himmel, gleißendes Sonnenlicht, darunter abgrundtiefe Bläue.
"Was ... was war das?"
Miriam hielt bloß einen Finger vor den Mund und schüttelte heftig den Kopf.
So aufgeregt Karin war, sie wollte ihre Freundin nicht drängen. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie konnten später darüber reden. Wortlos schwammen die beiden los. Es war das erste Mal, dass Karin keine Angst vor dem tiefen Wasser hatte.
Eine schwache Brise strich durch die Palmen und Kasuarinen, die den Holzbungalow umstanden, und brachte Miriam und Karin etwas Kühlung in der brütenden Nachmittagshitze. Es roch nach offenem Feuer, die Luft war erfüllt vom Sirren der Zikaden. Die beiden saßen in Schwimmkleidung im Schatten der überdachten Holzveranda bei einem späten Mittagessen. Wie üblich gab es gebratenen Fisch mit Reis und Salat.
Vor dem Bungalow hatte sich ein halbes Dutzend verwilderter, bis auf die Knochen abgemagerter Hunde gruppiert. Miriam betrachtete sie mitleidsvoll, auch wenn sie längst an dieses Bild gewöhnt war, das sich ihr vor vielen Hütten und Strandrestaurants bot. Ins Innere der Lokale zu kommen oder die Verandas der Bungalows zu erklettern, wagten die Tiere nicht. Unzählige Knüppelhiebe und Steinwürfe hatten sie eines Besseren belehrt. So lagen sie halb im Sand eingegraben, durchkämmten mit den Zähnen ihr Fell nach blutsaugenden Fliegen und warteten auf die Reste menschlicher Speisen. Wenn ein Happen geflogen kam, brachen wilde Kämpfe darum aus. Sand stob auf, zähnefletschend knurrten und bissen die Tiere nach allen Seiten hin.
Miriam hatte ihre Mahlzeit beendet und warf die Essensreste auf den heißen Sand. Die ausgehungerten Tiere von Hand zu füttern, wäre zu gefährlich gewesen. Sie wandte sich mit lauter Stimme an Karin, um die Kampfgeräusche der Hunde zu übertönen. "Das war nicht das erste Mal, dass ich diesem Hai begegnet bin." Es klang wie nebenbei, Miriam ließ ihren Blick weiterhin auf den Tieren ruhen. Karin hatte gerade einen Bissen im Mund und musste erst schlucken, bevor sie antworten konnte. "Du bist ihm schon einmal begegnet?", stieß sie hervor und sprang auf. "Warum hast du mir nie davon erzählt?" Sie beugte sich über das Balkongeländer und putzte die Essensreste vom Teller, mitten hinein zwischen die tobenden Hunde.
"Na ja, nicht im richtigen Leben." Miriam lächelte. "Ich ... ich hab nur von ihm geträumt."
"Geträumt?" Karin drehte ihre Handflächen nach oben und sah sie verblüfft an. "Miriam, das heute war aber kein Traum. Das Riesending war echt. Ich bin fast gestorben vor Angst. Ich dachte, das wär' unser Ende. Aber dann, als er uns so nachdenklich angestarrt hat und du einfach auf ihn zugeschwommen bist und ..." Karin hob erneut die Hände und schüttelte den Kopf. "So was gibt's doch gar nicht. War das wirklich ein Fisch? Ich kann nicht glauben, was ich heut erlebt hab." Sie lachte gekünstelt auf. "Das war alles so ... so unwirklich. Wer weiß, vielleicht haben wir ja beide nur geträumt."
"Er ist mir vorgestern Nacht in Manila erschienen", setzte Miriam fort. "Und das Seltsame dran ist, es war alles genauso wie heute. Nur, dass ich ganz allein' war. Ich hab überhaupt keine Angst vor ihm gehabt. Hab ihn gestreichelt und er ist mit mir in die Tiefe geschwommen. Dann hab ich ihn losgelassen und bin aufgewacht." Sie legte ihr Gesicht in die Hände und schüttelte den Kopf.
Vor der Veranda war Ruhe eingekehrt. Die Hunde hatten sich mittlerweile getrollt und suchten anderswo ihr Glück.
"Miriam!" Karin setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. "Was ist denn los? Wie kannst du nur träumen, mit einem Hai im Meer zu verschwinden? Was heute passiert ist, macht mir eine Heidenangst. Um dich und überhaupt. Irgendwas stimmt doch nicht!"
Miriam hob den Kopf und holte tief Luft. Dann erzählte sie ihre ganze Geschichte. Und Karin stellte keine Fragen, bis sie zu Ende war.
Langsam wurde es Abend. Die untergehende Sonne färbte den Horizont in tiefes Rot, Tausende Zikaden sirrten um die Wette, erste Rufe der Nachtvögel ertönten. Für den späten Abend waren Gewitter angekündigt, doch der nächste Tag sollte Schönwetter bringen. Die beiden jungen Frauen saßen auf der Veranda von Miriams Bungalow und lauschten dem Wellenschlag.
Karin unterbrach die Stille. "Ich hab da was für dich", sagte sie, griff in ihre Umhängetasche und zog ein silbernes Kettchen mit einem Anhänger aus Perlmutt hervor. "Ich wollte dir die Kette schon vor ein paar Tagen schenken." Lächelnd legte sie Miriam das Schmuckstück um den Hals. "Gefällt sie dir?"
"Einfach wunderschön! Warum trägst du den Anhänger nicht selbst?"
"Ich hab ihn von jemandem erhalten, der mir heute nichts mehr bedeutet. Aber du bedeutest mir etwas. Nimm ihn als Talisman. Er soll dir Glück bringen."
"Danke, wie lieb von dir." Miriam strich über das Kettchen, das Perlmutt schimmerte sanft im Abendlicht. "Bring mir Glück", flüsterte sie. "Ich werde es brauchen können."
Karin fasste sich ein Herz. "Weißt du was, wir fahren morgen gemeinsam nach Puerto Galera und buchen deine Heimreise. Was sagst du dazu?"
Miriam blickte schweigend zu Boden. Karin ergriff ihre Hand. "Es wird alles gut gehen. Wenn ich wieder zu Hause bin, komme ich dich in Wien besuchen und wir treiben allerhand Unsinn." Sie grinste. "Ganz ohne blöde Typen."
Jetzt lächelte auch Miriam.
Karin stand auf und streckte alle Glieder von sich. "Komm, lass uns was futtern gehen. Mir kracht schon der Magen."
Sie teilten sich im Gästehaus eine große Portion Kingfish mit Bratkartoffeln und Salat. Nach dem Essen drehte Karin einen Spliff und sie wanderten den Strand entlang. Noch war von den angekündigten Gewittern nichts zu merken. Vom tiefschwarzen Nachthimmel leuchteten die Sterne, sogar das helle Band der Milchstraße war zu sehen. Ein Stück weitab vom Gästehaus setzten sie sich in den Sand, Karin entzündete den Spliff. "Schau, siehst du das Plankton?" Sie blies den Rauch aus und wies mit der Hand ins Wasser.
Miriam erkannte eine glitzernde Wolke, die langsam an ihnen vorbeitrieb. "Leuchtendes Plankton sieht man heutzutage nur noch selten an den Stränden. Es bringt Glück, sagen die Einheimischen. Und man hat einen Wunsch frei."
"Dann wünsch' dir doch was."
Miriam lächelte, nahm einen tiefen Zug, schloss die Augen und ließ sich rücklings in den Sand fallen.
Für eine Weile saßen sie schweigend zusammen. Langsam zogen Wolken auf, aus der Ferne hörte man leisen Donner. Sie verließen den Strand und erreichten ihre Bungalows, bevor die ersten Tropfen fielen. Karin umarmte Miriam und küsste sie auf beide Wangen. "Also dann, schlaf gut, und bis morgen."
"Ja, bis morgen."
Das Gras hatte Miriam müde gemacht. Sie verschloss Fensterläden und Eingangstür ihres Bungalows, putzte sich die Zähne und ging zu Bett. Auf dem Rücken liegend starrte sie in die Dunkelheit und dachte an den nächsten Tag. An ihre bevorstehende Heimreise, an die kommende Operation, an Chemotherapie und Bestrahlung, vor denen sie sich so fürchtete, und daran, wie ihr Leben weitergehen sollte, wenn die Behandlung nicht anschlagen würde. Was dann? Der nächste Wunderheiler? Sie verscheuchte diesen Gedanken. Das lag hinter ihr. Aber was lag vor ihr? Angst und Ungewissheit, banges Warten und Hoffen würden ihr Dasein künftig bestimmen. Alles, nur nicht das, wovon sie geträumt hatte.
Sie dachte an ihren Wunsch, den sie am Strand formuliert hatte, schloss die Augen und wiederholte ihn in Gedanken. Wieder und wieder. Darüber schlief sie ein.
Miriam träumte vom Riff. Alles war wie immer. Sanft wiegte die Dünung ihren Körper, Sonnenstrahlen tanzten über die Korallen, Fische suchten nach Futter, überall wimmelte es von Leben. Sie empfand Wärme und Geborgenheit. Hier war sie zu Hause, hier gehörte sie hin. Miriam schloss die Augen und ließ sich treiben. Ein nie gekanntes Glücksgefühl erfasste sie, und dann, wie aus dem Nichts, tauchte er auf.
Der riesige Hai umkreiste sie, kam näher und näher. Miriam streckte ihre Hand nach ihm aus, er glitt an ihre Seite und hielt an. Sie streichelte ihn zärtlich am Kopf, dann ergriff sie seine Rückenflosse.
Karin erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh. Sie beschloss, Miriam länger schlafen zu lassen, schlüpfte in ihr Strandkleid und machte sich ins Gästehaus auf, um zu frühstücken. Auf dem Weg kam sie an Miriams Bungalow vorbei. Kein Geräusch drang aus der Hütte, die Fensterläden waren geschlossen, nur der Traumfänger klapperte leise im Wind. Vermutlich schlief Miriam tief und fest, aber Karin befiel ein unangenehmes Gefühl, das wachsende Unruhe in ihr auslöste. Sie betrat das Gästehaus, nahm hastig eine Tasse Tee, dazu Toast mit Butter, wartete eine Weile, dann lief sie zurück, klopfte energisch an Miriams Hüttentür und rief mehrmals ihren Namen. Es kam keine Antwort.
Sie spähte durch eine Ritze der Fensterläden, der Raum war leer. Vielleicht war sie frühmorgens zum Riff geschwommen, um Abschied zu nehmen. Kurz entschlossen griff sie zu Taucherbrille und Schnorchel, schlüpfte in ihre Flossen und schwamm los. Die Sicht war schlecht, der Regen der vergangenen Nacht hatte das Wasser getrübt. Endlich erschienen schemenhaft felsige Umrisse vor ihr.
Nervös umkreiste Karin das Riff. Von Miriam keine Spur. Vielleicht war sie bereits zurückgeschwommen. Aber warum waren sie einander dann nicht begegnet? Das trübe Wasser ließ kaum mehr als ein paar Meter Sicht zu, aber da, zwischen zwei Korallenstöcken, die tief unter ihr lagen, war etwas. Ein matter Schimmer, wie fernes Licht im Nebel. Fast hätte sie es übersehen. Karin holte Luft und tauchte ab. Erst der zweite Versuch gelang. Auf einem Korallenast baumelte ein silbernes Kettchen mit einem Perlmuttanhänger.
~~~